Dieses Buch erklärt Großbritannien ganz neu. Spätestens der Brexit hat gezeigt, dass die Briten wichtige politische Fragen oft anders beantworten als Kontinentaleuropäer. Dabei gehört London nach wie vor zu den relevantesten internationalen Handelsplätzen und die britischen Inseln zu den beliebtesten europäischen Reisezielen. Was also treibt die Briten wirklich um? Christian Schnee verbindet anschaulich und unterhaltsam historische Entwicklungen und die relevanten zeitgenössischen Ereignisse zu einzigartigen Einsichten in das britische Denken und Handeln. Lesende begegnen Entscheidern und Einflüsterern, die auf der politischen Bühne und im Verborgenen die Geschicke ihres Landes bestimmen: Ein Must-Read für alle, die unseren britischen Nachbarn besser verstehen wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2022Nur Tradition reicht nicht
Versuch einer Erklärung des Vereinigten Königreichs nach dem Brexit
Die politische Verfassungswirklichkeit der Britischen Inseln spiegeln nicht nur England, Irland, Schottland und Wales. In hohem Maße ist London der starke Faktor - diejenige Metropole, die wie keine andere europäische Hauptstadt eine genuin globale ist, als sei sie gleichermaßen vom Vereinigten Königreich losgelöst und dessen Motor. Wer von London aus Großbritannien beurteilt, muss sich entsprechend über die Perspektive im Klaren sein. Der Nordwesten des Landes ist vom Südosten mental so weit entfernt wie manche frühere Kolonie des Empire.
Auch wenn nun der ehemalige Londoner Oberbürgermeister und Außenminister auch das Amt des Premierministers gezwungenermaßen abgegeben hat, wird man, so Christian Schnee in seinem Überblick, Boris und Brexit nicht zu den Akten legen. Aber Boris Johnson wird ein typisch südenglisches politisches Erbe hinterlassen, das mit dem Rest bestenfalls fremdelte. Dass das Vereinigte Königreich also "viel mehr" ist, liegt auf der Hand. Doch wo ist der Kern der Befindlichkeit, und was treibt die Briten "wirklich" um? Schnee möchte darauf in dreißig für sich stehenden Essays antworten, jeder ist mit einer eigenen Literaturliste ausgestattet. Deshalb fehlt eine Gesamtbibliographie.
Methodisch betrachtet, bietet sich mit Alfred Grossers großartigem Aufriss "Wie anders ist Frankreich?" (2005) eine Vergleichsstudie an. Ist diese stilistisch kunstvolle Arbeit in sich geschlossen und folgt einer präzisen Fragestellung, so drängt sich im vorliegenden Buch mit seinen unstrukturiert aneinandergereihten Kapiteln das Problem der Wiederholung auf und wird leider auch nicht bezwungen. Ein Register hätte es wohl gleich vor Augen geführt. Zwar schließt sich ein kurzes Nachwort an, aber eine thesenstarke Einleitung fehlt ebenso wie ein theoretisches Gerüst, das die zusammengewürfelten Essays systematisiert hätte. Im anekdotischen Stil eines Reiseführers und mit Anmerkungen, die vornehmlich auf Presseartikeln und hier insbesondere dem "Economist" basieren, will der Autor einen gewichtigen Komplex in den Griff bekommen. Das gelingt nicht, auch weil er Klischees nicht kritisch hinterfragt, sondern lediglich referiert.
Wie anders Großbritannien in Europa ist und wie anders London in Großbritannien, ist ohne Zweifel ein zentrales politisches und gesellschaftliches Thema. Wer sich über die britischen Institutionen, ihr verfassungsgeschichtliches Gefüge, ihre Verflechtungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur informieren will, war bisher mit Anthony Sampsons seit 1962 vielfach neu ediertem Klassiker "Anatomy of Britain" gut beraten. Der Blick hinter die Kulissen von Regierung, Erziehung und Sport, vom Medienwesen und Verkehr, vom Eigenleben der Londoner Finanzwelt und von den Geheimnissen der Herrenclubs an der Pall Mall, ist auch ein Blick auf die Antworten jenseits vom heiß umstrittenen Thema "Europa". Doch reicht es nicht, das vermeintlich "traditionelle" Vereinigte Königreich als Folie zu nehmen.
