Als erste grönländische Autorin ausgezeichnet mit dem Nordischen Literaturpreis – ein Roman, der noch lange nachhallt, voller Dringlichkeit und Poesie
Wie lässt sich damit umgehen, wenn die Lebensfreude plötzlich gedämpft wird und die Sorge überhandnimmt? Eine junge Grönländerin hat noch ihr ganzes Leben vor sich und hadert dennoch mit vielem: Sie hat eine Freundin, die sie liebt. Ihre Familie ist fürsorglich – vielleicht zu sehr. Sie wird demnächst Grönland verlassen, um in Dänemark zu studieren. Und doch fühlt sie sich fehl am Platz: zu dick und nicht gewürdigt in ihrer Kultur, die so viele Demütigungen erlitten hat. Und dann sieht sie täglich die gebrochenen Herzen auf Facebook, die für die vielen jungen Selbstmörder*innen in Grönland stehen. Was bedeutet das für den eigenen Blick auf das Leben? Niviaq Kornenliussen erzählt mit großer literarischer Kraft, aber auch frischem Humor von der Suche nach Identität, der kulturellen Verwurzelung und dem inneren Halt im Leben.
Wie lässt sich damit umgehen, wenn die Lebensfreude plötzlich gedämpft wird und die Sorge überhandnimmt? Eine junge Grönländerin hat noch ihr ganzes Leben vor sich und hadert dennoch mit vielem: Sie hat eine Freundin, die sie liebt. Ihre Familie ist fürsorglich – vielleicht zu sehr. Sie wird demnächst Grönland verlassen, um in Dänemark zu studieren. Und doch fühlt sie sich fehl am Platz: zu dick und nicht gewürdigt in ihrer Kultur, die so viele Demütigungen erlitten hat. Und dann sieht sie täglich die gebrochenen Herzen auf Facebook, die für die vielen jungen Selbstmörder*innen in Grönland stehen. Was bedeutet das für den eigenen Blick auf das Leben? Niviaq Kornenliussen erzählt mit großer literarischer Kraft, aber auch frischem Humor von der Suche nach Identität, der kulturellen Verwurzelung und dem inneren Halt im Leben.
»Stark und berührend erzählt (...), Niviaq Korneliussen trifft den Ton ihrer Generation und der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit.« Sophie Wennerscheid, Süddeutsche Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Matthias Hannemann warnt sensible oder gar labile Leser eindringlich vor der Lektüre dieses Buches. Das ist aber auch der einzige Einwand, den der Kritiker erhebt, denn ansonsten handelt es sich bei diesem Roman von Niviaq Korneliussen, der ersten Grönländerin, die den Literaturpreis des nordischen Rates erhielt, um ein wichtiges Buch, findet er. Grönland hat die höchste Suizidrate der Welt, gegen die Gleichgültigkeit der Gesellschaft organisierte die junge Autorin vor vielen Jahren Demonstrationen, weiß der Rezensent. Nun hat sie diesen "Wutschrei" von einem Roman veröffentlicht, der von einer einsamen jungen Frau erzählt, die aus der eisigen Ödnis Grönlands in eine ferne Universitätsstadt zieht, jedoch ihre Unsicherheit, die Fremdheit auch dem eigenen Körper gegenüber und das Gefühl des Ausgegrenzt-Seins mitnimmt, resümiert Hannemann. Eine lesbische Fernbeziehung und der Suizid einer Cousine tragen dazu bei, dass sich die junge Frau nach Jahren der Depression schließlich das Leben nimmt. Dem Rezensenten geht der Roman merklich nahe, auch weil Korneliussen in kurzen Einschüben an anonyme Suizid-Schicksale erinnert. Für Hannemann ein mitreißender, mitunter "derber" Roman, der von Franziska Hüther souverän ins Deutsche übersetzt wurde, dem aber die Telefonnummer der Suizidhilfe am Ende gut angestanden hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2024Doch, die zornige Autorin meint es genau so
Wenn das Umblättern schmerzt: Der dichte Suizid-Roman der Grönländerin Niviaq Korneliussen provoziert auch auf Deutsch.
