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Deutschland und Frankreich in der Zwischenkriegszeit
Thomas Raithel: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre. R. Oldenbourg Verlag, München 2005. 631 Seiten, 64,80 [Euro].
Daniela Neri-Ultsch: Sozialisten und Radicaux - eine schwierige Allianz. Linksbündnisse in der Dritten Französischen Republik 1919-1938. R. Oldenbourg Verlag, München 2005. 528 Seiten, 54,80 [Euro].
Nachbarn könnten verschiedener nicht sein trotz mancher Gemeinsamkeiten. Die alte Erkenntnis - auf Frankreich und Deutschland gemünzt - bestätigen zwei umfangreiche Studien über beide Länder in der Zwischenkriegszeit. Thomas Raithel vergleicht den Parlamentarismus der Weimarer Republik mit jenem der französischen Dritten Republik in Zeitabschnitten, in denen beide durch Inflationskrisen schweren Belastungen ausgesetzt waren. Daniela Neri-Ultsch untersucht Zustandekommen und Scheitern der Bündnisse zwischen französischen Sozialisten und Linksliberalen (Radicaux), die in der Zwischenkriegszeit dreimal zur Macht kamen: als Linkskartell 1924 bis 1926, als Linksunion 1932 bis 1934 und als Volksfront unter Einschluß der Kommunisten 1936 bis 1938. Obgleich mit unterschiedlichen Themen befaßt, kommen die Autoren in bestimmten Punkten zu gleichen Ergebnissen. Sie münden in der Antwort auf die Frage, woran es lag, daß sich Frankreichs politisches System als stabiler erwies als das von Weimar.
Bekanntlich blieb die erste deutsche Republik in der langen obrigkeitsstaatlichen Geschichte Deutschlands eine kurze Episode, beschränkt auf die Zeit zwischen 1919 und 1933, während Frankreichs Dritte Republik von 1870 bis 1940 Bestand hatte und mit einiger Wahrscheinlichkeit auch noch länger überlebt hätte, wäre nicht die Kriegsniederlage gegen Deutschland gekommen. Dauer und Stabilität der Dritten Republik sind bemerkenswert, weil sie auf einem Paradox gründen: ihrer inneren Instabilität. Die äußerte sich genauso in häufigen Regierungswechseln wie in einer inhomogenen, ständig im Fluß befindlichen Parteienlandschaft, in der es nur zwei straff organisierte Parteien gab: die sozialistische und von 1920 an die kommunistische. Alle übrigen, vor allem die staatstragende Partei der linksliberalen "Radicaux", die an den meisten Regierungen der Dritten Republik beteiligt war, repräsentierten locker strukturierte Honoratiorenparteien, in denen Fraktionsdisziplin kleingeschrieben und Gruppenbildung großgeschrieben wurde.
Gerade diese Schwäche erwies sich auf Dauer als Stärke. Sie ermöglichte dem mit mächtigen linken und rechten Flügeln versehenen "Parti Radical", gleichermaßen Mitte-links- wie Mitte-rechts-Koalitionen einzugehen. Damit stand zum jeweils herrschenden Regierungsbündnis immer eine Alternative bereit, die sowohl Beweglichkeit als auch Beständigkeit kundtat; Beweglichkeit durch die Möglichkeit zum Wechsel, Beständigkeit durch Kabinette, deren Personal auch nach Koalitionsbruch oder Abwahl häufig zumindest zu einem Teil dasselbe blieb. Diese Rotation im System setzte freilich ein verfassungskonformes Parteienspektrum voraus. Das war in Frankreich gegeben, wo auch in Krisenzeiten extremistische Parteien marginalisiert blieben.
Nicht so in der Weimarer Republik: Hier war schon Ende 1922 mit dem Scheitern der letzten Regierung der Weimarer Koalition aus den "Verfassungsparteien" SPD, DDP und Zentrum der demokratische Spielraum erschöpft. Eine republikbejahende konservative Alternative stand nicht zur Verfügung - auch deshalb nicht, weil der Republik weite Teile des Bürgertums und der Eliten ablehnend gegenüberstanden. Die Folge war ein dramatischer Verfall parlamentarischer Regierungsfähigkeit zugunsten einer vom Reichspräsidenten gestützten Exekutive, die mit weitreichenden Ermächtigungsgesetzen agierte. Der Reichstag wurde so auf eine schlichte Tolerierungsfunktion eines Verordnungsregimes reduziert. Eine solche Entmachtung des Parlaments hat die Dritte Republik nicht gekannt. Gemessen an der deutschen Entwicklung, hielten sich Beschränkungen der Abgeordnetenkammer durch Ermächtigungsgesetze im engen Rahmen. Raithel und Neri-Ultsch arbeiten diese Gegensätze auf dem Terrain der Parlamentarismus- wie der Parteiengeschichte gut heraus und schließen damit Forschungslücken zweier historischer Teildisziplinen, die in der Fachzunft bislang eher stiefmütterlich behandelt wurden.
Darüber hinaus lenkt Neri-Ultsch das Augenmerk noch auf einen anderen Stabilitätsanker, der das Abgleiten Frankreichs in die Diktatur verhinderte. Gemeint ist die "republikanische Synthese". Sie bezeichnet das Wertefundament, auf dem die Dritte Republik spätestens seit der Dreyfus-Affäre ruhte - ein Wertefundament, das sich auf die Französische Revolution, den Laizismus und das Bekenntnis zur Republik stützt und von einer breiten Mehrheit der Parteien wie der Franzosen cum grano salis bis heute akzeptiert wird. Die Weimarer Republik konnte nicht mit solchen Pfunden wuchern. Weder verfügte sie über eine nach links und rechts gleichermaßen integrationsfähige Staatspartei wie die "Radicaux", noch konnte sie sich auf eine lange demokratische Tradition berufen, an deren Anfang eine erfolgreiche Revolution steht. Statt dessen blickte sie nur auf gescheiterte Revolutionen zurück und hatte unter den mehrheitlich obrigkeitshörigen Deutschen ungleich mehr Verächter als Verteidiger. Das ist der Fundamentalunterschied, der die deutsche Geschichte der letzten zweihundert Jahre von der französischen trennt. Und er ist sogar auf so eng umgrenzten Terrains wie dem Parlamentarismusvergleich in den zwanziger Jahren oder der Darstellung der französischen Linksbündnisse im etwas größeren Zeitrahmen nicht zu übersehen.
PETER HÖLZLE
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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