Global Britain, das Schlagwort der Anhänger des Brexits, ist mehr als doppeldeutig. Signalisiert es zum einen die Nostalgie mit dem verlorenen Empire, will es sich zum anderen von "Europa" distanzieren. Aber so einfach ist das nicht. Schnee geht dieser Denkweise auf den Leim, wenn er die angeblich so mannigfaltigen Besonderheiten und Eigenheiten der Briten wie auf Postkarten stereotypisiert, ohne zur Kenntnis zu nehmen, wie umfassend das Kolonialreich die Britischen Inseln durchdrungen hat. Seine Rückwirkungen ungeschehen zu machen, die Dekolonisation als weltumspannendes historisches Phänomen zu marginalisieren und gleichzeitig Weltgeltung für sich zu beanspruchen ist eine der vielen Unwahrheiten des Brexits. Johnson, Nigel Farage und andere haben sich darüber hinweggesetzt und die Nation glauben machen wollen, man knüpfe nahtlos an vergangene Zeiten an. Johnson ein Churchill redivivus? Ist es denn vergessen, dass die Jahre zwischen dem schrittweisen Verlust des Empire und der Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Union Jahre der bitteren wirtschaftlichen Krisen waren?
Anstatt die bestens bekannten Bilder von uralter Monarchie und House of Lords, von Privatschulen und Eliteuniversitäten, gutmütigem Bobby, Milchmann, Margaret Thatchers Europafeindschaft und der immer wieder bemühten, wohl unvermeidlichen Obsession mit den Deutschen abzuspulen, wäre es sinnvoll gewesen, die Brüche im politischen Alltag zu thematisieren. Sie hat erst der Brexit richtig ans Tageslicht befördert. Da wäre zum Beispiel der dramatische Verlust an demokratischer Kultur in Europas ältester Demokratie zu nennen, der wie in den USA in Zeiten Trumps ungewöhnlich skrupellos die Verfassungsinstitutionen untergräbt. Da wäre außerdem der verbreitete Populismus anzuführen, der in der hitzigen Phase im Kampf für beziehungsweise gegen den Brexit Ausländerfeindlichkeit auf der Straße beförderte, weil die Debatten in Parlament und Medien die Spaltung der Gesellschaft vorantrieben. Und es wäre zu problematisieren, warum so viele Einwanderer aus den früheren Kolonien für den Brexit votierten.
Für diese Aspekte ist das Buch nicht empfänglich. Spricht es von "Wind of Changes" in Kapitel 27, so ist dies schlichtweg falsch. In seiner berühmten Rede in Kapstadt am 3. Februar 1960 hatte der seinerzeitige Premierminister Harold Macmillan eine Beschleunigung der Dekolonisation angekündigt, aber von "change" im Singular gesprochen. Auch den hoch angesehenen und viel geehrten britischen Tierfilmer und Autor David Attenborough wird man nicht als "Naturhistoriker" (S. 215) bezeichnen können. Ein Problem dieses Buches liegt unter anderem darin, dass Schnee sich eine ausgesprochen südenglische Sichtweise zu eigen macht. Leicht abwendbar ist dies nicht, zumal vieles im Vereinigten Königreich so stark auf London konzentriert ist.
Der Brexit hat auch hier seine Spuren hinterlassen. Wer Printausgaben der internationalen Presse sucht, findet allenfalls die "New York Times" und den "Irish Independent", von kontinentaleuropäischen Tageszeitungen aber keine Spur. Sie sind aus dem Alltag der Metropole verschwunden. Hatte Boris Johnson nicht versprochen, den Bruch mit Europa vollständig zu vollziehen? Hatte er seinen Anhängern, ob in den verarmten West Midlands oder im reichen Kent, nicht vollmundig verkündet, für Queen und Country werde das Königreich blühen und der National Health Service werde besser funktionieren? Nichts davon ist realisiert, der NHS arbeitet am Limit, und es rächt sich, dass für die meisten Befürworter des Brexits seine kulturnationalistische Note die treibende war, die wirtschaftlichen Konsequenzen indessen ausgeblendet blieben. BENEDIKT STUCHTEY
Christian Schnee: Das Vereinigte Königreich. Viel mehr als Boris und Brexit - Was die Briten wirklich umtreibt.
