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Berlin von der Seite: Michael Wildenhains abenteuerliches Liebes- und Politspektakel "Das Singen der Sirenen"
Jörg Krippen heißt die Kanaille. Ehemaliger Aktivist im Berliner Häuserkampf, Mann von Sabrina, einer Frau, die Bierflaschen mit den Zähnen aufhebelt und subproletarisch schimpfen kann: "Du bist so was von Stulle, Krippen. Ostbrot ist gar nix dagegen." Vater des gemeinsamen Sohns Leon. Einerseits. Andererseits feinfühliger Akademiker, der an einer Arbeit über Frankenstein sitzt, der Theaterstücke schreibt, der immer wieder Forschungsstipendien in London wahrnimmt und dort einen amour fou mit einer indischstämmigen Engländerin beginnt. Der Jahre später mit einer anderen indischstämmigen Engländerin wieder einen amour fou beginnt und zu spät merkt, dass es sich bei den Frauen um Schwestern handelt. Auch taucht ein vaterloser Junge auf, Raj. Es wird behauptet, dass Jörg Krippen sein Vater ist. Später soll ein Gentest Klarheit schaffen, macht aber alles nur noch komplizierter
Michael Wildenhain hat mit "Das Singen der Sirenen" seinen intimsten Roman geschrieben. Der militante Häuserkampf, in dem man noch nicht gestalttherapeutisch mit Rechten reden musste, nimmt darin abermals eine wichtige Rolle ein. In kriminalistisch verschachtelter Erzählweise werden die Facetten eines widersprüchlichen Charakters preisgegeben. Unter dem Strich lässt sich so der Lebensweg eines Menschen nachvollziehen, der notorisch zwischen den Stühlen sitzt: zwischen den Lebensentwürfen, zwischen den Frauen, zwischen den Söhnen, zwischen den Städten. "Das Singen der Sirenen" könnte sich dabei auf die Funktion der Literatur selbst beziehen. "Der Gesang der Sirenen", so hieß ein literaturphilosophischer Essay von Maurice Blanchot aus dem Jahr 1962, in dem er die kulturelle Leistung des Romans darin sah, aus Odysseus Homer zu machen, aus einer Sirene eine Sängerin, aus einem Verhängnis eine Kulturtechnik. Ob Michael Wildenhain seinen Titel an diesen Schlüsseltext der literaturtheoretischen Postmoderne angelehnt hat, ist nicht bekannt. Dass seine Sirenen von einem großen Krieg künden, darf man allerdings angesichts der Gesamtanlage des Romans erwarten. Immer wieder wird unser Jörg Krippen, den es durchaus polyglott um den Globus, durch die Kulturen und Sprachen treibt, wieder zurückgerufen an den Ort des blutigen Faustkampfs. Mit seiner Sabrina verbindet ihn seit Jahren die elementare Erfahrung des bewaffneten Häuserkampfes.
Das ist der eine Jörg Krippen. Der andere entfaltet sein feingeistiges Potential erst als junges Genie an der FU, dann als Gast an einer englischen Universität. Eine junge Frau namens Mae, die seltsamerweise Deutsch spricht und von ihrem indischen Namen Mohini auf selbstverleugnende Weise nichts mehr wissen will, macht den Nachwuchswissenschaftler zu ihrem Geliebten, dann per Mitteilung auch zum Vater ihres Neffen. Mae und Krippen, ein Paar, das ungleicher nicht sein könnte. Sie, eine junge Nachwuchswissenschaftlerin, die an Stammzellen forscht. Er, ein alternder Frankensteinianer, der über künstliche Menschen nachdenkt. Er Anhänger der sozialen Vaterschaft. Sie die Herrscherin über den Gentest. Er Geisteswissenschaft. Sie Naturwissenschaft, und zwar überzeugt: "Was macht ihr? Ihr zitiert und zitiert. Bewegt euch in einer Welt des Erdachten. Indem ihr auf Erdachtes verweist." Und dann: Ein indischer Businessman taucht auf und wird als Cousin Kali vorgestellt. Er verhilft Jörg Krippen zu einem finanziell lukrativen Schreibjob, der nicht an Krippens Originalität scheitert, sondern an seinem ideologischen Tourette-Syndrom. Einmal Straßenkampf, immer Straßenkampf! Jörg Krippen verlässt die Geliebte und den neu gefundenen Sohn, um sich in sein altes Berliner Leben zurückzufügen. Eine Pegida-Demo dient als Kitt zwischen der kampferprobten Ex-Frau und dem Spätheimkehrer Krippen.
Es wäre an dieser Stelle nun nicht opportun, weitere Details der deutsch-englisch-indischen Liebesverwicklungen zu schildern. Dann hätte man quasi den Fall vor dem Leser gelöst. Deswegen sollen noch zwei andere Formmerkmale dieses Romans erwähnt werden. Zum einen ist die Sprache bemerkenswert. In seiner elliptischen Erzählweise ist der Roman nämlich zunächst ziemlich ermüdend, nimmt aber mit steigender Komplexität auch sprachlich Fahrt auf. Wildenhain bedient mehrere Stilregister, vom proletarischen Dialog über die expressionistische Seelenskizze, das naturalistische Sexfragment und die bürgerliche Milieubeschreibung. Man wird so hin und hergeworfen von diesem Wechselschritt, bis man am Ende bemerkt, tatsächlich ins Tanzen gekommen zu sein. Es lag dann aber an der guten Führung! Und führen tut einen dieser Roman in die absonderlichsten Gegenden.
Michael Wildenhain hat einen Liebesroman geschrieben, der sich wie die Rache an der Berlin-Mitte-Literatur der letzten Jahre liest. Er ist von der Peripherie her geschrieben, und Nicht-Orte wie der Betriebsbahnhof Schöneweide, die Platte von Hellersdorf mitsamt ihren "ostzonalen Gestalten", die Rote Insel in Schöneberg oder das gute alte Westberliner Lankwitz haben darin ihren Auftritt. Auch London wird geographisch eher vom Rand her erzählt. Und die indische Kultur, unaufgeregt und doch selbstbewusst in den Roman gebettet, eröffnet neue Perspektiven auf den deutschen akademischen Austauschdienst der Körperflüssigkeiten.
Am Ende hinterlässt Wildenhains Roman den Eindruck einer Reise ins metropolitane Hinterland. Berlin erscheint darin als ein Ort, der noch unzählige unerzählte Geschichten in sich birgt. Der Kampf gegen rechts wird dabei zum Amalgam einer alten Beziehung, nicht aber zum Garanten für ein neues Leben im Zeichen der real gelebten Multikulturalität. Zu viel Gegensatz führt ins private Chaos: Schwarz und Weiß, Natur- und Geisteswissenschaft, Mann und Frau, Arm und Reich. Immerhin: Wenn man am Ende gemeinsam eine Bierflasche mit den Eckzähnen entkronen kann, wenn in dieser Geste so etwas wie Intimität aufblitzt, dann, so lehrt uns dieser Liebesroman, kann auch das Heulen der Polizeisirene Musik in den Ohren dieses modernen Odysseus sein.
KATHARINA TEUTSCH
Michael Wildenhain:
"Das Singen der Sirenen". Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017. 320 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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