Vier junge Männer finden scheinbar zufällig während ihres Militärdienstes bei der Jugoslawischen Volksarmee zueinander. Ihr Anführer Dimitrije Donkić gibt allen Tiernamen und nennt seine Gruppe das "Tierreich". Was anfänglich harmlos aussieht, ändert sich, als Miša dazu stößt: Er war maßgeblich an den Studentenunruhen in Belgrad 1968 beteiligt, aber das weiß nur der Tiger. In Aufzeichnungen, die dieser hinterlässt, um einen Mord zu ergründen, treibt ihn die Frage um, ob und von wem Miša enttarnt wurde. Seine eigene Rolle in dem tödlichen Spiel wird dem Tiger zunehmend unklar, und bald verliert er als Autor der Geschichte jegliche Gewissheit. Der Protest der Studenten scheint manipuliert und der Sieg der Mächtigen unaufhaltsam zu sein: "Alles bestätigte endgültig, dass die Zukunft nicht mehr das war, was sie früher war, und dass selbst die Vergangenheit nicht ganz sicher vor Veränderungen sein konnte." In der Tradition abgründig kommentierter Texte von Nabokovs "Fahlem Feuer" bis Ecos "Der Name der Rose" erzählt David Albahari vom verführerischen Sog des Bösen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.02.2017Inseln der Finsternis
David Albaharis
neuer Roman „Das Tierreich“
Ach herrje, wieder einmal die Geschichte vom unverhofft aufgetauchten Manuskript. Am Belgrader Flughafen soll es im Jahr 2005 gefunden worden sein, in einem blauen Ordner, der mit Figuren aus Walt Disneys Zeichentrickfilmen beklebt war. Aber es beginnt nicht sehr lustig, eher wie ein Krimi: „Seit gestern ist die Welt ein besserer Ort. In ihr gibt es nämlich Dimitrije Donkić nicht mehr. Ich habe ihn getötet.“ Wer hinter dem namenlosen Ich steckt, das diese Geschichte samt Prolog und Epilog verfasst hat, ist unklar. Ob es eine oder mehrere Personen waren, weiß der Verleger nicht, der es bearbeitet und dabei sein besonderes Augenmerk auf die langen Endnoten gerichtet hat, mit denen es versehen ist, Zusatzgeschichten, Kommentare, Reflexionen, die das Ganze nicht eben durchsichtiger machen.
Aber nein, dieser schmale Roman gehört nicht zu den Büchern, die ihre Verwirrspiele inszenieren, um am Ende ihren Lesern das befriedigende Gefühl zu verschaffen, ein schwieriges Kreuzworträtsel gelöst zu haben. Denn „Das Tierreich“ stammt von dem serbischen Autor David Albahari, der 1994, im Jahrzehnt der Balkankriege, seine Heimat verlassen hat und seitdem in Kanada lebt, aber immer wieder nach Belgrad, in seinen Ortsteil Zemun zurückgekehrt ist.
In diesem Autor verbinden sich zwei Energieströme. Der eine entspringt dem Misstrauen, das die moderne Literatur gegen alle stabilen, scheinbar realistischen Erzählformen entwickelt hat, der einfachen Frage: Wie verhalten sich die Geschichten, die ein Buch erzählt, zu den Geschichten, die es enthält, ohne sie zu erzählen? Der andere Energiestrom in Albaharis Büchern entstammt der Geschichte seiner Herkunftswelt. Einmal erhält ein Erzähler einen „Historischen Atlas von Mittel- und Osteuropa“ zum Geschenk. Der Atlas entpuppt sich als „Gruselbuch“.
In Romanen wie „Mutterland“ (2002), „Götz und Meyer“ (2003) oder „Die Ohrfeige“ (2007) hat Albahari von diesem Atlas erzählt, die Lastwagen verfolgt, in denen nach der deutschen Besetzung 1941 die Juden Serbiens vernichtet wurden, die Lebenswege der Mutter durch das zweimal zerfallende Jugoslawien, das Fortleben des Antisemitismus während der Balkankriege am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Nun, in „Das Tierreich“, stellt Albahari eine Episode ins Zentrum, die seit langem durch seine Romane geistert, die Studentenbewegung im Belgrad des Jahres 1968, auf deren Zusammenbruch im Jugoslawien Titos eine Phase der harten Repression folgte. Wie die Zeichentrickfilme Walt Disneys ist dieser Roman ein Slapstick mit Tieren, allerdings ein sehr böser und unheimlicher, der Jahrzehnte später auf die Rebellion und die gewaltgetränkte Tristesse zurückblickt, die ihr folgt.