Springer Fachmedien, Wiesbaden 2022. XIV + 573 S., 27,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Versuch einer Erklärung des Vereinigten Königreichs nach dem Brexit
Die politische Verfassungswirklichkeit der Britischen Inseln spiegeln nicht nur England, Irland, Schottland und Wales. In hohem Maße ist London der starke Faktor - diejenige Metropole, die wie keine andere europäische Hauptstadt eine genuin globale ist, als sei sie gleichermaßen vom Vereinigten Königreich losgelöst und dessen Motor. Wer von London aus Großbritannien beurteilt, muss sich entsprechend über die Perspektive im Klaren sein. Der Nordwesten des Landes ist vom Südosten mental so weit entfernt wie manche frühere Kolonie des Empire.
Auch wenn nun der ehemalige Londoner Oberbürgermeister und Außenminister auch das Amt des Premierministers gezwungenermaßen abgegeben hat, wird man, so Christian Schnee in seinem Überblick, Boris und Brexit nicht zu den Akten legen. Aber Boris Johnson wird ein typisch südenglisches politisches Erbe hinterlassen, das mit dem Rest bestenfalls fremdelte. Dass das Vereinigte Königreich also "viel mehr" ist, liegt auf der Hand. Doch wo ist der Kern der Befindlichkeit, und was treibt die Briten "wirklich" um? Schnee möchte darauf in dreißig für sich stehenden Essays antworten, jeder ist mit einer eigenen Literaturliste ausgestattet. Deshalb fehlt eine Gesamtbibliographie.
Methodisch betrachtet, bietet sich mit Alfred Grossers großartigem Aufriss "Wie anders ist Frankreich?" (2005) eine Vergleichsstudie an. Ist diese stilistisch kunstvolle Arbeit in sich geschlossen und folgt einer präzisen Fragestellung, so drängt sich im vorliegenden Buch mit seinen unstrukturiert aneinandergereihten Kapiteln das Problem der Wiederholung auf und wird leider auch nicht bezwungen. Ein Register hätte es wohl gleich vor Augen geführt. Zwar schließt sich ein kurzes Nachwort an, aber eine thesenstarke Einleitung fehlt ebenso wie ein theoretisches Gerüst, das die zusammengewürfelten Essays systematisiert hätte. Im anekdotischen Stil eines Reiseführers und mit Anmerkungen, die vornehmlich auf Presseartikeln und hier insbesondere dem "Economist" basieren, will der Autor einen gewichtigen Komplex in den Griff bekommen. Das gelingt nicht, auch weil er Klischees nicht kritisch hinterfragt, sondern lediglich referiert.
Wie anders Großbritannien in Europa ist und wie anders London in Großbritannien, ist ohne Zweifel ein zentrales politisches und gesellschaftliches Thema. Wer sich über die britischen Institutionen, ihr verfassungsgeschichtliches Gefüge, ihre Verflechtungen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur informieren will, war bisher mit Anthony Sampsons seit 1962 vielfach neu ediertem Klassiker "Anatomy of Britain" gut beraten. Der Blick hinter die Kulissen von Regierung, Erziehung und Sport, vom Medienwesen und Verkehr, vom Eigenleben der Londoner Finanzwelt und von den Geheimnissen der Herrenclubs an der Pall Mall, ist auch ein Blick auf die Antworten jenseits vom heiß umstrittenen Thema "Europa". Doch reicht es nicht, das vermeintlich "traditionelle" Vereinigte Königreich als Folie zu nehmen.
Global Britain, das Schlagwort der Anhänger des Brexits, ist mehr als doppeldeutig. Signalisiert es zum einen die Nostalgie mit dem verlorenen Empire, will es sich zum anderen von "Europa" distanzieren. Aber so einfach ist das nicht. Schnee geht dieser Denkweise auf den Leim, wenn er die angeblich so mannigfaltigen Besonderheiten und Eigenheiten der Briten wie auf Postkarten stereotypisiert, ohne zur Kenntnis zu nehmen, wie umfassend das Kolonialreich die Britischen Inseln durchdrungen hat. Seine Rückwirkungen ungeschehen zu machen, die Dekolonisation als weltumspannendes historisches Phänomen zu marginalisieren und gleichzeitig Weltgeltung für sich zu beanspruchen ist eine der vielen Unwahrheiten des Brexits. Johnson, Nigel Farage und andere haben sich darüber hinweggesetzt und die Nation glauben machen wollen, man knüpfe nahtlos an vergangene Zeiten an. Johnson ein Churchill redivivus? Ist es denn vergessen, dass die Jahre zwischen dem schrittweisen Verlust des Empire und der Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Union Jahre der bitteren wirtschaftlichen Krisen waren?
