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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Aufwachsen in der Diktatur: Der große chinesische Dichter Bei Dao erinnert sich an das Peking seiner Jugend während der Kulturrevolution.
Als Bei Dao, nach dreizehn Jahren im Exil, 2001 erstmals wieder in seine Heimatstadt reisen darf, erwarten ihn zwei Herren am Flughafen: "Obgleich von ungleicher Gestalt, ähnelten sie einander sehr. Das einsame Licht diente ihnen als Folie und machte sie zu Schatten aus einer anderen Welt. Die Begrüßungszeremonie war kurz und bündig, danach Schweigen. So ging es in eine schwarze Limousine. Da erst begannen die drei Herren zu sprechen."
Der Dichter, der an der Universität im kalifornischen Davis gelehrt hatte, hörte die Herren kaum - zu sehr war er von den vorbeiziehenden Lichtern der Stadt gefangen. Gaben sie Höflichkeitsfloskeln oder doch eher Einschüchterungen von sich? Die Stadt war es, die ihn faszinierte und verstörte, die ihm hybrid schien und orientierungslos taumelnd. So beschließt er, seine Erinnerungen aufzuschreiben, um "das Peking von heute (zu) widerlegen".
Der Titel "Das Stadttor geht auf" ist auch politisch zu lesen, denn Bei Dao gehört zu den schärfsten und von der Regierung gefürchteten Kritikern der Diktatur; sein Gedicht "Die Antwort" (1976) wurde zur Hymne der Demokratiebewegung, die dreizehn Jahre später auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurde. Damals befand sich Bei Dao in Berlin, er wurde gewarnt und kehrte daraufhin nicht nach Peking zurück. "Die 80er-Jahre waren ein weißer Korridor, der zwei Nächte miteinander verband", heißt es im letzten Kapitel seines Buches. Es trägt den Titel "Vater" - auch ihm setzt er mit diesen Erinnerungen ein Denkmal.
"Er erzählt in Bildern, sein Stil gleicht einem poetischen Tanz", schreibt Bei Daos Übersetzer Wolfgang Kubin in seinem Nachwort und weist damit auf eine Besonderheit dieser Erinnerungen: Sie scheinen aus einer, wenn auch kleinen, spielerisch-humorvollen Distanz erzählt und kommen ihren Gegenständen gerade deswegen ganz nah. Bei Dao vertieft sich in die Geräusche und Gerüche seiner Kindheit, er hört wieder den Klang des Taubengefieders und die morgendlichen Gesangsproben eines Hahnes: "Seine Zuhörer folgten der Tonleiter mit klopfendem Herzen bis zu den Wolken, wo er unerwartet innehielt und sie in der Schwebe zurückließ."
Peking ist in den Fünfzigerjahren eine dörfliche Stadt, geprägt von Pferdegetrappel und Rußgestank, von Armut und Unwissen. Bei Daos Pubertät fällt in die großen Hungerjahre, immer wieder kreisen seine Erinnerungen um das Essen und seinen Duft. Sein Gesicht, schreibt er, sei damals eingefallen gewesen, die Augen starr und unnatürlich glänzend, um seine Mundwinkel spielte ein "arglistiges Grinsen" - er war ein kleines Tier auf der Jagd. Die Hungersnot von 1950 bis 1962, während der Millionen Chinesen starben, wurde von den Machthabern zynisch als "Großer Sprung nach vorn" gefeiert, ihm schloss sich die "Zerschlagung des Alten" an, die sogenannte "Kulturrevolution" (1966 bis 1977).
Sie steht im Zentrum des Buches, schmerzhaft und in großartigen Bildern erzählt. In diesen Jahren wird Bei Dao, der 1949 geboren wurde, erwachsen. Er stammt aus einer gebildeten Familie mit ehrwürdigem Stammbaum, etliche seiner vielen Onkel bekleiden einflussreiche Positionen, auch sein Vater war als Pionier des chinesischen Versicherungswesens privilegiert und damit höchst gefährdet. Zwei erschütternde Fotos im Buch zeigen Vater und Mutter in einer Kaderschule, ausgemergelt und mit versteinerten Gesichtern. Bei Dao wirkt auf einem dieser Fotos zwar ernst, aber auch entschlossen: Er war Teil der Kulturrevolution, seine "Mittelschule Nr. 4", eine berühmte Schule der Stadt, wurde eines ihrer Zentren, mit fast täglichen "Kampfsitzungen", bei denen über Leben und Tod entschieden wurde.
