Seit Jahrhunderten wird in der Philosophie über die Natur der Sprache gestritten. Für die rationalistisch-empiristische Tradition in der Folge von Hobbes, Locke und Condillac ist sie ein Werkzeug, das Menschen erfunden haben, um Informationen auszutauschen. In seinem neuen Buch bekennt sich Charles Taylor zum gegnerischen Lager der Romantik um Hamann, Herder und Humboldt und zeigt, dass der rationalistisch-empiristische Ansatz etwas Entscheidendes übersieht: Sprache beschreibt nicht bloß, sie erschafft Bedeutung, formt alle menschliche Erfahrung und ist integraler Bestandteil unseres individuellen Selbst.
Taylor geht jedoch noch einen Schritt über das Denken der deutschen Romantik hinaus und entwirft eine umfassende Theorie der Sprache im Sinne des linguistischen Holismus: Sprache ist ein geistiges Phänomen, aber sie kommt auch in künstlerischen Darstellungen, Gesten, Stimmen, Haltungen zum Ausdruck und kennt daher keinen Gegensatz von Körper und Geist. Indem er dieses grundlegende Vermögen des »sprachbegabten Tiers« erhellt, wirft Taylor ein neues Licht darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Taylor geht jedoch noch einen Schritt über das Denken der deutschen Romantik hinaus und entwirft eine umfassende Theorie der Sprache im Sinne des linguistischen Holismus: Sprache ist ein geistiges Phänomen, aber sie kommt auch in künstlerischen Darstellungen, Gesten, Stimmen, Haltungen zum Ausdruck und kennt daher keinen Gegensatz von Körper und Geist. Indem er dieses grundlegende Vermögen des »sprachbegabten Tiers« erhellt, wirft Taylor ein neues Licht darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2017Sprache kommt vor Beschreibung
Charles Taylor versucht, uns als sprechende Tiere richtig in den Blick zu bekommen
Aristoteles hielt den Menschen für das "zoon logon", für das Tier, das den Logos besitzt. Die traditionelle Übersetzung als "vernunftbegabtes Tier" greift zu kurz, denn "logos" hat viele Bedeutungen, unter anderen "Sprache", "Erzählung" und "Wort". Auf dieses Bedeutungsfeld begibt sich Charles Taylor in seinem neuen Buch, wenn er die anthropologische Differenz an der Sprache festmacht. In seinem Opus Magnum verknüpft der fünfundachtzigjährige kanadische Philosoph die Fäden aus früheren Arbeiten und schließt ein Forschungsprojekt ab, das er vor über vier Jahrzehnten begann. Es geht um nichts Geringeres als die Natur des Menschen.
Das Besondere an der Sprache liege nicht darin, die Welt genau zu erfassen und ihre wissenschaftliche Beschreibung zu ermöglichen, sondern Sprache sei konstitutiv für die menschliche Existenz: Die Sprache bestimme unsere Moral, unser Innenleben und unsere Identität. Dieser Grundgedanke ist selbstredend nicht neu. Taylor verortet ihn in der Romantik und macht ihn an der Sprachtheorie von Herder, Humboldt und Johann Georg Hamann fest (daher "HHH-Ansatz").
Die konträre Auffassung schreibt Taylor Herders Kontrahenten Condillac zu. Der französische Gelehrte der Aufklärung hielt die Sprache für ein Mittel, Dinge klar zu unterscheiden und präzise zu benennen. Neben Hobbes und Locke (daher "HLC-Ansatz") sieht Taylor in ihm den Vorläufer einer naturwissenschaftlichen Auffassung von Sprache, die eine objektive Beschreibung der Welt liefert: mit logischer und begrifflicher Klarheit aus der Perspektive der dritten Person. Den Positivismus des Wiener Kreises und den Naturalismus in der analytischen Philosophie fasst Taylor als Erben des HLC-Ansatzes auf.
Herder hingegen vertritt für Taylor eine holistische Sprachauffassung: Bedeutung könne es nur im Kontext einer ganzen Sprache geben, weil alle Bedeutungen in einem "Knäuel" zusammenhingen. Oder, um es mit Wittgenstein noch weiter zu fassen: die menschliche Sprachpraxis ist nur innerhalb einer ganzen Lebensform denkbar. Taylor präzisiert diese These mit Blick auf die empirische Forschung. So zeigt sich, dass Kinder beim Spracherwerb auf eine Reihe vor- und außersprachlicher Fähigkeiten zurückgreifen: Sie können die Absichten ihrer Eltern erkennen und mit ihnen gemeinsam die Aufmerksamkeit teilen, wie der Verhaltensforscher und Linguist Michael Tomasello nachgewiesen hat. Zudem werden der Habitus und der Hintergrund an Normen, auf denen die Sprachfähigkeit ruht, im praktischen und körperlichen Umgang miteinander gelernt.
