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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Mediziner Martin Bleif will in seinem Buch „Das Tier in uns“ beweisen, dass uns Menschlichkeit in den Genen liegt und scheitert grandios
Martin Bleif, Literatur- und Sprachwissenschaftler, heute vor allem aber Mediziner mit der Spezialisierung Radiochirurgie und Hochpräzisionsstrahlentherapie, hat sich eine undankbare Aufgabe vorgenommen. Er will die biologischen Grundlagen nicht etwa nur der Menschheit (was eine geschenkte Übung wäre), sondern der Menschlichkeit ausloten und erklären. Das verwickelt ihn in einen Zweifrontenkrieg mit den Biologisten einerseits, die den Menschen völlig auf seine organisch-evolutionären Voraussetzungen (oder was sie dafür halten) reduzieren wollen, und andererseits den Cartesianern aller Couleur, die von einer prinzipiellen Scheidung zwischen Geist und Materie ausgehen.
Das 600-seitige Werk ist also auf den dialektischen Ton des Zwar-Aber gestimmt, der es mit seinen teils recht verwickelten Darlegungen nicht leicht haben dürfte, sich in der polarisierten Debatte vernehmbar zu machen. Hinzu kommt, dass ein solches Vorhaben schlechterdings nicht durch Originalität glänzen kann, sondern vor allem den gesunden Menschenverstand zu munitionieren hat – denn von den lautstarken Rändern abgesehen, dürfte im Großen und Ganzen doch einigermaßen ein Konsens darüber bestehen, was es mit diesem besonderen Wesen, diesem Engelsaffen, der wir sind, im Großen und Ganzen auf sich hat. Als die zwei Gebote im Umgang mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft gibt der Autor vor: Du sollst, erstens, mich nicht ignorieren. Und Du sollst, zweitens, mich nicht überstrapazieren. Das ist bestimmt richtig. Aber wie bei allen goldenen Mittelwegen steht dem großen praktischen Nutzen eine gewisse theoretische Fadheit gegenüber.
Als leitende Metapher für den Aufbau des wissenschaftlichen Welt- und Menschenbilds wählt der Autor das mehrgeschossige Haus; jedes Stockwerk setzt das tieferliegende als seine Grundlage voraus, befindet sich aber auf einer anderen, höheren Ebene, für die neue Regeln gelten. So sucht er die Einheitlichkeit des wissenschaftlichen Weltentwurfs jenseits der Differenz von Methoden und Modellen zu gewährleisten. Was Bleif dabei verschweigt: dass es zwischen den Stockwerken keine Treppe gibt. Auf jeder Ebene kommt es zu neuen, komplexen Erscheinungen, die aus dem Bisherigen nicht zu erwarten standen. Bleif und die Wissenschaft sprechen in diesem Fall gern von „Emergenz“, was „Auftauchen“ bedeutet, ein Wort, das so viel erhellenden Wert hat wie ein lang gezogenes „Ah!“. Insbesondere an den zwei entscheidenden Stockwerks-Sprüngen: bei der Entstehung des Lebens und der Existenz des Bewusstseins, diesen beiden nicht reduzierbaren Phänomenen, die plötzlich und ganz hervortreten – plagt der Autor sich mit absehbar vergeblicher Mühe und begeht dabei kategoriale Fehler in Serie.
Zwar weiß er schon, dass von „Leben“ erst bei der Zelle gesprochen werden kann, während noch so lange organische Moleküle, die durch Stromstöße in der Retorte oder sonst wie erzeugt worden sind, eindeutig auf der Seite des Toten verharren. Doch er ist blind dafür, dass derartige Gebilde schlechterdings nicht der Selektion unterworfen sein können, weil es hier kein Ganzes gibt, das sich selbst bewahrt, indem es Energie erzeugt und verbraucht, um den Umkreis seiner Gestalt zu erhalten. Große Moleküle sind fragil; und falls die Aminosäurenkette wieder auseinanderbricht, wird sie sich mit keinerlei aktiver Anstrengung dagegen wehren. Die Lebewesen müssten, um auf evolutivem Weg zu werden, was sie sind, es schon sein, denn nur an ihnen könnte Evolution sich vollziehen. Ihre absolute Ausgrenzung bei innigstem stoffwechselndem Kontakt mit der Welt stellt nicht nur, wie Bleif immer wieder andeutet, ein „noch nicht“ gelöstes Rätsel dar, dem man demnächst schon auf die Schliche kommen wird - sondern ein metaphysisches Wunder, zu dem die Naturwissenschaft sämtliche Ausführungsbestimmungen zu erforschen vermag, ohne es doch je zu ergründen.