Selbstmordgeschichten sind heikel. Schon immer gewesen, lautet der gängige Zusatz. Aber es hat einen Grund, dass Zeitungen selten von Suiziden berichten und dass sie oft einen Hinweis auf Hilfsangebote unter diesen seltenen Artikeln verwenden. Das Risiko eines "Werther-Effekts" ist groß. Nur unter bestimmten Bedingungen greift der gegenteilige "Papageno-Effekt". In solchen Geschichten überlebt der Lebensmüde dank Hilfe von außen, wie es zum Beispiel bei den Freunden in der heftig umstrittenen Fernsehserie "Tote Mädchen lügen nicht" (aber eben nicht bei der Hauptfigur in Staffel eins, die den Wirbel auslöste) der Fall gewesen ist.
Die Erzählerin in Niviaq Korneliussens Roman "Das Tal der Blumen", dem ersten grönländischen Buch, das den Literaturpreis des nordischen Rates zugesprochen bekam, überlebt ihre Depression nicht. Ihr letzter Absatz beginnt mit den Worten "Ich will nicht mehr", und wenn man sich fragt, ob es Hilfe gegeben hätte, lautet die Antwort: Ja, auch das wird erwähnt. "Du brauchst Hilfe. Professionelle Hilfe", hatte man der jungen Frau noch gerade gesagt. Aber das System erreichte sie nicht. Das ist die politische Botschaft des Buches.
Die Lebenswelt der Ich-Erzählerin lässt sich auf den ersten Blick nicht mit Europa vergleichen. Maximale Abgeschiedenheit, Ödnis und Eis. Polarnacht und Mitternachtssonne, Helikopterflüge über Riesendistanzen. Aber Grönland kann überall sein. Diese Geschichte einer jungen Erwachsenen, die aus guten Verhältnissen kommt und sich kurz vor dem Umzug in eine ferne Universitätsstadt verliebt, könnte auch in Deutschland spielen. Die Einsamkeit, die die junge Frau empfindet, gibt es auch hier, die Unsicherheit auf der Suche nach einer eigenen Identität, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, das Gefühl des Andersseins, des so erlebten oder tatsächlich so praktizierten Ausgegrenzt-Seins.
Der Unterschied besteht in der Regelmäßigkeit, mit der Grönländer vom unzeitigen Tod eines Bekannten erfahren. Die kleine Nation hat die höchste Suizidquote der Welt, und das führt im Roman dazu, dass der Erzählfluss immer wieder von frei stehenden Zeilen gebrochen wird. Sie sind rückläufig durchnummeriert, erwähnen einen Namenlosen nach dem anderen ("Frau, 38 Jahre. Erhängen", "Mann, 19 Jahre. Schusswaffe"), wechseln ihre Form nach einer Weile zum Du ("Deine Großmutter fand Dich") und schließlich zum Ich: "Ich bin bereit." Ein Countdown. Wenn man das als Leser begreift, setzt das Herz ganz kurz aus.
Die Geschichte zwischen den Nummern handelt von einer lesbischen Liebe in Nuuk und der Fernbeziehung, die für die Erzählerin nach ihrem Studienbeginn in Dänemark zur alles lähmenden Herausforderung wird. Sie leidet unter der Distanz von ihrer Freundin Maliina, erlebt Rassismus und versteht die kulturellen Alltagscodes nicht. Das Handy, dessen Bedeutung die Autorin durch detaillierte Beschreibungen von Fingerbewegungen und Suchanfragen hervorhebt, ist der einzige Trost, macht die Lage unserer Antiheldin aber nicht unbedingt besser.
Immer stärker drängt sich das Thema Selbstmord in ihre Gedanken. Handelt es sich anfangs nur um beiläufige Erwähnungen und Erinnerungen daran, wie sie als Zehnjährige aus dem Fenster sprang, "um zu wissen, wie sich freier Fall anfühlt", oder nach dem Tod ihrer Großmutter panisch die Selbstmord-Hotline anrief, dreht sich die Story später enger um den Suizid einer Cousine von Maliina. Eine fatale Entwicklung setzt ein.
Die Erzählerin nimmt das Ereignis zum Anlass, Hals über Kopf zu ihrer Freundin zu reisen, die zu diesem Zeitpunkt bei ihrer Familie in Ostgrönland weilt. Sie sucht nach Gründen für den Suizid der Toten und besucht einen Arzt, der emotionslos erklärt, dass man der Cousine natürlich Hilfe angeboten hätte - aber die Wartezeiten seien halt lang. Sie beschreibt die gesellschaftlichen Reaktionen bis in die Kommentare auf Facebook und gewöhnt sich auf einem Friedhof voller Plastikblumen an den Gedanken, dass diese Todesform auf Grönland womöglich normal ist. Dann muss sie nach Aarhus zurück.
