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Jörg-Uwe Albigs neuer Roman "Das Stockholm-Syndrom" hält, was er verspricht: Er findet in der Geschichte eines Familienbetriebs auch den Sadomasochismus im Kapitalismus
Der Weg vom alten Industriegebiet zum aktuellen Businesspark war nicht steinig. Er konnte ganz ohne begleitende "Die deutsche Sprache geht unter"-Artikel im Feuilleton beschritten werden. Und die Wirtschaftsseiten der Zeitungen mussten sich auch nicht in Klagen über den Tod des deutschen Mittelstandes ergehen. Die unaufhaltsam fortschreitende Internationalisierung der Wirtschaft hatte zudem noch den Vorteil, dass man sich als "Senior Account Manager" Frau wie Mann vorstellen konnte, ohne sich groß in Genderdebatten zu verlieren.
Jörg-Uwe Albig erzählt diesen Schritt vom Lokalen ins Globale in seinem gerade erschienenen Roman "Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus" am Beispiel der Umbenennung der "Seggle GmbH" in "Human Solutions". Vorgetragen wird die Legende vom bodenständigen Familienunternehmen von Sabine Seggle selbst, zu Beginn des Romans alleinige Inhaberin des Unternehmens. Adressatin der kurzen, aber prägnanten Familienfirmengeschichte ist Katrin Perger, Ich-Erzählerin des Romans und eigentlich Familientherapeutin.
Während Sabine Seggle erzählt, wie alles mit Großvater Konstantin, dem Firmengründer und Hobbyarchäologen, begann, der nach dem Krieg mit einem einzigen hörgeschädigten Mitarbeiter in einer umgebauten Scheune die ersten Kunden betreut hatte, wird die Chefin der Therapeutin immer sympathischer. Mit ihren "langen, buchenholzblonden, geradezu kalifornisch gewellten Haaren" passte Seggle einfach so gut zu ihrem "blonden Kostüm, den blonden Pumps" und "dem blonden Schreibtisch", dass Perger beginnt, sich in diesem Büro wohlzufühlen. Viel anderes bleibt der Therapeutin aber auch nicht übrig, wenn sie hier ihren Job machen will.
Denn mit genauen Angaben zur Tätigkeit der Firma und dem hier anstehenden Problem hält sich die Unternehmerin bewusst im Vagen. Was nicht weiter schlimm ist, da Perger sowieso keine Ahnung von Drosselrückschlagventilen, Schlauchflanschen, Achtzehnkantmuttern, Kontrastmitteln für Traktorreifen und umwälzenden Apps hat, mit denen die Firmen im deutschen Mittelstandsgürtel um Stuttgart ihr Geld verdienen. Also macht Perger ihre Arbeit, denn irgendein Problem muss es ja geben, sonst hätte man sie nicht geholt.
Albig überführt dieses Kennenlerngespräch so beiläufig in die Stereotypen der Familientherapie, dass man beinahe vergisst, die Passagen als die Satire zu lesen, als die das Buch annonciert wird. Wenn Perger in der Businessparkkantine fragt, "was denkt die Firma, was geht in ihr vor. Was will sie vom Leben?", und Frau Seggle belustigt nur antwortet: "Geld", ist das natürlich komisch. Dazu liefert Albig noch eine wunderbar sparsame Einführung in den Businesspark von Glimpflingen, eine gute Autostunde von Stuttgart entfernt. In der fährt man an fünf- bis sechsstöckigen Betonquadern mit horizontalen Fensterstreifen, einem "scharfkantigen Teich mit Schilf und Seerosen und einem Holzsteg" und jungen Linden, "bewacht von kaum älteren Ahornbäumen", vorbei, bis man zwischen "Schill Memometrics" und "Kryonic Consult" endlich bei "Human Solutions" landet.
Gerade solche Beschreibungen sind - mit Albigs bereits in seinem Roman "Zornfried" über die sogenannte neurechte Szene erprobter Meisterschaft der kurzen Anspielungen und treffenden Namen vorgetragen - dann ohne Schwierigkeiten als Satire lesbar. Stuckrath ist hier eine Burg, auf der ein reicher Mäzen einmal im Jahr "Out of the box"-Denker und Künstler mit Größen aus Wirtschaft und Politik zusammenbringt; Gursky ein Kundenbetreuer bei "Human Solutions" und Mads Zastrow ein Rebell der Psychoanalyse, der den Blog "Gegenübertragung" betreibt. Wenn einem diese Namen aus anderen Zusammenhängen bekannt erscheinen, kann man sich in Assoziationsketten verlieren.
