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Eine Erbin Kleists: Mela Hartwigs Novellen und Erzählungen
Die Psychoanalyse hat der Frau eine Seele gegeben, und noch dazu eine, die spricht. Die angebetete Ikone, die sie bis dahin gewesen war, sitzt nun vor ihrem Analytiker und erfindet sich eine Biographie. Im Tagebuch und im Brief hatte sie seit dem achtzehnten Jahrhundert begonnen, sich im Sprechen zu üben, doch war es da noch immer ein Stammeln gewesen von Augenblick zu Augenblick. Die Analyse erst hebt aus ihr eine Geschichte ans Licht, die so viel literarische Implikate hat, daß Freud selbst sie zur Erzählung bündelte.
Mela Hartwig, die literaturhistorische Entdeckung der letzten Jahre, deren Karriere durch den Nationalsozialismus endgültig abgebrochen worden war, hat in den zwanziger Jahren solche Fallbeschreibungen zu Novellen verdichtet, hat den Analytiker selbst zur Figur in diesem Prozeß der Selbstschöpfung gemacht und so eine Neufassung des weiblichen Bildungsromans geschaffen. Ihre Novellen vermeiden es, die Frau, wie im Frauenroman des neunzehnten Jahrhunderts etwa, als Träumerin vorzustellen, die, selbst nichts als Seelenadel, den Mann erwartet, der ihrer wert ist, oder die ihn in seinem Bildungsstreben kopiert, um ein kleiner Wilhelm Meister zu werden. Mela Hartwigs Geschöpfe hingegen speien wüste Wünsche aus, die für ihre Mitwelt abstoßend und ungehörig sind. Diesen unsauberen Ergüssen wirft die Autorin den pathetisch schwingenden Mantel einer Sprache um, die sich einmal in Leidenschaftlichkeit ergießt, dann aber doch in geradezu wissenschaftlicher Kälte das Fieber der Selbstschöpfung kommentiert und auseinandernimmt.
Zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit werden deshalb Hartwigs wenige Werke eingeordnet, so auch ihre erste Publikation von 1928, die Novellensammlung "Ekstasen". Nähme man diese Einordnung ernst, so wäre Mela Hartwig eine Epigonin. Gerade aus dieser Verspätung aber zieht sie die ganze Energie einer Dichtung zwischen artistischem Pathos und zynischem Realismus. Der Überschwang, den ihr der Stil der Epoche erlaubt, erstarrt immer wieder in der kalten Überlegung darüber, inwieweit diese neue, von der Psychoanalyse erfundene Weiblichkeit als mögliches Modell der Selbsterforschung tauge.
Der Band "Ekstasen", der nun zusammen mit weiteren, zum Teil erstmals publizierten Erzählungen unter dem Titel "Das Verbrechen" erschienen ist, dramatisiert in der ersten, titelgebenden Novelle die analytische Situation. Hartwig faßt den Arzt und den Vater, der ja eigentlich Teil seiner Diagnose sein sollte, in einer Person zusammen und verschafft ihm damit einen fast göttlichen Status. Die Tochter Agnes dient als das Lamm, das der analytische Scharfsinn seziert. Aus ihrem widerstrebenden Einverständnis mit diesem Prozeß der Zerstückelung aber geht sie als Person hervor. Nachdem sie den Vater, diesen aufdringlichen Geburtshelfer ihrer Selbstzeugung, erschossen hat und ihr statt ihm die Staatsgewalt den Prozeß macht, triumphiert Agnes "leise, zuversichtlich, beinah jubelnd: ,Mein Leben beginnt.'"
Das Vorleben dieser Besessenen ist der Inhalt einer Erzählung voller Wahnsinn, Grausamkeit, Verachtung, Ekel. Dem Vater, der vorgibt, die Tochter von der Bindung an sich - die für ihn freilich nur sexueller Art sein kann -, befreien zu müssen, wirft diese Sätze entgegen, die noch heute sich für keine weibliche Rede schicken, wie viel weniger 1928, wo denn auch Hartwigs Karriere mit diesem Auftritt schon zu Ende war; kein Verlag wollte diesen weiblichen Ton mehr drucken: "Ich liege", so klagt Agnes den Vater an, "auf dem Seziertisch. Du schneidest mir die Bauchdecke auf und wühlst mit blutigen Händen in meinen Gedärmen, du schneidest mir das Herz aus der Brust, stopfst es mir in den Mund wie einen Knebel, damit ich nicht schreien kann, denn ich lebe ja noch, und ich würge an meinem eigenen Herzen, bis ich daran ersticke. Du kratzt mir das Gehirn aus dem Schädel und füllst den Hohlraum mit deinem Samen an."