"All die große Energie, die diese Revolution freigab, einschließlich der blutigen Gewalt, kam von uns Kindern", schreibt Bei Dao und schildert sehr ehrlich, wie er als Anführer eines Rudels von Mitschülern einen Nachbarn aus dem Haus zerrte, ihn schlug und versuchte, seinen Kopf kahl zu scheren, doch seine Hand zitterte zu sehr. Jedes dieser Gewaltereignisse verwundet seine Seele. In dieser Zeit beginnt er rauschhaft zu lesen und erste Gedichte zu schreiben, durch seine Familie hat er Zugang zu verbotenen Büchern und ausländischer Kunst. In der elterlichen Wohnung gründet er mit Freunden einen "Salon", in dem offen gesprochen wird, und wagt als Neunzehnjähriger, "jegliche Autorität herauszufordern".
Sehr genau und ohne jede Beschönigung sind diese Jahre geschildert, besonders die Trauer um verhaftete und hingerichtete Freunde schwingt in den Sätzen mit. Und doch pilgert der angehende Dichter mit anderen Rotgardisten zum Ursprungsort der Revolution, Maos Schriften im Gepäck - eine dem Wahnsinn und der Gewalt verfallene Zeit, resümiert er.
In jedem Bild dieser leuchtenden Erinnerungen steckt die leicht ironische, auch selbstironische Ambivalenz von Bei Daos Gefühlen für China, etwa wenn er den allgegenwärtigen Staub den "Oberbefehlshaber aller Gerüche" nennt: "Er lässt die Münder ausdorren, legt die Zungen trocken, veranlasst die Kehle zu qualmen und lässt das Herz sich elend fühlen."
Ähnlich schwierig sind die Auseinandersetzungen mit dem Vater, der seine Verse am liebsten verbrennen würde und ihn aus dem Haus wirft und den Bei Dao doch heftig liebt. Bei den Besuchen der Eltern in Amerika beobachtet er ihn als typischen Vertreter der Intelligenzija, der sich halb untergeordnet, halb verweigert hat und den er für seinen Überlebenswillen bewundert. Für den Sterbenden kehrte der Sohn nach Peking zurück. Heute lehrt Bei Dao an der chinesischen Universität von Hongkong (wo die Originalausgabe dieses Buches 2010 erschien) und darf Peking besuchen, streng beobachtet vom Geheimdienst. NICOLE HENNEBERG
Bei Dao: "Das Stadttor geht auf". Eine Jugend in Peking.
Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Hanser Verlag, München 2021. 333 S., Abb., geb., 25,- Euro.
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"Seinen literarischen Reiz hat 'Das Stadttor geht auf' als Peking-Elegie. Seinen mentalitätsgeschichtlichen Wert hat es als Dokument einer verschwindenden Generation, deren Traumata doch noch das wirtschaftlich entfesselten China von heuteprägen." Gregor Dotzauer, Tagesspiegel, 10.11.21
"Mit künstlerischer Meisterschaft versteht es Bei Dao, mit ganz wenigen und doch so präzisen Strichen aus vermeintlichen Alltagsgeschichten seiner Kindheit und Jugend den Kosmos einer Gesellschaft zu zeichnen." Tilman Spengler, Süddeutsche Zeitung, 21.10.21
"'Das Stadttor geht auf' beschreibt innere und äußere Landschaften der Demütigung und des physischen wie auch geistigen Hungers. Eine immens wichtige Lektüre." Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur, 21.10.21
"Bei Daos Prosa ist von schlichter Anmut." Martin Gasser, Kleine Zeitung, 05.02.22
"Bei Daos Leben und Werk sind der Inbegriff der Dichtung: zeitlos schimmernde Kleinodien. Stets stellt er das Mögliche über das Polemische, unverdrossene Hoffnung über allzu bequemen Zynismus. All das findet sich in erweiterter Form in seiner Prosa wieder." Ocean Vuong