Gar keine Frage: ein starker Roman, geschrieben mit flotter Feder und in einer derben Sprache, die auch in der Übersetzung von Franziska Hüther jugendlich klingt. Und ja, Korneliussen erzählt auch von Liebe und Freundschaft und davon, "wie es sich anfühlt, Teil einer postkolonialen Gesellschaft zu sein". Das sind die Worte der Preisjury, die der deutsche Verlag auf den Buchdeckel gedruckt hat. Das Werk strahle "viel Wärme, Zärtlichkeit und eine große Sehnsucht nach Leben aus".
Aber was stellt so ein Buch mit sensiblen Lesern an, die psychisch labil sind oder bereits mit Suizidgedanken kämpfen? Spätestens als die Erzählerin ihr Testament schreibt und über verschiedene Wege zur Umsetzung nachdenkt, möchte man als Leser nur noch schreien, weil jedes Umblättern schmerzt.
Am Ende versucht man sich mit dem Gedanken zu trösten, dass die Erzählerin doch irgendwie überlebt haben könnte. Besteht die Möglichkeit, dass man den kunstfertigen Schluss nicht richtig verstand? Also noch einmal nach vorn zum Prolog, der von einem Raben und Todesgedanken auf einem Friedhof erzählte. Dann wieder zum Schluss, der auf die Szene Bezug nimmt. Aber nein. Die junge Autorin, die vor einigen Jahren Demonstrationen gegen das Schulterzucken der grönländischen Gesellschaft beim Thema Suizid organisierte, will es genau so. Um mit diesem Wutschrei von Buch etwas zu ändern. Die Nummer für den Hilfehinweis, der sich auf der letzten Seite des Romans gut gemacht hätte, lautet 0800-1110111. MATTHIAS HANNEMANN
Niviaq Korneliussen: "Das Tal der Blumen". Roman.
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther. Btb, München 2023. 288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn das Umblättern schmerzt: Der dichte Suizid-Roman der Grönländerin Niviaq Korneliussen provoziert auch auf Deutsch.
Selbstmordgeschichten sind heikel. Schon immer gewesen, lautet der gängige Zusatz. Aber es hat einen Grund, dass Zeitungen selten von Suiziden berichten und dass sie oft einen Hinweis auf Hilfsangebote unter diesen seltenen Artikeln verwenden. Das Risiko eines "Werther-Effekts" ist groß. Nur unter bestimmten Bedingungen greift der gegenteilige "Papageno-Effekt". In solchen Geschichten überlebt der Lebensmüde dank Hilfe von außen, wie es zum Beispiel bei den Freunden in der heftig umstrittenen Fernsehserie "Tote Mädchen lügen nicht" (aber eben nicht bei der Hauptfigur in Staffel eins, die den Wirbel auslöste) der Fall gewesen ist.
Die Erzählerin in Niviaq Korneliussens Roman "Das Tal der Blumen", dem ersten grönländischen Buch, das den Literaturpreis des nordischen Rates zugesprochen bekam, überlebt ihre Depression nicht. Ihr letzter Absatz beginnt mit den Worten "Ich will nicht mehr", und wenn man sich fragt, ob es Hilfe gegeben hätte, lautet die Antwort: Ja, auch das wird erwähnt. "Du brauchst Hilfe. Professionelle Hilfe", hatte man der jungen Frau noch gerade gesagt. Aber das System erreichte sie nicht. Das ist die politische Botschaft des Buches.
Die Lebenswelt der Ich-Erzählerin lässt sich auf den ersten Blick nicht mit Europa vergleichen. Maximale Abgeschiedenheit, Ödnis und Eis. Polarnacht und Mitternachtssonne, Helikopterflüge über Riesendistanzen. Aber Grönland kann überall sein. Diese Geschichte einer jungen Erwachsenen, die aus guten Verhältnissen kommt und sich kurz vor dem Umzug in eine ferne Universitätsstadt verliebt, könnte auch in Deutschland spielen. Die Einsamkeit, die die junge Frau empfindet, gibt es auch hier, die Unsicherheit auf der Suche nach einer eigenen Identität, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, das Gefühl des Andersseins, des so erlebten oder tatsächlich so praktizierten Ausgegrenzt-Seins.
