Internettext/ONIX 139943 Die faszinierende Lebensgeschichte von Hugo Simon, Wegbegleiter von Samuel Fischer und Thomas Mann! Als Rafael Cardoso zufällig auf Briefe und Dokumente seines Urgroßvaters stößt, ist seine Neugierde geweckt. Wer war Hugo Simon? Seine Nachforschungen führen ihn von São Paulo nach Berlin, wo er dem Familiengeheimnis auf die Spur kommt: Hugo Simon war nicht nur Bankier in der Weimarer Republik, er war auch enger Berater von Samuel Fischer, Besitzer von Munchs »Der Schrei«; Albert Einstein ging bei ihm ein und aus, Alfred Döblin verewigte den Freund in einem Roman. Rafael Cardoso verfolgt die schillernde Biographie seines Urgroßvaters bis zu dessen Exil in Brasilien und lässt - ganz nah an der Geschichte und ihren Protagonisten - jüdisch-europäisches Leben im 20. Jahrhundert auferstehen. Eine faszinierend reiche Familienchronik, eine behutsame Erkundung von Besitz, Verlust und Identität, vor allem aber vom Wert der Erinnerung.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2017Bankier auf der Flucht
Rafael Cardoso erzählt die Geschichte seines aus Deutschland geflohenen Urgroßvaters Hugo Simon
Die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn über, sondern vom Onkel auf den Neffen oder vom Großvater auf den Enkel. Oder aber der historische Abstand ist noch größer wie bei dem brasilianischen Autor Rafael Cardoso, der über seinen Urgroßvater Hugo Simon anfangs nicht viel mehr wusste, als dass er mit Thomas Mann, Samuel Fischer und Albert Einstein befreundet war und auf der Flucht vor den Nazis nach Brasilien gelangte, wo er Stefan Zweig wiedertraf. Auf die mündliche Überlieferung der Familie war, wie so oft, kein Verlass; sie war bruchstückhaft, voller blinder Flecken oder zur Legende geschönt, und um seine Wissenslücken zu schließen und der Sache auf den Grund zu gehen, fasste Cardoso einen folgenreichen Entschluss: Er siedelte nach Berlin über, lernte Deutsch und vertiefte sich in Archive und Bibliotheken, um Licht in das Dunkel zu bringen, das die Schicksale seiner jüdischen Vorfahren in Deutschland und später in der Emigration umgab.
Nur so viel war klar: Hugo Simon, der Patriarch der Familie, war eine einflussreiche Persönlichkeit in der Weimarer Republik als Finanzminister, Bankier und Mäzen, der wie sein Freund Harry Graf Kessler moderne Kunst sammelte und viele Künstler unterstützte. Von Max Liebermann und Edvard Munch, dessen Gemälde "Der Schrei" er besaß, bis zu Oskar Kokoschka, Max Pechstein und George Grosz.
Rafael Cardoso ist Kunsthistoriker, aber kein Germanist; er hat in den Vereinigten Staaten studiert und sprach, als er in Berlin eintraf, nur wenige Worte Deutsch. Vielleicht war es gerade die heilsame Distanz zum Land seiner Vorväter und dessen Kultur, die es ihm ermöglicht hat, einen Roman zu schreiben, der in der Literatur Brasiliens und Lateinamerikas seinesgleichen sucht: eine jüdische Familiengeschichte, die nicht von ungefähr mit der Abbildung des Stammbaums beginnt, dessen derzeit letzter Spross der Autor des vorliegenden Buches ist. Ein historisches Narrativ, das wie jede Saga Fakten mit Fiktion vermengt, ohne in Beliebigkeit abzugleiten, weil Cardoso Erfundenes und Gefundenes, Dichtung und Wahrheit sorgfältig voneinander trennt:
"Während ich hier in der Stille einer Berliner Mietwohnung sitze und diese Worte tippe, erstaunt es mich, dass jene einst vertraute Umgebung, die es schon lange nicht mehr gibt, durch meine Evokation überleben wird . . . Jemandem davon zu erzählen wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war mir die paranoide Geheimhaltung, mit der meine Vorfahren das Thema umgeben hatten, in Fleisch und Blut übergegangen."
