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György Dalos beleuchtet vor der Wahl das "System Orbán". Viele Aspekte streift er leider nur
Viktor Orbán hat einen langen Atem. Schon zu Oppositionszeiten hatte der heutige ungarische Regierungschef darüber fantasiert, wie er nicht bloß eine Wahl gewinnen will, sondern die darauf folgenden 15 bis 20 Jahre durchregieren wolle. Von diesen hat er seit seinem Amtsantritt im Frühjahr 2010 schon zwölf hinter sich. Sollte er am kommenden Sonntag die vierte Parlamentswahl in Folge gewinnen, hat er zumindest quantitativ sein damaliges Ziel erreicht.
Sprach der nationalkonservative Politiker im Wahlkampf noch vom "großen zentralen Kraftfeld", das eine Regierung unter seiner Führung bilden solle, ließ Orbán nach dem Wahlsieg die Nationalversammlung feierlich eine "Revolution in den Wahlkabinen" deklarieren, die in Ungarn einen "neuen Gesellschaftsvertrag" habe entstehen lassen. Diesem gaben seine Erfinder den Namen "System der Nationalen Zusammenarbeit". Ziel des neu erschienenen Buches von György Dalos ist es, sich diesem "System Orbán" aus unterschiedlichsten Blickwinkeln zu nähern. Der Schriftsteller und Historiker verbirgt seine oppositionelle Einstellung nicht und spricht von einem immer autoritärer und rücksichtsloser agierenden Staat. Zugleich kritisiert er die Orbán-Gegner, denen es nicht gelinge, die Blase, in der sie wie von der Regierung gewollt nur unter ihresgleichen diskutierten, zu verlassen.
Dalos beschreibt die verschiedenen Aspekte, die dieses "System Orbán" ausmachen, in nicht weniger als 18 Kapiteln. Früh erfährt der Leser, wie ein gegen den Tabakkonsum gerichtetes Gesetz für regierungsnahe Unternehmern ergiebige Einnahmen generiert haben soll. Nach der radikalen Reduzierung und Monopolisierung des Tabakverkaufs wurde 2015 eine "GmbH zur landesweiten Versorgung der Tabakläden" gegründet. Der Sitz dieses konkurrenzlosen Lieferanten befand sich an derselben Adresse wie ein etabliertes Unternehmen der Tabakherstellung. Dessen Eigentümer wird nachgesagt, in die Entstehung des Anti-Tabak-Gesetzes einbezogen gewesen zu sein. Wie Dalos an anderer Stelle ausführt, haben in Ungarn jedoch nicht die Oligarchen den Staat unter Kontrolle, sondern dieser setzt Oligarchen ein. Man könnte Viktor Orbán somit als Technologen der Macht bezeichnen.
Ein großes Verdienst des Buches liegt in den lebensnahen Einblicken in die Problematiken. Neben dem Tabakverkauf geht es etwa auch um die ab 2012 durchgeführte Kürzung der Haushaltsnebenkosten. Dalos beschreibt sie als "großen sozialpolitischen Coup". Bei genauerem Hinsehen zeige sich allerdings, dass die Erhöhung der sonstigen Lebenshaltungskosten und der Steuern die Vorteile bald übertrafen. Der Opposition sei es allerdings nie gelungen, den Normalbürgern zu erklären, dass ihr Lebensunterhalt durch die Maßnahmen nicht wesentlich billiger geworden sei. Die Regierung in Budapest behielt die kommunikative Kontrolle. Ein Beispiel für ihren Mitteilungszwang sind auch die zahlreichen Schilder, die in strukturschwachen Regionen stehen und wo etwa "Ungarisches Dorf" draufsteht. Das soll die Bewohner daran erinnern, wem sie all die Wohltaten verdanken. Bisher gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese Kommunikationsstrategie nicht aufginge.