Nur die Herder-Tradition kann, so Taylor, jene sprachliche Produktivität erklären, von der Humboldt sprach, als er meinte, wir würden von "endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch" machen. Diese erschöpfe sich nämlich nicht in der bloßen Rekombination von bereits gelernten Wörtern, sondern im Erschaffen neuer Bedeutungen durch figurative Rede, beispielsweise über Metaphern. Darin zeige sich die eigentliche menschliche Sprachkreativität. Schon daran scheitere die deskriptive Condillac-Tradition.
Taylor geht noch weiter: Unser ganzes Leben sei fundamental durch Sprache geprägt. Gerade das Innenleben entzöge sich der naturwissenschaftlichen Perspektive. Gleichzeitig helfe die Sprache dabei, den Geist immer genauer zu erschließen: Man denke an unser reichhaltiges Emotionsvokabular. All das habe im deskriptiv-naturwissenschaftlichen HLC-Weltbild keinen Platz. Daher übersehe diese Tradition, dass Sprache konstruktiv ist, zumal in der Sphäre sozialer Verbundenheit: Sätze wie "Ich liebe dich" stellen schließlich keine bloßen Tatsachenbehauptungen dar, und gerade konstitutive Sprechakte - etwa "Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau" - erschaffen erst soziale Tatsachen.
Taylor verkörpert einen Typus, der in der akademischen Philosophie selten geworden ist: den des Universalgelehrten. Von Herder spannt er den Bogen zum späten Wittgenstein und zu Heidegger, macht Abstecher in die Ästhetik und Moralphilosophie, referiert Forschungen der Linguistik und Entwicklungspsychologie und legt nebenbei eine "Zauberberg"-Interpretation vor. Die Romantik und die Phänomenologie würdigt er ebenso wie Frege, den Begründer der formalen Logik.
Einige Leser der kontinentalen Tradition werden diese Querverweise und skizzierten Traditionslinien sicher zu schätzen wissen. Doch Taylors breiter Pinselstrich hat den Nachteil, dass er über viele feine Unterschiede hinwegwischt. Taylor ist oft ungenau, ausschweifend, repetitiv und er fällt, etwa beim Thema der Kognition von Tieren, hinter den Forschungsstand zurück.
Vor allem klingt seine schematische Einteilung in die Herder- und die Condillac-Tradition doch arg nach einem Strohpuppenargument. Niemand in der zeitgenössischen Linguistik oder der analytischen Philosophie würde behaupten, die Funktion der Sprache läge einzig darin, die Welt zu beschreiben. Gerade Wittgenstein, Austin und Searle haben gezeigt, dass wir mit Worten so gut wie alles tun können: flirten, beten, fluchen, schwören oder rappen. Und schon so unterschiedliche Denker wie Chomsky und Davidson haben betont, dass sprachliches Wissen nicht ohne außersprachliche Fähigkeiten und allgemeines Weltwissen denkbar ist.
Den vermeintlichen Streit der Lager kann man leicht auflösen, führt man sich die Mehrdeutigkeit des Wortes "Bedeutung" vor Augen. Die wissenschaftliche Sprachtheorie hat sprachliche Bedeutung im Sinn. Ihre Frage lautet: Wie schaffen wir es, mit Wörtern die Welt zu repräsentieren? Taylor fasst "Bedeutung" viel weiter als "Bedeutsamkeit" für unser Leben. Trivialerweise hat dann fast alles eine Bedeutung, so wie in der Kulturtheorie alles "Zeichen" oder "Text" ist.
Taylor stellt fest, dass man Stimmungen in der Kunst bedeutsam findet und sie dennoch oft nicht in Worte fassen kann. Die Rede von der Unausdrückbarkeit des Individuellen, ein Topos der Romantik, ist theoretisch umstritten. Jedenfalls widmet sich auch die zeitgenössische HLC-Tradition dem Gehalt von Stimmungen und Empfindungen, und zwar unter dem Stichwort "nichtbegriffliche Repräsentationen".