Bloß am Rand seien hier Bleifs Ausführungen zur Evolution selbst erwähnt, da er nur wiederholt, was man schon in diversen ähnlich gestrickten Büchern (es gibt wirklich viele davon!) genau so gelesen hat: Nach dem hochheiligen Schwur, nichts zuzulassen, was auch nur im entferntesten an eine Zweckhaftigkeit der Entwicklung erinnern könnte, braucht er nicht mehr als ein paar Zeilen, um bei einem Satz mit „damit“ oder „um zu“ zu landen, also bei der verpönten Teleologie. Das sieht nach bloßer Schlamperei und abkürzend uneigentlichem Ausdruck aus; geschieht aber mit so unausweichlicher Regelmäßigkeit, dass man darin den tief sitzenden Konstruktionsfehler der Theorie erkennen muss.
Auch beim Bewusstsein bewegt sich Bleif im Rahmen des wohlgebahnten Irrtums. „So bleibt am Ende die Frage: Wozu brauchen wir ein Bewusstsein?“ Er merkt nicht, was er da anrichtet. Wer denn wären „wir“, wenn nicht unser Bewusstsein? Das eben unterscheidet animalische Wesen von den geheimnisvollen Pflanzen: dass ihr Dasein in der Welt und die Richtung, die es nimmt, sich in Lust und Schmerz vollzieht, die gar nicht anders als bewusst sein können, denn was um Himmelswillen wäre ein unbewusster Schmerz? Bleif behandelt das Bewusstsein als die Funktion eines gedankenlos vorausgesetzten Anderen – eines Anderen, das noch weit mysteriöser wäre als das bewusste Ich, das, so eigenartig es sich darbietet, doch jeder und jede sehr intim erfährt.
Indem er das Bewusstsein unter Verkennung der elementarsten Tatsachen eben als das, eine Funktion, bestimmen will, als eine Art Milz im Bauch des Gehirns, kommt Bleif bei den abstrusesten Spekulationen heraus: „Das Bewusstsein könnte dazu dienen...“, und es folgt irgendwas von Vorsortierung und Kräftigung des Kurzzeitgedächtnisses. Es wäre verkehrt, Bleif aus all dem einen persönlichen Vorwurf zu machen. Es ist bloß so typisch, und weil Bleif alle Bereiche der Wissenschaft vom Leben berührt, fällt das Muster dieser Zwangshandlungen so stark ins Auge. Was etwa das Bewusstsein angeht, befindet er sich in bester Gesellschaft. Der Doyen der Hirnforschung, Antonio Damasio, hat erst vor kurzem ein Buch zum Thema verfasst, dass genau die gleichen Fehlgriffe begeht. Und diese Fehlleistungen erfolgen ja auch keineswegs zufällig: Sie stellen sich immer dort ein, wo die Naturwissenschaft damit konfrontiert wird, dass ihre Forderung, die Welt hätte, trotz aller Etagenschichtung, gefälligst eine einzige zu sein und alle Komplexität müsste sich letztlich auf atomistisch-genealogischem Weg aufdröseln lassen (das Bewusstsein als neuronales Geflacker, das Lebendige als Komplikation des Toten) – auf unnachgiebigen Widerstand stößt. Die nicht-analysierbare, die primäre Synthese, wie sie sich einerseits als Leben, andererseits als Bewusstsein unabweisbar geltend machen: sie treibt Wissenschaft und Wissenschaftler in den Wahnsinn. Man sollte solche Fehlleistungen nicht als als Dummheit oder Unredlichkeit geißeln, obwohl sie diesen Defekten verteufelt ähnlich sehen. Eher verhält es sich so, wie Freud und Breuer es bei ihren Hypnose-Experimenten festgestellt haben: In der Hypnose ergeht ein unsinniger Auftrag, etwa ein Tablett statt auf den Händen auf dem Kopf hereinzutragen. Die hypnotisierte Person tut hinterher genau dies; und nach den Gründen befragt, liefert sie spontan eine scheinbar rationale Begründung, welche sie, obwohl in fremdem Auftrag tätig, auf eigene Rechnung improvisiert. Hier ist etwas, von dem sie sich nicht Rechenschaft geben kann, stärker als sie selbst; und gerade ihre Intelligenz erweist sich in ihren posthypnotischen Produktionen als Knecht des Undurchschauten. - Aber eine Wissenschaft, die nicht über sich selbst und ihre Bedingungen nachzudenken vermag, ist keine Wissenschaft.
Ob das Buch seinen Zweck erreichen wird, der Biologie ihr Recht zu geben und zugleich dem Biologismus den Weg zu vertreten? Wer sich durch Bücher dieses Umfangs kämpft, pflegt von vornherein schon keiner der Verbohrten zu sein, die Bleif widerlegen will. Die dürfte schon die bloße Form abschrecken. Als Diskurs aber überzeugt das Buch nicht. Am Ende der Einleitung äußert Bleif seine Hoffnung, sein Werk könne wirken „wie eine Impfung gegen Populismus“. Ob es gerade die Populisten sind, die sich impfen lassen wollen?
BURKHARD MÜLLER
Eine Wissenschaft, die nicht über
ihre Bedingungen nachzudenken
vermag, ist keine Wissenschaft
Martin Bleif: Das Tier in uns. Die biologischen Wurzeln der Menschlichkeit. Klett-Cotta, Stuttgart 2021. 623 Seiten, 32 Euro.
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