Die ungarischen Innenansichten sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dalos sich an ein ausländisches und speziell an ein deutschsprachiges Publikum richtet. Deshalb ist umso erstaunlicher, dass er ein ganzes Kapitel Ungarns spezieller Zuwendung zu jenen Staaten widmet, in denen Turksprachen gesprochen werden. Den größten Elefanten im Raum dagegen streift er bestenfalls: Orbáns Sonderbeziehung zu Putins Russland. Der Autor kann wahrlich nichts dafür, dass der Machthaber in Moskau seinen Krieg nach der Produktion des Buches begonnen hat. Doch die Kooperation mit Russland ist nicht über Nacht entstanden und lässt sich etwa im Ausbau des ungarischen Kernkraftwerks Paks materialisieren. Vor allem ist sie für den ausländischen Beobachter auch historisch erklärungsbedürftig, da dieser meinen könnte, durch den von sowjetischen Truppen niedergeschlagenen Aufstand von 1956 sei Ungarn gegen übermäßige Zuneigung zum Kreml immun.
Angemessener hat Dalos die geopolitischen Rahmenbedingungen in jenem Kapitel im Blick, in dem er darüber schreibt, wie die von George Soros ins Leben gerufene Central European University vergrault wurde, während die Regierung in Budapest nun beabsichtigt, einen Campus der chinesischen Universität Fudan zu errichten. Außenpolitisch deutlich zu kurz kommt in dem Buch jedoch die Kooperation in der ostmitteleuropäischen Visegrád-Gruppe. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass Budapest die Bedeutung dieser Gruppe systematisch hochspielt und sich dabei auf die mittlerweile in den Hintergrund geratene Gegnerschaft zur außereuropäischen Immigration beruft. In ihrer an das Ausland gerichteten PR suggeriert die ungarische Regierung eine gemeinsame Weltsicht, die sich nicht erst seit der jüngsten ohne Viktor Orbán stattgefundenen Kiew-Reise als Schimäre entpuppt. Interessant wäre gewesen, wenn Dalos diese Auslandspropaganda beleuchtet hätte. Denn mittlerweile steht etwa auch in deutschen Bahnhofskiosken ein Magazin namens "Hungarian Conservative" im Regal.
Alles in allem ist das "System Orbán" gerade wegen des Blicks nach Ungarn selbst die Lektüre wert. Wenige Tage vor der Wahl dürfte Dalos' implizite Prognose ihre Gültigkeit behalten: Die Wahrscheinlichkeit, dass Orbán mit seiner Fidesz-Partei die vierte Wahl in Folge gewinnt ist weitaus höher, als dass er sie verliert. Gleichwohl ist die Aussicht, dass der dieses Mal vereinigten Opposition dennoch eine Überraschung gelingt, realistischer als bei den letzten drei Wahlgängen. Der Autor gibt den Orbán-Gegnern auf den Weg, sie sollten nicht gleich ein "System", aber doch eine kohärente Vorstellung davon entwickeln, was sie nach einem Wahlsieg mit Ungarn denn vorhaben. NIKLAS ZIMMERMANN
György Dalos: Das System Orbán. Die autoritäre Verwandlung Ungarns.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 224 S., 18,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Standard, Joe Kirchengast
"Dalos erzählt unaufgeregt, fast distanziert, über die unglaubliche Dreistigkeit und Überheblichkeit, mit der das System Orbán den Staat beherrscht."
Stefan May, OE1
"Lesenswert."
Kleine Zeitung, Stefan Winkler
"bietet interessante Einsichten"
Niklas Zimmermann, FAZ
"Dalos wirft interessante Schlaglichter."
NZZ, Ulrich M. Schmidt
"Sehr detailliert, kenntnisreich und mit vielfältigen historischen Rückgriffen."
Praxis Politik und Wirtschaft
"Seit Jahrzehnten begleitet der Schriftsteller und Historiker kritisch die Geschichte seiner Heimat. Präzise analysiert er den Umbau von Staat und Gesellschaft unter Viktor Orbán."
arte Magazin