Albig begegnet dieser Tendenz zum angenehmen Wegdriften ins Ungefähre mit einer Art Parallelaktion. Schon früh im Roman unterbricht er die Erzählung mit typographisch abgesetzten kurzen Berichten. Der erste spielt am 23. August 1973. An dem Tag betrat der entflohene Häftling Jan-Erik Olsson mit einem Koffer und einer geladenen Maschinenpistole die Zentrale der Sveriges Kreditbank in Stockholm. Olsson schoss dann mehrfach in die Decke, stellte ein Transistorradio auf den Schaltertresen, drehte auf volle Lautstärke und rief: "Jetzt geht die Party los!" Albig widmet Olssons Auftritt in der Bank einige Überlegungen über den Zusammenhang von Musikbeschallung und Arbeitsproduktivität bei Angestellten, die, statistisch abgesichert, in dem Schluss münden, dass besonders "Welcome to the Jungle" von Guns N'Roses, der Toto-Hit "Africa" und "Wonderwall" von Oasis als motivierend, kreativitäts- und konzentrationssteigernd empfunden wurden. Entsprechend orchestrierte der Bankräuber Olsson seine Geiselnahme konsequent mit Musik. Oft tanzte er oder sang selbst, besonders gern "Killing Me Softly with His Song" von Roberta Flack. Albig zieht aus den kurzen Passagen zum Zusammenhang von Musik, Arbeitsproduktivität und Konsum den Schluss, dass Olssons Satz "Jetzt geht die Party los" sein Echo im "work hard, play hard" des individualisierten Kapitalismus finde. Das Spiel, schreibt Albig, soll so "hart" sein wie die Arbeit, die es kompensieren soll, und so mit ihr verschmelzen. Die Musik bilde, so Albigs Folgerung, das Hintergrundgeräusch für eine psychosoziale Transformation, die einst unter dem Namen "Stockholm-Syndrom" in die Kriminalgeschichte eingegangen sei.
Katrin Pergers Erzählung über ihren therapeutischen Einsatz geht im gleichen Takt weiter. Auch das Stockholm-Syndrom wird aufgenommen in den Strom der Satire. Der etwas ausschweifende Romantitel ist zugleich Titel von Pergers nie abgegebener Psychologie-Diplomarbeit. Weil sie aber Statistik nie verstanden hatte und der Neurobiologie nicht glauben konnte, zwei ungünstige Voraussetzungen für den Abschluss eines Psychologiestudiums, hatte ihr Professor geraten, das Projekt aufzugeben, und ihr alles gut gewünscht. Perger hatte in ihrer studentischen Hybris die Thesen der Arbeit aber dann doch auf dem Blog des erwähnten Rebellen Mads Zastrow veröffentlicht, was ihr mit steigendem Erfolg als Therapeutin immer peinlicher wurde. Wenn, befürchtete sie, einer ihrer Kunden das lesen würde, sei sie den sofort los. Dazu kommt es aber nicht. Der Text bleibt auf dem Blog, weil Zastrow sich weigert, ihn zu löschen, es liest ihn im Laufe dieses Romans aber auch niemand.
Das Stockholm-Syndrom, die manchmal auch libidinöse Beziehung von Geiseln zu ihren Geiselnehmern, ist als Syndrom aus den Psychologie- und Medizinbüchern seit einigen Jahren verschwunden, weil es in seinen Beschreibungen zu unspezifisch war. Als Metapher geistert es aber weiter durch fast alle Berichte zu aktuellen und vergangenen Kriminalfällen um Geiselgangster. In Albigs Roman erfährt der Begriff eine Umdeutung, die in der zweiten Unterbrechung der Erzählung auftaucht. Dort spricht Natascha Kampusch über ihre jahrelange Geiselhaft im Haus ihres Peinigers. Kampusch berichtet, wie ihr Geiselnehmer sie einmal am helllichten Tag mit der Außenwelt konfrontierte, indem er sie zur offenen Tür des Gefängnisses führte und sie fast hinausschubste. Kampusch war so starr vor Schreck und Scham, dass sie panisch ins Haus zurückstürzte, anstatt in die Freiheit zu fliehen.
Mit Natascha Kampuschs schrecklicher Erfahrung, ihr Gefängnis als Ort des Schutzes gegenüber der Freiheit im unbekannten Außen zu empfinden, hat man einen Hinweis auf den Hintergrund, vor dem Albig seine Familienfirmen- und Gegenwartsanalyse entfaltet. Dass er dabei wie selbstverständlich auch auf den mythischen Grund des platonischen Höhlengleichnisses zurückgreifen kann, in dem die Menschen als Lebenszeitgefangene von Schattenspielen so gefesselt und trügerisch befriedigt werden, dass sie jeden Ausgang aus der Höhle als Schreckensdrohung empfinden, hat wahrscheinlich auch geholfen, seine Geschichte so leicht als Satire zu verkleiden.
Denn am Ende ist die Höhle oder Hölle der Erfahrungswelt des mittelständischen Unternehmens, zumindest ohne einen Ausblick oder Anklang eines anderen Außens, wahrscheinlich selbst für den Autor kaum zu ertragen.
CORD RIECHELMANN.
Jörg-Uwe Albig: "Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus". Roman. Klett-Cotta, 240 Seiten, 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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