Fünf junge Männer in einer Kaserne in Banja Luka in der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina werden wegen ihrer Spitznamen „Das Tierreich“ genannt. Dimitrije der Waschbär, Miša der Spatz, Redžep die Schlange, Goran die Zecke und der Erzähler der Tiger. Es scheint, als werde hier die Geschichte der späten Rache an einem brutalen Sadisten erzählt, der nach 1968 mit den Geheimdiensten und siegreichen Fraktionen innerhalb der kommunistischen Partei unter einer Decke steckte, Aktivisten der Studentenrebellion enttarnte, quälte und liquidierte.
Aber so wenig wie Albaharis andere Bücher ist „Das Tierreich“ ein Stück Geschichtsschreibung in Romanform. Es gibt keine ideologischen Debatten, keine Flügelkämpfe und politischen Intrigen, nur die Frage, was die Geschichte mit den Menschen macht, welche Taten und Eigenschaften sie aus ihnen hervorholt. Im „Tierreich“ gibt es obszöne Scherze, gewaltgetränkte Rituale und eine allgegenwärtige Verachtung der Homosexuellen, der die Fäuste sehr locker sitzen. Frauen gibt es nur am Rande.
Eine Sicherheit, was wem zuzutrauen ist, gibt es nicht. „Der Tiger wird immer der Tiger sein, und der Waschbär bleibt bis zu seinem Lebensende ein Waschbär. Nur in fiktiven Tierreichen wie dem unsren ist es wider die Logik möglich, dass man den Waschbären zum gefährlichsten Tier erklärt und den Tiger auf eine Statistenrolle reduziert, und zwar auf eine, in der er es liebt, Moralpredigten zu halten.“ Albaharis kristalline Prosa, die seine Übersetzer Mirjana und Klaus Wittmann auch hier in ein glänzendes Deutsch brachten, funkelt vor Zweideutigkeit. Nie kommt das Misstrauen, mit dem er seine Figuren betrachtet, zur Ruhe, stets rechnet er damit, dass der Tiger, der als Freund und Rächer der Opfer auftritt, sich als Komplize der Täter und der Macht entpuppt.
Das Ausmaß der Repression, von der hier berichtet wird, ist unüberschaubar. „Einige sprechen von Hunderten Toten, wobei sie an die zahlreichen unaufgeklärten Morde und verschwundenen Personen in Jugoslawien, Europa und Australien denken.“ Und auch nach dem Zusammenbruch des politischen Systems blieben „Inseln der Finsternis“, des Unerzählten. Umso dringlicher wird die Frage, die diesen Roman von Beginn an umtreibt: Wer ist es, der hier erzählt?
Der Erzähler ist ein eifriger Bibliotheksgänger, der Thomas Wolfe und Thomas Bernhard schätzt. Er heißt Tiger, weil er gern William Blakes Tiger-Gedicht rezitiert. Natürlich kennt er auch Julio Cortázars Erzählung „Axolotl“, von der unklar ist, wer sie erzählt. Eine der Figuren des „Tierreichs“ hat während der Studentenunruhen das Wort „Axolotl“ zur Parole gemacht. Sie überlebt diese Geschichte nicht. Aber der Axolotl überlebt in dem Satz, mit dem „Das Tierreich“ frühzeitig das Misstrauen gegen seinen Erzähler nährt: „sie sind alle tot, alle außer mir, dem Tiger.“
LOTHAR MÜLLER
David Albahari: Das Tierreich. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Nur in fiktiven Tierreichen
wie dem unsren ist es
wider die Logik möglich, dass
man den Waschbären zum
gefährlichsten Tier erklärt
und den Tiger auf
eine Statistenrolle reduziert“
DAVID ALBAHARI
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
David Albaharis
neuer Roman „Das Tierreich“
Ach herrje, wieder einmal die Geschichte vom unverhofft aufgetauchten Manuskript. Am Belgrader Flughafen soll es im Jahr 2005 gefunden worden sein, in einem blauen Ordner, der mit Figuren aus Walt Disneys Zeichentrickfilmen beklebt war. Aber es beginnt nicht sehr lustig, eher wie ein Krimi: „Seit gestern ist die Welt ein besserer Ort. In ihr gibt es nämlich Dimitrije Donkić nicht mehr. Ich habe ihn getötet.“ Wer hinter dem namenlosen Ich steckt, das diese Geschichte samt Prolog und Epilog verfasst hat, ist unklar. Ob es eine oder mehrere Personen waren, weiß der Verleger nicht, der es bearbeitet und dabei sein besonderes Augenmerk auf die langen Endnoten gerichtet hat, mit denen es versehen ist, Zusatzgeschichten, Kommentare, Reflexionen, die das Ganze nicht eben durchsichtiger machen.