Was sich hinter der "Unausdrückbarkeit" der Kunst für Taylor genau verbirgt, werden wir in seinem nächsten Buch erfahren, an dem er bereits schreibt. In ihm soll es um Goethe, Schlegel, die Post-Romantik und um die Kraft der "dichterischen Sprache" gehen. Vielleicht wird Taylor den Menschen dort noch etwas genauer bestimmen: als das Tier, das Geschichten erzählt.
PHILIPP HÜBL
Charles Taylor: "Das sprachbegabte Tier". Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens.
Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 655 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Charles Taylor versucht, uns als sprechende Tiere richtig in den Blick zu bekommen
Aristoteles hielt den Menschen für das "zoon logon", für das Tier, das den Logos besitzt. Die traditionelle Übersetzung als "vernunftbegabtes Tier" greift zu kurz, denn "logos" hat viele Bedeutungen, unter anderen "Sprache", "Erzählung" und "Wort". Auf dieses Bedeutungsfeld begibt sich Charles Taylor in seinem neuen Buch, wenn er die anthropologische Differenz an der Sprache festmacht. In seinem Opus Magnum verknüpft der fünfundachtzigjährige kanadische Philosoph die Fäden aus früheren Arbeiten und schließt ein Forschungsprojekt ab, das er vor über vier Jahrzehnten begann. Es geht um nichts Geringeres als die Natur des Menschen.
Das Besondere an der Sprache liege nicht darin, die Welt genau zu erfassen und ihre wissenschaftliche Beschreibung zu ermöglichen, sondern Sprache sei konstitutiv für die menschliche Existenz: Die Sprache bestimme unsere Moral, unser Innenleben und unsere Identität. Dieser Grundgedanke ist selbstredend nicht neu. Taylor verortet ihn in der Romantik und macht ihn an der Sprachtheorie von Herder, Humboldt und Johann Georg Hamann fest (daher "HHH-Ansatz").
Die konträre Auffassung schreibt Taylor Herders Kontrahenten Condillac zu. Der französische Gelehrte der Aufklärung hielt die Sprache für ein Mittel, Dinge klar zu unterscheiden und präzise zu benennen. Neben Hobbes und Locke (daher "HLC-Ansatz") sieht Taylor in ihm den Vorläufer einer naturwissenschaftlichen Auffassung von Sprache, die eine objektive Beschreibung der Welt liefert: mit logischer und begrifflicher Klarheit aus der Perspektive der dritten Person. Den Positivismus des Wiener Kreises und den Naturalismus in der analytischen Philosophie fasst Taylor als Erben des HLC-Ansatzes auf.
Herder hingegen vertritt für Taylor eine holistische Sprachauffassung: Bedeutung könne es nur im Kontext einer ganzen Sprache geben, weil alle Bedeutungen in einem "Knäuel" zusammenhingen. Oder, um es mit Wittgenstein noch weiter zu fassen: die menschliche Sprachpraxis ist nur innerhalb einer ganzen Lebensform denkbar. Taylor präzisiert diese These mit Blick auf die empirische Forschung. So zeigt sich, dass Kinder beim Spracherwerb auf eine Reihe vor- und außersprachlicher Fähigkeiten zurückgreifen: Sie können die Absichten ihrer Eltern erkennen und mit ihnen gemeinsam die Aufmerksamkeit teilen, wie der Verhaltensforscher und Linguist Michael Tomasello nachgewiesen hat. Zudem werden der Habitus und der Hintergrund an Normen, auf denen die Sprachfähigkeit ruht, im praktischen und körperlichen Umgang miteinander gelernt.
Nur die Herder-Tradition kann, so Taylor, jene sprachliche Produktivität erklären, von der Humboldt sprach, als er meinte, wir würden von "endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch" machen. Diese erschöpfe sich nämlich nicht in der bloßen Rekombination von bereits gelernten Wörtern, sondern im Erschaffen neuer Bedeutungen durch figurative Rede, beispielsweise über Metaphern. Darin zeige sich die eigentliche menschliche Sprachkreativität. Schon daran scheitere die deskriptive Condillac-Tradition.