Im Haus seiner Großeltern in São Paulo hatte der Autor eine Mahagonikommode voll vergilbter Fotos und stockfleckiger Dokumente entdeckt, Geburtsurkunden, echte und falsche Pässe, Visumanträge für Amerika und Briefe, in denen Albert Einstein und Thomas Mann für Hugo Simons demokratische Gesinnung bürgten, sowie das Manuskript eines autobiographischen Romans, den Cardoso nicht lesen konnte, weil er auf Deutsch geschrieben war. Der unvollendet gebliebene Text mit dem Titel "Seidenraupen" stand unter einem Motto von Goethe, das "Torquato Tasso" entnommen ist: "Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll / So ist das Leben mir kein Leben mehr. / Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt."
Der Zufallsfund dieses Manuskripts bildet die Keimzelle des vorliegenden Romans, mit dem der Nachgeborene seinem illustren Vorfahren, anders als von diesem gewollt und intendiert, seine Reverenz erweist: "Als er sich dazu entschieden hatte, das Buch zu schreiben, hatte er es als Chronik der Enttäuschung konzipiert, die seine Generation mit ihren politischen Utopien erlebt hatte . . . Die Konzentration auf den Klassenkampf hatte sich als Fehler erwiesen, sie hatte die Besten beider Seiten einander entfremdet und zugelassen, dass sich die Macht in Händen der Brutalen und Korrupten konzentrierte." Dieses pessimistische Fazit gilt für beide Generationen, für den Urgroßvater wie für den Enkel, und die Geschichte von Cardosos Recherchen ist so spannend und aufschlussreich wie Hugo Simons abenteuerliche Odyssee über Paris und Marseille, wo ein Gerechter unter den Völkern, Varian Fry vom American Rescue Committee, ihm die Flucht nach Brasilien ermöglichte.
Das Schreiben des Buchs kam der Quadratur des Kreises gleich, eine intellektuelle Herausforderung, die der Autor glänzend meistert: mit Blick auf brasilianische Leser, die nicht wissen, wer Samuel Fischer oder Harry Graf Kessler war und woran die aus den Trümmern des Kaiserreichs entstandene Weimarer Republik scheiterte. Und mit Blick auf deutsche Leser, denen der Name Getúlio Vargas nichts sagt, Brasiliens langjähriger Diktator, der zwischen Hitlerdeutschland und den Alliierten lavierte, die jüdische Kommunistin Olga Benario den Nazis auslieferte, die sie im KZ ermordeten, und gleichzeitig Stefan Zweig Asyl gewährte. Der wiederum stand vor einem doppelten Dilemma: Während Hitlers Wehrmacht einen Sieg nach dem anderen einfuhr, blieb er seiner pazifistischen Grundhaltung treu, und brasilianische Intellektuelle warfen ihm vor, die Vargas-Diktatur schönzureden. Vom Sieg der Barbarei überzeugt, ging Zweig zusammen mit seiner Frau in den Tod, während Hugo Simon nolens volens in Brasilien blieb, sich dort eingelebt und schließlich Wurzeln geschlagen hat: "Was für ein seltsamer Mischmasch er geworden war: ein Jude ohne Religion; ein Bankier ohne Geld; ein Sammler ohne seine Kunst; ein Bauer ohne Land."
HANS CHRISTOPH BUCH
Rafael Cardoso:
"Das Vermächtnis der
Seidenraupen". Geschichte einer Familie.
Aus dem brasilianischen
Portugiesisch von Luis Ruby. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 572 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rafael Cardoso erzählt die Geschichte seines aus Deutschland geflohenen Urgroßvaters Hugo Simon
Die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn über, sondern vom Onkel auf den Neffen oder vom Großvater auf den Enkel. Oder aber der historische Abstand ist noch größer wie bei dem brasilianischen Autor Rafael Cardoso, der über seinen Urgroßvater Hugo Simon anfangs nicht viel mehr wusste, als dass er mit Thomas Mann, Samuel Fischer und Albert Einstein befreundet war und auf der Flucht vor den Nazis nach Brasilien gelangte, wo er Stefan Zweig wiedertraf. Auf die mündliche Überlieferung der Familie war, wie so oft, kein Verlass; sie war bruchstückhaft, voller blinder Flecken oder zur Legende geschönt, und um seine Wissenslücken zu schließen und der Sache auf den Grund zu gehen, fasste Cardoso einen folgenreichen Entschluss: Er siedelte nach Berlin über, lernte Deutsch und vertiefte sich in Archive und Bibliotheken, um Licht in das Dunkel zu bringen, das die Schicksale seiner jüdischen Vorfahren in Deutschland und später in der Emigration umgab.