Der Unterschied besteht in der Regelmäßigkeit, mit der Grönländer vom unzeitigen Tod eines Bekannten erfahren. Die kleine Nation hat die höchste Suizidquote der Welt, und das führt im Roman dazu, dass der Erzählfluss immer wieder von frei stehenden Zeilen gebrochen wird. Sie sind rückläufig durchnummeriert, erwähnen einen Namenlosen nach dem anderen ("Frau, 38 Jahre. Erhängen", "Mann, 19 Jahre. Schusswaffe"), wechseln ihre Form nach einer Weile zum Du ("Deine Großmutter fand Dich") und schließlich zum Ich: "Ich bin bereit." Ein Countdown. Wenn man das als Leser begreift, setzt das Herz ganz kurz aus.
Die Geschichte zwischen den Nummern handelt von einer lesbischen Liebe in Nuuk und der Fernbeziehung, die für die Erzählerin nach ihrem Studienbeginn in Dänemark zur alles lähmenden Herausforderung wird. Sie leidet unter der Distanz von ihrer Freundin Maliina, erlebt Rassismus und versteht die kulturellen Alltagscodes nicht. Das Handy, dessen Bedeutung die Autorin durch detaillierte Beschreibungen von Fingerbewegungen und Suchanfragen hervorhebt, ist der einzige Trost, macht die Lage unserer Antiheldin aber nicht unbedingt besser.
Immer stärker drängt sich das Thema Selbstmord in ihre Gedanken. Handelt es sich anfangs nur um beiläufige Erwähnungen und Erinnerungen daran, wie sie als Zehnjährige aus dem Fenster sprang, "um zu wissen, wie sich freier Fall anfühlt", oder nach dem Tod ihrer Großmutter panisch die Selbstmord-Hotline anrief, dreht sich die Story später enger um den Suizid einer Cousine von Maliina. Eine fatale Entwicklung setzt ein.
Die Erzählerin nimmt das Ereignis zum Anlass, Hals über Kopf zu ihrer Freundin zu reisen, die zu diesem Zeitpunkt bei ihrer Familie in Ostgrönland weilt. Sie sucht nach Gründen für den Suizid der Toten und besucht einen Arzt, der emotionslos erklärt, dass man der Cousine natürlich Hilfe angeboten hätte - aber die Wartezeiten seien halt lang. Sie beschreibt die gesellschaftlichen Reaktionen bis in die Kommentare auf Facebook und gewöhnt sich auf einem Friedhof voller Plastikblumen an den Gedanken, dass diese Todesform auf Grönland womöglich normal ist. Dann muss sie nach Aarhus zurück.
Gar keine Frage: ein starker Roman, geschrieben mit flotter Feder und in einer derben Sprache, die auch in der Übersetzung von Franziska Hüther jugendlich klingt. Und ja, Korneliussen erzählt auch von Liebe und Freundschaft und davon, "wie es sich anfühlt, Teil einer postkolonialen Gesellschaft zu sein". Das sind die Worte der Preisjury, die der deutsche Verlag auf den Buchdeckel gedruckt hat. Das Werk strahle "viel Wärme, Zärtlichkeit und eine große Sehnsucht nach Leben aus".
Aber was stellt so ein Buch mit sensiblen Lesern an, die psychisch labil sind oder bereits mit Suizidgedanken kämpfen? Spätestens als die Erzählerin ihr Testament schreibt und über verschiedene Wege zur Umsetzung nachdenkt, möchte man als Leser nur noch schreien, weil jedes Umblättern schmerzt.
Am Ende versucht man sich mit dem Gedanken zu trösten, dass die Erzählerin doch irgendwie überlebt haben könnte. Besteht die Möglichkeit, dass man den kunstfertigen Schluss nicht richtig verstand? Also noch einmal nach vorn zum Prolog, der von einem Raben und Todesgedanken auf einem Friedhof erzählte. Dann wieder zum Schluss, der auf die Szene Bezug nimmt. Aber nein. Die junge Autorin, die vor einigen Jahren Demonstrationen gegen das Schulterzucken der grönländischen Gesellschaft beim Thema Suizid organisierte, will es genau so. Um mit diesem Wutschrei von Buch etwas zu ändern. Die Nummer für den Hilfehinweis, der sich auf der letzten Seite des Romans gut gemacht hätte, lautet 0800-1110111. MATTHIAS HANNEMANN
Niviaq Korneliussen: "Das Tal der Blumen". Roman.
Aus dem Dänischen von Franziska Hüther. Btb, München 2023. 288 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main