Taylor geht noch weiter: Unser ganzes Leben sei fundamental durch Sprache geprägt. Gerade das Innenleben entzöge sich der naturwissenschaftlichen Perspektive. Gleichzeitig helfe die Sprache dabei, den Geist immer genauer zu erschließen: Man denke an unser reichhaltiges Emotionsvokabular. All das habe im deskriptiv-naturwissenschaftlichen HLC-Weltbild keinen Platz. Daher übersehe diese Tradition, dass Sprache konstruktiv ist, zumal in der Sphäre sozialer Verbundenheit: Sätze wie "Ich liebe dich" stellen schließlich keine bloßen Tatsachenbehauptungen dar, und gerade konstitutive Sprechakte - etwa "Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau" - erschaffen erst soziale Tatsachen.
Taylor verkörpert einen Typus, der in der akademischen Philosophie selten geworden ist: den des Universalgelehrten. Von Herder spannt er den Bogen zum späten Wittgenstein und zu Heidegger, macht Abstecher in die Ästhetik und Moralphilosophie, referiert Forschungen der Linguistik und Entwicklungspsychologie und legt nebenbei eine "Zauberberg"-Interpretation vor. Die Romantik und die Phänomenologie würdigt er ebenso wie Frege, den Begründer der formalen Logik.
Einige Leser der kontinentalen Tradition werden diese Querverweise und skizzierten Traditionslinien sicher zu schätzen wissen. Doch Taylors breiter Pinselstrich hat den Nachteil, dass er über viele feine Unterschiede hinwegwischt. Taylor ist oft ungenau, ausschweifend, repetitiv und er fällt, etwa beim Thema der Kognition von Tieren, hinter den Forschungsstand zurück.
Vor allem klingt seine schematische Einteilung in die Herder- und die Condillac-Tradition doch arg nach einem Strohpuppenargument. Niemand in der zeitgenössischen Linguistik oder der analytischen Philosophie würde behaupten, die Funktion der Sprache läge einzig darin, die Welt zu beschreiben. Gerade Wittgenstein, Austin und Searle haben gezeigt, dass wir mit Worten so gut wie alles tun können: flirten, beten, fluchen, schwören oder rappen. Und schon so unterschiedliche Denker wie Chomsky und Davidson haben betont, dass sprachliches Wissen nicht ohne außersprachliche Fähigkeiten und allgemeines Weltwissen denkbar ist.
Den vermeintlichen Streit der Lager kann man leicht auflösen, führt man sich die Mehrdeutigkeit des Wortes "Bedeutung" vor Augen. Die wissenschaftliche Sprachtheorie hat sprachliche Bedeutung im Sinn. Ihre Frage lautet: Wie schaffen wir es, mit Wörtern die Welt zu repräsentieren? Taylor fasst "Bedeutung" viel weiter als "Bedeutsamkeit" für unser Leben. Trivialerweise hat dann fast alles eine Bedeutung, so wie in der Kulturtheorie alles "Zeichen" oder "Text" ist.
Taylor stellt fest, dass man Stimmungen in der Kunst bedeutsam findet und sie dennoch oft nicht in Worte fassen kann. Die Rede von der Unausdrückbarkeit des Individuellen, ein Topos der Romantik, ist theoretisch umstritten. Jedenfalls widmet sich auch die zeitgenössische HLC-Tradition dem Gehalt von Stimmungen und Empfindungen, und zwar unter dem Stichwort "nichtbegriffliche Repräsentationen".
Was sich hinter der "Unausdrückbarkeit" der Kunst für Taylor genau verbirgt, werden wir in seinem nächsten Buch erfahren, an dem er bereits schreibt. In ihm soll es um Goethe, Schlegel, die Post-Romantik und um die Kraft der "dichterischen Sprache" gehen. Vielleicht wird Taylor den Menschen dort noch etwas genauer bestimmen: als das Tier, das Geschichten erzählt.
PHILIPP HÜBL
Charles Taylor: "Das sprachbegabte Tier". Grundzüge des menschlichen Sprachvermögens.
Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 655 S., geb., 38,- [Euro].
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»Wie in all seinen Veröffentlichungen schreibt der enorm produktive Autor erneut nicht nur hochgelehrt, sondern stellt auch unter Beweis, was ein angloamerikanischer Großprovinzialismus vielerorts aufgegeben hat: eine Vertrautheit nicht nur mit der englischsprachigen, sondern auch mit der deutschen und der französischen Literatur.« Ottfried Höffe Neue Zürcher Zeitung 20180120