Alle Figuren Hartwigs sind solche Besessenen wie Agnes, und immer sind es Frauen, die unter der unheilbaren Krankheit der Egomanie leiden. In den "Bekenntnissen einer Häßlichen" verwandelt Hartwig das Motiv "La Belle et la Bête" in die Version "La Bête et le Beau". Die Bekennende hat keine Sünde zu beichten als die, daß sie abgrundtief häßlich ist und gerade deshalb gebannt von der Schönheit eines Mannes. In einem Rückblick beschreibt sie die Werbung um ihn als lustvolle Selbsterniedrigung. Der zwanghafte Genuß der eigenen Mangelhaftigkeit wird wenig später auch das Thema von Hartwigs letztem Roman "Bin ich ein überflüssiger Mensch?", der als "absolut publikumsunwirksames und abseitiges Werk" abgelehnt wurde.
Hartwig steht, und damit bleibt sie eine Spätgeborene des Expressionismus, einer literarischen Tradition nahe, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erst wiederentdeckt wurde: Büchner und Kleist. Die Seele ihrer Frauen ist nie heilbar, wo sie spricht, spricht sie, wie Büchners Lucile, im Wahnsinn. Das Vorbild Kleist ist offensichtlicher durch die Ähnlichkeit der Motive. Die Erzählung "Der phantastische Paragraph" steigert die unbefleckte Empfängnis von Kleists "Marquise von O..." zur dianenhaften Schwangerschaft einer Mondsüchtigen. In "Die Hexe" reichert Hartwig Kleists "Cäcilie oder Die Gewalt der Musik" mit ethnologischen Erfahrungen an: Die Mönche eines Trappistenklosters nehmen einen Findling bei sich auf. Das Verhängnis naht, als das Kind "Rune sich nur bewegen konnte. Sie trippelte durch die feuchten, dunklen Kreuzgänge, sie hämmerte mit kleinen, harten Fäusten gegen die Türen der Zellen, sie kollerte zwischen den Bänken der Hauskapelle umher, halb nackt in der grauen, flatternden Kutte, daß der Teufel den Mönchen zwischen die Beine fuhr und sie zwickte und zwackte, bis ihre Nachsicht jedes Maß überstieg." Die Erregung steigert sich zum Bacchanal, bei dessen Beschreibung Hartwig die Grenzen des guten Geschmacks souverän mißachtet.
Es wird nicht leicht sein, Mela Hartwig als eine der wichtigen Autoren der deutschen Moderne zu etablieren. Unter einer Leserschaft, die von der Literatur die Möglichkeit zur Identifikation erwartet, werden diese befremdlichen Erzählungen eines weiblichen Masochismus Männern kaum lesenswert erscheinen. Die Martern, die die Leserinnen als realistischen und glaubwürdigen Hintergrund ihrer Ängste nehmen können, erscheinen Männern als Exzentrik und Manier einer um Aufmerksamkeit bemühten Schriftstellerin. Sie sind bereit, die "Verwirrungen des jungen Törleß" als Perversionen der Adoleszenz gelten zu lassen, das Pendant aber, das Hartwig mit der psychoanalytischen Erzählung "Das Verbrechen" schuf, entführt sie in das fremde Territorium weiblicher Albträume, das sie als Ärzte vielleicht erforschen, das sie als Leser aber zu betreten fürchten mögen.
HANNELORE SCHLAFFER
Mela Hartwig: "Das Verbrechen". Novellen und Erzählungen. Mit einem Vorwort von Margit Schreiner. Literaturverlag Droschl, Graz/Wien 2004. 302 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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