Aber nein, dieser schmale Roman gehört nicht zu den Büchern, die ihre Verwirrspiele inszenieren, um am Ende ihren Lesern das befriedigende Gefühl zu verschaffen, ein schwieriges Kreuzworträtsel gelöst zu haben. Denn „Das Tierreich“ stammt von dem serbischen Autor David Albahari, der 1994, im Jahrzehnt der Balkankriege, seine Heimat verlassen hat und seitdem in Kanada lebt, aber immer wieder nach Belgrad, in seinen Ortsteil Zemun zurückgekehrt ist.
In diesem Autor verbinden sich zwei Energieströme. Der eine entspringt dem Misstrauen, das die moderne Literatur gegen alle stabilen, scheinbar realistischen Erzählformen entwickelt hat, der einfachen Frage: Wie verhalten sich die Geschichten, die ein Buch erzählt, zu den Geschichten, die es enthält, ohne sie zu erzählen? Der andere Energiestrom in Albaharis Büchern entstammt der Geschichte seiner Herkunftswelt. Einmal erhält ein Erzähler einen „Historischen Atlas von Mittel- und Osteuropa“ zum Geschenk. Der Atlas entpuppt sich als „Gruselbuch“.
In Romanen wie „Mutterland“ (2002), „Götz und Meyer“ (2003) oder „Die Ohrfeige“ (2007) hat Albahari von diesem Atlas erzählt, die Lastwagen verfolgt, in denen nach der deutschen Besetzung 1941 die Juden Serbiens vernichtet wurden, die Lebenswege der Mutter durch das zweimal zerfallende Jugoslawien, das Fortleben des Antisemitismus während der Balkankriege am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Nun, in „Das Tierreich“, stellt Albahari eine Episode ins Zentrum, die seit langem durch seine Romane geistert, die Studentenbewegung im Belgrad des Jahres 1968, auf deren Zusammenbruch im Jugoslawien Titos eine Phase der harten Repression folgte. Wie die Zeichentrickfilme Walt Disneys ist dieser Roman ein Slapstick mit Tieren, allerdings ein sehr böser und unheimlicher, der Jahrzehnte später auf die Rebellion und die gewaltgetränkte Tristesse zurückblickt, die ihr folgt.
Fünf junge Männer in einer Kaserne in Banja Luka in der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina werden wegen ihrer Spitznamen „Das Tierreich“ genannt. Dimitrije der Waschbär, Miša der Spatz, Redžep die Schlange, Goran die Zecke und der Erzähler der Tiger. Es scheint, als werde hier die Geschichte der späten Rache an einem brutalen Sadisten erzählt, der nach 1968 mit den Geheimdiensten und siegreichen Fraktionen innerhalb der kommunistischen Partei unter einer Decke steckte, Aktivisten der Studentenrebellion enttarnte, quälte und liquidierte.
Aber so wenig wie Albaharis andere Bücher ist „Das Tierreich“ ein Stück Geschichtsschreibung in Romanform. Es gibt keine ideologischen Debatten, keine Flügelkämpfe und politischen Intrigen, nur die Frage, was die Geschichte mit den Menschen macht, welche Taten und Eigenschaften sie aus ihnen hervorholt. Im „Tierreich“ gibt es obszöne Scherze, gewaltgetränkte Rituale und eine allgegenwärtige Verachtung der Homosexuellen, der die Fäuste sehr locker sitzen. Frauen gibt es nur am Rande.
Eine Sicherheit, was wem zuzutrauen ist, gibt es nicht. „Der Tiger wird immer der Tiger sein, und der Waschbär bleibt bis zu seinem Lebensende ein Waschbär. Nur in fiktiven Tierreichen wie dem unsren ist es wider die Logik möglich, dass man den Waschbären zum gefährlichsten Tier erklärt und den Tiger auf eine Statistenrolle reduziert, und zwar auf eine, in der er es liebt, Moralpredigten zu halten.“ Albaharis kristalline Prosa, die seine Übersetzer Mirjana und Klaus Wittmann auch hier in ein glänzendes Deutsch brachten, funkelt vor Zweideutigkeit. Nie kommt das Misstrauen, mit dem er seine Figuren betrachtet, zur Ruhe, stets rechnet er damit, dass der Tiger, der als Freund und Rächer der Opfer auftritt, sich als Komplize der Täter und der Macht entpuppt.