Nur so viel war klar: Hugo Simon, der Patriarch der Familie, war eine einflussreiche Persönlichkeit in der Weimarer Republik als Finanzminister, Bankier und Mäzen, der wie sein Freund Harry Graf Kessler moderne Kunst sammelte und viele Künstler unterstützte. Von Max Liebermann und Edvard Munch, dessen Gemälde "Der Schrei" er besaß, bis zu Oskar Kokoschka, Max Pechstein und George Grosz.
Rafael Cardoso ist Kunsthistoriker, aber kein Germanist; er hat in den Vereinigten Staaten studiert und sprach, als er in Berlin eintraf, nur wenige Worte Deutsch. Vielleicht war es gerade die heilsame Distanz zum Land seiner Vorväter und dessen Kultur, die es ihm ermöglicht hat, einen Roman zu schreiben, der in der Literatur Brasiliens und Lateinamerikas seinesgleichen sucht: eine jüdische Familiengeschichte, die nicht von ungefähr mit der Abbildung des Stammbaums beginnt, dessen derzeit letzter Spross der Autor des vorliegenden Buches ist. Ein historisches Narrativ, das wie jede Saga Fakten mit Fiktion vermengt, ohne in Beliebigkeit abzugleiten, weil Cardoso Erfundenes und Gefundenes, Dichtung und Wahrheit sorgfältig voneinander trennt:
"Während ich hier in der Stille einer Berliner Mietwohnung sitze und diese Worte tippe, erstaunt es mich, dass jene einst vertraute Umgebung, die es schon lange nicht mehr gibt, durch meine Evokation überleben wird . . . Jemandem davon zu erzählen wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war mir die paranoide Geheimhaltung, mit der meine Vorfahren das Thema umgeben hatten, in Fleisch und Blut übergegangen."
Im Haus seiner Großeltern in São Paulo hatte der Autor eine Mahagonikommode voll vergilbter Fotos und stockfleckiger Dokumente entdeckt, Geburtsurkunden, echte und falsche Pässe, Visumanträge für Amerika und Briefe, in denen Albert Einstein und Thomas Mann für Hugo Simons demokratische Gesinnung bürgten, sowie das Manuskript eines autobiographischen Romans, den Cardoso nicht lesen konnte, weil er auf Deutsch geschrieben war. Der unvollendet gebliebene Text mit dem Titel "Seidenraupen" stand unter einem Motto von Goethe, das "Torquato Tasso" entnommen ist: "Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll / So ist das Leben mir kein Leben mehr. / Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt."
Der Zufallsfund dieses Manuskripts bildet die Keimzelle des vorliegenden Romans, mit dem der Nachgeborene seinem illustren Vorfahren, anders als von diesem gewollt und intendiert, seine Reverenz erweist: "Als er sich dazu entschieden hatte, das Buch zu schreiben, hatte er es als Chronik der Enttäuschung konzipiert, die seine Generation mit ihren politischen Utopien erlebt hatte . . . Die Konzentration auf den Klassenkampf hatte sich als Fehler erwiesen, sie hatte die Besten beider Seiten einander entfremdet und zugelassen, dass sich die Macht in Händen der Brutalen und Korrupten konzentrierte." Dieses pessimistische Fazit gilt für beide Generationen, für den Urgroßvater wie für den Enkel, und die Geschichte von Cardosos Recherchen ist so spannend und aufschlussreich wie Hugo Simons abenteuerliche Odyssee über Paris und Marseille, wo ein Gerechter unter den Völkern, Varian Fry vom American Rescue Committee, ihm die Flucht nach Brasilien ermöglichte.
