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Das letzte Buch von Michel Serres
Das letzte Buch eines Autors, postum publiziert, ein Buch, das sich auch noch mit dem "Religiösen" befasst, mit letzten Dingen, ersten Anfängen und erstlich und letztlich mit allem - ein solches Buch umgibt die Aura des Vermächtnisses. Im Falle von Michel Serres, dem 2019 verstorbenen französischen Philosophen, Mathematiker und in unzähligen Wissensgebieten bewanderten Polyhistor, ist das letzte in gewisser Weise auch das erste Buch; eines, an dessen Thema sein Autor zeitlebens gearbeitet hat. Das hat er nicht nebenbei und außerdem getan, sondern indem er seine gut vier Dutzend Bücher schrieb.
Serres schrieb gerne gestisch, hohe Töne und das Pathos nicht scheuend, die Gemütstemperatur aber scheint oft heiter bis schelmisch zu sein. Ebenso wenig wie die Grenzen der Wissensgebiete bringen ihn bei seinen Erkundungsgängen diejenigen der verschiedenen literarischen Genres zum Stehen. Seine bilderreiche Prosa verströmt bisweilen eine abstrakte Sinnlichkeit; sie argumentiert wenig, fabuliert umso lieber, assoziiert, etymologisiert, evoziert, spekuliert. Es sind Kommunikationen und Kommunionen, Überlagerungen und Überschneidungen, Vermischungen und Vernetzungen, die den Grenzgänger interessierten. In dem nun auch auf Deutsch vorliegenden "Essay über Religion" resümiert sich Serres' Denkweg sozusagen selbst. Das titelgebende "Verbindende" verbindet auch die thematischen Stationen dieses Weges. Der französische Titel ist ergiebiger: "Relire le relié". In der "Relektüre des Verbindenden" sind zwei der sprachgeschichtlichen Bedeutungslinien von "Religion", lateinisch "religio", verflochten: wiederlesen ("relegere") und verbinden ("religare").
Bei der Besinnung auf die zurückgelegte Strecke geht dem Wanderer auf, dass er, "ohne es zu ahnen, seit je an einer synthetischen Philosophie" gearbeitet habe: "Unablässig Verbindungen herstellend, sah ich undeutlich ein Zeitalter heraufziehen, in dem sich mit dem Wandel der Kulturen und Praktiken ein neuer Typus von Verbindungen durchsetzen würde, um schließlich die Oberhand über eine dem Ideal des Analytischen verpflichtete Tradition zu gewinnen." Das Analysieren, zumal das wissenschaftliche, zerlege Probleme - und zerschneide dabei die Phänomene, zerstöre die Welt: "Die Auslöschung der Arten, der Klimawandel, die Umweltverschmutzung gehen auf dieses Projekt der découpage, im Wortsinn also des Zerschneidens, der Lösung und Auflösung zurück, das eine Welt in Stücken, einen Ozean von Abfällen hinterlässt."
Der Rückblick ist erkennbar auch einer auf den Vorausblick eines prophetischen Sehers, der die Destruktivkräfte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation bei aller Begeisterung für deren Produktivkräfte nicht ausblendet (ebenso wenig wie das Gewaltpotential der Religionen). Und der Seher möchte auch ein Heiler sein, ein Stifter des Zusammenhangs, in dem alles mit allem - eigentlich - steht. Der Auftrag, den das Testament den Hinterbliebenen erteilt, ist knapp: "Schluss mit dem Schneiden und Trennen, Morgenröte der Verbindungen - das ist um der Bewahrung der Welt willen unsere Zukunft."
Leichter gesagt als getan, wird man sagen. Doch das Schöne ist, Aurora, die Göttin der Morgenröte, waltet bereits in uns: Wir vereinen stets schon, was wir trennen, integrieren, was wir differenzieren. "Religion" meint laut Serres nicht nur die Beziehung, die Gläubige mit ihrem Gott oder miteinander vereint, sondern auch "die Beziehung als solche, die Relation im Allgemeinen, die Gesamtheit aller möglichen Verbindungen, der kognitiven wie der objektiven und der erst noch zu erkennenden. Durch das unbestimmte Integral dieser netzförmigen Verknüpfungen versetzt die Religion uns in die Welt, wir sind in der Welt durch dieses Integral." Die Integralrechnung mutiert zur metaphorischen Metaphysik einer "existenziellen Funktion". Diese Funktion, schreibt Michel Serres, "ist in uns, aber wurde sie je wirklich erforscht?"
Das Bedürfnis nach Sinnzusammenhang und Existenzerhellung, das da zum Ausdruck kommt, erweist sich am Ende - am Ende des Buches - als eine Art mystisches Begehren, als Verlangen nach einer Vereinigung mit dem Göttlichen, die zugleich eine Verschmelzung von Glauben und Wissen wäre. UWE JUSTUS WENZEL.
Michel Serres: "Das Verbindende". Ein Essay über Religion.
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2021. 240 S., br., 16,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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