Das Ausmaß der Repression, von der hier berichtet wird, ist unüberschaubar. „Einige sprechen von Hunderten Toten, wobei sie an die zahlreichen unaufgeklärten Morde und verschwundenen Personen in Jugoslawien, Europa und Australien denken.“ Und auch nach dem Zusammenbruch des politischen Systems blieben „Inseln der Finsternis“, des Unerzählten. Umso dringlicher wird die Frage, die diesen Roman von Beginn an umtreibt: Wer ist es, der hier erzählt?
Der Erzähler ist ein eifriger Bibliotheksgänger, der Thomas Wolfe und Thomas Bernhard schätzt. Er heißt Tiger, weil er gern William Blakes Tiger-Gedicht rezitiert. Natürlich kennt er auch Julio Cortázars Erzählung „Axolotl“, von der unklar ist, wer sie erzählt. Eine der Figuren des „Tierreichs“ hat während der Studentenunruhen das Wort „Axolotl“ zur Parole gemacht. Sie überlebt diese Geschichte nicht. Aber der Axolotl überlebt in dem Satz, mit dem „Das Tierreich“ frühzeitig das Misstrauen gegen seinen Erzähler nährt: „sie sind alle tot, alle außer mir, dem Tiger.“
LOTHAR MÜLLER
David Albahari: Das Tierreich. Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Nur in fiktiven Tierreichen
wie dem unsren ist es
wider die Logik möglich, dass
man den Waschbären zum
gefährlichsten Tier erklärt
und den Tiger auf
eine Statistenrolle reduziert“
DAVID ALBAHARI
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"»Albaharis kristalline Prosa, die seine Übersetzer Mirjana und Klaus Wittmann auch hier in ein glänzendes Deutsch brachten, funkelt vor Zweideutigkeit.«Lothar Müller / Süddeutsche Zeitung»Alle Bücher David Albaharis [...] sind Vexierspiele der Existenz. [...] Der Mensch steht nicht vor einem Abgrund, er ist der Abgrund.«Jörg Plath / Deutschlandradio Kultur»In der Parteiendiktatur unterliegt auch die Geschichtsschreibung dem immer bewegten Linienkampf.«Elke Schmitter / Der Spiegel»Um Politik und Zufall geht es in dieser feingesponnenen Intrige, um Freundschaft, Feigheit und Verrat.«Badische Zeitung»Nichts ist sicher in diesem Roman. Bis zuletzt. Die Verstörung ist bei Albahari Programm.«Nicola Steiner / SRF»David Albahari aber beweist auch mit diesem Buch, was für ein großartiger Romancier er ist.«Marko Martin / Die Welt»Albahari könnte keine konkretere Geschichte schreiben [...] - die zugleich weiter über sich hinaus in unser aller Leben ragte.«Judith von Sternburg / FrankfurterRundschau»Ein Autor von Weltliteratur. [...] Ein komplexer, knapper Roman. Geschliffene, stringente Erzählweise.«Insa Wilke WDR 3»Mit welcher Kunstfertigkeit konstruiert! Das ist ein schwarzer, funkelnder Diamant, das kann an das Beste von Nabokov heranreichen. Ein postmodernes Juwel.«Denis Scheck / ARD lesenswert»Albahari skizziert eine Welt, erstarrt in Gewaltritualen, Mord und Totschlag. Unaufhaltsam, ja, gnadenlos treibt Albahari seine Protagonisten in die Zerstörung.«Siegfried Ressel / Deutschlandfunk Kultur»Was im "Tierreich" genau geschah, wird der Leser nie wissen. Dass es ein meisterhaftes Buch ist, wird er gerade deshalb merken.«Claudia Mädel / NZZ am Sonntag»Seine unheilvollen Stoffe erzählt Albahari oft mit postmodernen, auch grotesken Mitteln. Er teilt das Misstrauen der modernen Literatur gegen alle stabilen, scheinbar realistischen Erzählformen.«Sigrid Löffler / rbb Kulturradio»Albahari hat [...] eine Parabel über menschliche Bösartigkeit und deren manipulative Gewalt geschrieben.«Jochen Schimmang / Deutschlandfunk»Ein schlankes Buch voller erzählerischer Falltüren.«Franz Haas / Neue Zürcher Zeitung»Der Duktus ist atemlos, es gibt kein Innehalten. [...] Dazu bedarf es einer Wahrnehmung, die von Schonung nichts wissen will.«Anton Thuswaldner / Salzburger Nachrichten"