Das Schreiben des Buchs kam der Quadratur des Kreises gleich, eine intellektuelle Herausforderung, die der Autor glänzend meistert: mit Blick auf brasilianische Leser, die nicht wissen, wer Samuel Fischer oder Harry Graf Kessler war und woran die aus den Trümmern des Kaiserreichs entstandene Weimarer Republik scheiterte. Und mit Blick auf deutsche Leser, denen der Name Getúlio Vargas nichts sagt, Brasiliens langjähriger Diktator, der zwischen Hitlerdeutschland und den Alliierten lavierte, die jüdische Kommunistin Olga Benario den Nazis auslieferte, die sie im KZ ermordeten, und gleichzeitig Stefan Zweig Asyl gewährte. Der wiederum stand vor einem doppelten Dilemma: Während Hitlers Wehrmacht einen Sieg nach dem anderen einfuhr, blieb er seiner pazifistischen Grundhaltung treu, und brasilianische Intellektuelle warfen ihm vor, die Vargas-Diktatur schönzureden. Vom Sieg der Barbarei überzeugt, ging Zweig zusammen mit seiner Frau in den Tod, während Hugo Simon nolens volens in Brasilien blieb, sich dort eingelebt und schließlich Wurzeln geschlagen hat: "Was für ein seltsamer Mischmasch er geworden war: ein Jude ohne Religion; ein Bankier ohne Geld; ein Sammler ohne seine Kunst; ein Bauer ohne Land."
HANS CHRISTOPH BUCH
Rafael Cardoso:
"Das Vermächtnis der
Seidenraupen". Geschichte einer Familie.
Aus dem brasilianischen
Portugiesisch von Luis Ruby. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 572 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2017Adieu, Wintergarten
In seinem Roman „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ erzählt der brasilianische Schriftsteller Rafael Cardoso eine Geschichte,
von der er selber lange nichts wusste – sie handelt von seinem Urgroßvater, dem deutschen Kunstsammler Hugo Simon
VON MAIKE ALBATH
Es ist der Wunschtraum eines jeden Schriftstellers: In einem vergessenen Koffer tauchen Briefe, Dokumente und Fotografien auf, die eine ganze Epoche lebendig machen. Das Berlin der Weimarer Republik, Max Liebermann, Albert Einstein, Harry Graf Kessler, Heinrich Mann! Eine elegante Villa in der Drakestraße, wo jeder, der etwas Interessantes beizusteuern hat, zum Mittagessen willkommen ist. Ein Gutshof im brandenburgischen Seelow, auf dem fortschrittliche Methoden der Landwirtschaft erprobt werden. Und dann der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts: Verfolgung und Vertreibung, Exil in Frankreich, die Emigration nach Brasilien.
Brasilien? Ja, es gab neben Stefan Zweig eine ganze Reihe illustrer Flüchtlinge zwischen Rio de Janeiro, Parati und Saõ Paulo. Hugo Simon heißt der Held dieser Geschichte, ein jüdischer Bankier aus Berlin, überzeugter Sozialist, kurze Zeit preußischer Finanzminister, außerdem Mäzen und einflussreicher Kunstsammler, voller Pläne und Tatendrang, unterstützt von seiner Frau Gertrud. Simon förderte George Grosz, Lyonel Feininger, Oskar Kokoschka und viele andere, war umschwärmt und sehr reich. Auf seinem Mustergut im sandigen Brandenburg führte er den preußischen Junkern vor, was sich anstellen ließ mit den vernachlässigten Ländereien.
Doch 1933 zerstoben jäh alle Visionen. Die Simons flohen nach Frankreich, 1941 erreichten sie mit gefälschten Visa und Pässen Brasilien und galten fortan als Tschechen. Ihre ältere Tochter Ursula war mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wolf Demeter, schon 1930 nach Paris gezogen; die Zweitgeborene Annette ging in Nizza zur Schule. Alle drei nahmen für die Flucht nach Brasilien eine französische Identität an.
