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Humanitäres Völkerrecht und Verhältnismäßigkeitsprinzip
Das humanitäre Völkerrecht will den Krieg eindämmen und einhegen, um ihn auch wieder beenden zu können und die unbeteiligte Zivilbevölkerung nach Möglichkeit zu schonen. Das gelingt in den internationalisierten nichtinternationalen bewaffneten Konflikten unserer Tage - also den unter Beteiligung dritter Staaten geführten Bürgerkriegen - immer weniger. Gerd Hankel macht dafür nicht nur Regelverletzungen durch die ungleichen, asymmetrisch kriegführenden Parteien - etwa den Missbrauch von Zivilisten als menschliche Schutzschilde - verantwortlich. Vielmehr leistet nach seiner Auffassung das gegenwärtig geltende Kriegsvölkerrecht selbst der Gewalteskalation Vorschub und bedarf deshalb dringend einer deeskalierenden Revision, insbesondere bei Militärmissionen, die vorgeblich humanitäre Ziele verfolgen, also gerade den Schutz von Menschen bezwecken.
Hankel will erstens Aufständischen den Kriegsgefangenenstatus zuerkennen, um sie vor Strafverfolgung wegen der bloßen Beteiligung an den Feindseligkeiten zu bewahren. Das erscheint nur angemessen, wenn sie erst durch die ausländische Intervention aus der Position der (de facto geführten) Regierung verdrängt worden sind (wie im Fall der Taliban in Afghanistan), wäre im Übrigen generös und könnte die Rückkehr zur Gewaltlosigkeit befördern. Aber die Staaten wollen sich verständlicherweise ihre Handlungsfreiheit bei der Bekämpfung der Aufständischen, dem Feind im Innern, erhalten, der ihre Einheit und/oder ihre politische Ordnung bedroht. Im Übrigen haben Aufständische auch schon nach geltendem Recht Anspruch auf Schutz vor Folter und auf ein faires Gerichtsverfahren. Wenn sie stark genug sind, eine Verhandlungslösung zu erzwingen, wird das Versprechen der Straffreiheit ohnehin Teil dieser Lösung sein.
Die Besatzungspraxis im Fall des durch militärisches Eingreifen von außen bewirkten Regimewechsels entspricht schon lange nicht mehr dem überkommenen Besatzungsrecht. Darin ist Hankel zuzustimmen. Seine Vorschläge zur Bildung einer Übergangsregierung aus Vertretern des Landes und für eine internationale Übergangsverwaltung, beide durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen autorisiert, sind allerdings nicht wirklich neu. Sie mögen zwar die Legitimationsbasis für den regime change verbreitern, garantieren aber keineswegs eine friedliche Entwicklung. Wirklich einschneidende Konsequenzen hätte Hankels dritter Änderungsvorschlag: Entgegen dem bisherigen Verständnis des humanitärvölkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips soll der Tod vieler Zivilisten nicht mehr als "Kollateralschaden" einer Kriegshandlung um ihres militärischen Vorteils willen hinzunehmen sein. Die gebotene Rücksichtnahme auf Zivilisten ungeachtet militärischer Notwendigkeiten würde eine Änderung der Kriegführung erzwingen: Statt zielungenauer Distanzwaffen, bei deren Einsatz die hohe Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung der Zivilbevölkerung besteht, müssten Bodentruppen der Intervenierten den Feind direkt bekämpfen. Darauf aber wollen sich die intervenierenden Staaten wegen der damit verbundenen höheren eigenen Verluste nicht einlassen; so weit geht ihr Altruismus nun auch wieder nicht.
Natürlich muss eine hohe Zahl ziviler Opfer einen humanitär begründeten Einsatz nachhaltig diskreditieren, und so werden Interventionisten nicht müde, die beschworene humanitäre Katastrophe, die es durch militärische Intervention abzuwenden gelte, in den schwärzesten Farben zu malen, um deren voraussichtliche und in Kauf genommene Opfer zu rechtfertigen. Da genügen (selbst schwere) Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht nicht, da muss schon ein Völkermord her. Darunter machen wir es nicht. Der Verbalradikalismus geht der Gewalteskalation voraus.
CHRISTIAN HILLGRUBER
Gerd Hankel: Das Tötungsverbot im Krieg. Ein Interventionsversuch. Hamburger Edition, Hamburg 2010. 131 S., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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