Anstatt die bestens bekannten Bilder von uralter Monarchie und House of Lords, von Privatschulen und Eliteuniversitäten, gutmütigem Bobby, Milchmann, Margaret Thatchers Europafeindschaft und der immer wieder bemühten, wohl unvermeidlichen Obsession mit den Deutschen abzuspulen, wäre es sinnvoll gewesen, die Brüche im politischen Alltag zu thematisieren. Sie hat erst der Brexit richtig ans Tageslicht befördert. Da wäre zum Beispiel der dramatische Verlust an demokratischer Kultur in Europas ältester Demokratie zu nennen, der wie in den USA in Zeiten Trumps ungewöhnlich skrupellos die Verfassungsinstitutionen untergräbt. Da wäre außerdem der verbreitete Populismus anzuführen, der in der hitzigen Phase im Kampf für beziehungsweise gegen den Brexit Ausländerfeindlichkeit auf der Straße beförderte, weil die Debatten in Parlament und Medien die Spaltung der Gesellschaft vorantrieben. Und es wäre zu problematisieren, warum so viele Einwanderer aus den früheren Kolonien für den Brexit votierten.
Für diese Aspekte ist das Buch nicht empfänglich. Spricht es von "Wind of Changes" in Kapitel 27, so ist dies schlichtweg falsch. In seiner berühmten Rede in Kapstadt am 3. Februar 1960 hatte der seinerzeitige Premierminister Harold Macmillan eine Beschleunigung der Dekolonisation angekündigt, aber von "change" im Singular gesprochen. Auch den hoch angesehenen und viel geehrten britischen Tierfilmer und Autor David Attenborough wird man nicht als "Naturhistoriker" (S. 215) bezeichnen können. Ein Problem dieses Buches liegt unter anderem darin, dass Schnee sich eine ausgesprochen südenglische Sichtweise zu eigen macht. Leicht abwendbar ist dies nicht, zumal vieles im Vereinigten Königreich so stark auf London konzentriert ist.
Der Brexit hat auch hier seine Spuren hinterlassen. Wer Printausgaben der internationalen Presse sucht, findet allenfalls die "New York Times" und den "Irish Independent", von kontinentaleuropäischen Tageszeitungen aber keine Spur. Sie sind aus dem Alltag der Metropole verschwunden. Hatte Boris Johnson nicht versprochen, den Bruch mit Europa vollständig zu vollziehen? Hatte er seinen Anhängern, ob in den verarmten West Midlands oder im reichen Kent, nicht vollmundig verkündet, für Queen und Country werde das Königreich blühen und der National Health Service werde besser funktionieren? Nichts davon ist realisiert, der NHS arbeitet am Limit, und es rächt sich, dass für die meisten Befürworter des Brexits seine kulturnationalistische Note die treibende war, die wirtschaftlichen Konsequenzen indessen ausgeblendet blieben. BENEDIKT STUCHTEY
Christian Schnee: Das Vereinigte Königreich. Viel mehr als Boris und Brexit - Was die Briten wirklich umtreibt.
Springer Fachmedien, Wiesbaden 2022. XIV + 573 S., 27,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zum besseren Verständnis Großbritanniens und seiner Bewohner kann Rezensent Benedikt Stuchtey Christian Schnees gesammelte Essays nicht empfehlen. Zu disparat kommen die Texte daher, es fehlt ein theoretisches Gerüst mit präziser Fragestellung beziehungsweise eine Grundthese, meint er, dafür muss der Leser mit allerhand Redundanzen leben. Anekdotisch versucht der Autor laut Rezensent, herauszufinden, wie die Briten ticken. Dass Schnee scheitert, liegt für Stuchtey auch daran, dass er Klischees nicht hinterfragt, sondern nur wiederholt. Der politische Alltag und seine Brüche werden nicht sichtbar, erklärt er. Mitunter liegt der Autor auch einfach falsch bei seinen Ausführungen, so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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