Der brasilianische Schriftsteller Rafael Cardoso, 1964 in Rio de Janeiro als Enkel von Ursula Simon und Wolf Demeter geboren und in den USA aufgewachsen, wusste nichts von seiner deutschen Herkunft. Er kannte seinen Urgroßvater nur aus Familienanekdoten, seine Großeltern galten als Franzosen. Obwohl sie 1972 die deutsche Identität zurückerlangten, nannten sie sich weiterhin André und Renée Denis, auch die elegante Großtante hieß immer noch Malou. Über die Vergangenheit wurde beharrlich geschwiegen.
Als Kind liebte Cardoso die Ferien bei den Verwandten, wo man Scrabble spielte, viel las, und nachmittags bei Kaffee und Kuchen geistreiche Gespräche führte. Cardosos Vater Roger, Hugo Simons Enkel, 1931 in Paris geboren, starb mit nur 56 Jahren, lange bevor sein Sohn begann, Fragen zu stellen. Aus einem Impuls heraus rettete Rafael Cardoso bei der Haushaltsauflösung seiner Großeltern aus einer alten Mahagonikommode stapelweise Dokumente, in denen er zum ersten Mal auf die tatsächlichen Namen seiner Angehörigen stieß.
Einen großen Teil der Unterlagen konnte er nicht lesen. Sie landeten in einem Koffer und wurden vergessen. Erst als 1991 eine Exilforscherin bei ihm auftauchte, ihm erklärte, um wen es sich bei Hugo Simon handelte, suchte er nach dem Koffer und stellte ihn der Doktorandin zur Verfügung. Nun hat Cardoso selbst diesen Schatz gehoben. „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ nennt er seinen dickleibigen Roman.
Der Titel passt zu dem nie versiegenden Unternehmergeist Hugo Simons, der auf seine alten Tage in Curitiba noch eine Seidenraupenzucht gründete. Zugleich hat das Tier, das so beharrlich Fäden produziert, auch Eigenschaften, die zum Recherchieren gehören. Rafael Cardoso lernte Deutsch, las sich quer durch die Bibliotheken und forschte in Archiven. Sein Buch enthält ein umfangreiches Personenverzeichnis mit Kurzbiografien und eine Bibliografie mit weit über hundert Titeln. Von Kesslers Tagebüchern, Joseph Roths Feuilletons, Golo Manns „Erinnerungen und Gedanken“, über Stefan Zweigs „Welt von gestern“, Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“, Peter Gays Darstellung der Weimarer Kulturelite und unveröffentlichten Tagebüchern des Journalisten Ernst Feder, einem engen Freund Stefan Zweigs in Rio, bis hin zu Forschungsarbeiten über die deutschsprachige Pariser Publizistik und die deutsche Emigration nach Brasilien fließt alles in Cardosos Roman ein. Allein diese Bibliografie ist eine regelrecte Fundgrube.
Für die brasilianische Literatur mag das eine Pioniertat sein. Für den deutschen Leser verhält sich die Sache etwas anders. Während die Figuren des Urgroßvaters Hugo Simon und die des Großvaters Wolf Demeter einem vor allem in der zweiten Hälfte des Romans näher rücken und man ihr Heimweh, ihre Fremdheit und ihre Ängste durchaus spürt, wirkt der erste Teil von „Das Vermächtnis der Seidenraupe“ merkwürdig statisch.
Der Autor entscheidet sich für eine historische Rekonstruktion und fertigt Tableaus an, Momentaufnahmen von bestimmten Jahren, die für die Familie zu Umschlagpunkten wurden. Ein Mittagessen in der Drakestraße im Sommer 1930, ein Besuch im Varieté Wintergarten ein Jahr später, eine Sitzung oppositioneller Köpfe, ein Wochenende in Seelow. Die Perspektiven wechseln, mal schaut Gertrud auf das, was sich vor ihren Augen abspielt, mal Ursula oder Annette.
Im Verlauf des Romans hat man dann häufiger an Wolfs Innenleben teil, aber die meisten Episoden werden aus Hugos Blickwinkel geschildert. Während die Überfahrt nach Brasilien, die Ankunft dort und die verschiedenen Stationen zwischen Rio und Curitiba eine gewisse Spannung entfalten und Neues bieten, stellt sich am Anfang der Romans der Eindruck von Kulissenschieberei ein.
Das Ganze hat etwas von Staffage, und irgendwie sieht man dauernd die Kostümbildnerin und den Bühnentischler vorbei huschen. Die Mischung aus authentischem Personal und zwangsläufig erfundenen Dialogen und Innenschau wirkt immer wieder gekünstelt. So faszinierend das Schicksal der realen Simons ist, es hapert an einer erzählerischen Durchdringung, an ästhetischem Überschwang, die Erzählweise bleibt konventionell, die Sprache zu durchschnittlich.
Man muss Cardosos „Vermächtnis der Seidenraupen“ gar nicht an Feuchtwangers „Der Teufel in Frankreich“ oder Anna Seghers „Transit“ messen. Auch dem Vergleich mit Ursula Krechels Migrationsromanen „Shanghai fern von wo“ (2008) und „Landgericht“ (2012) hält es nicht stand. Edmund De Waals Familienrecherche „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ (2014), die Cardoso als Inspiration nennt, ist ebenfalls sehr viel mitreißender.
Vielleicht hätte der Schriftsteller den Prozess seiner Annäherung an das Sujet, der in drei Intermezzi nur kurz aufscheint, ausführlicher darstellen sollen. Das emotionale Band zu den früheren Generaionen scheint durch Flucht und Vertreibung abgerissen und nur schwer neu zu knüpfen zu sein. Der dritte und letzte Teil, der immerhin beinahe die Hälfte des Romans einnimmt, entschädigt den Leser dann ein wenig. Hier endlich lodert Brasilien auf, hier spürt man, dass Rafael Cardoso vertrautes Terrain beschreitet. Die Aufzucht von Seidenraupen ist ein mühsames Unterfangen.
Cardosos Vater starb, lange bevor
der Sohn begann, Fragen nach
der Familiengeschichte zu stellen
Das abgerissene Band
zu den Vorfahren lässt sich nur
mit Mühe wieder knüpfen
Als der Haushalt seiner Großeltern aufgelöst wurde, stieß Cardoso auf Stapel von Familiendokumenten. Dieses Foto zeigt seine Großmutter Gertrud Simon, den Maler Max Liebermann, Albert Einstein und die Künstler Aristide Maillol und Renée Sintenis (v.l.n.r.) am 15. Juli 1930, Drakestraße 3, Berlin-Tiergarten. Foto: Rafael Cardoso
Rafael Cardoso: Das Vermächtnis der Seidenraupen. Roman. Aus dem Englischen von Luis Ruby. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 576 Seiten, 25 Euro. E-Book 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Roman „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ erzählt der brasilianische Schriftsteller Rafael Cardoso eine Geschichte,
von der er selber lange nichts wusste – sie handelt von seinem Urgroßvater, dem deutschen Kunstsammler Hugo Simon
VON MAIKE ALBATH
Es ist der Wunschtraum eines jeden Schriftstellers: In einem vergessenen Koffer tauchen Briefe, Dokumente und Fotografien auf, die eine ganze Epoche lebendig machen. Das Berlin der Weimarer Republik, Max Liebermann, Albert Einstein, Harry Graf Kessler, Heinrich Mann! Eine elegante Villa in der Drakestraße, wo jeder, der etwas Interessantes beizusteuern hat, zum Mittagessen willkommen ist. Ein Gutshof im brandenburgischen Seelow, auf dem fortschrittliche Methoden der Landwirtschaft erprobt werden. Und dann der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts: Verfolgung und Vertreibung, Exil in Frankreich, die Emigration nach Brasilien.
Brasilien? Ja, es gab neben Stefan Zweig eine ganze Reihe illustrer Flüchtlinge zwischen Rio de Janeiro, Parati und Saõ Paulo. Hugo Simon heißt der Held dieser Geschichte, ein jüdischer Bankier aus Berlin, überzeugter Sozialist, kurze Zeit preußischer Finanzminister, außerdem Mäzen und einflussreicher Kunstsammler, voller Pläne und Tatendrang, unterstützt von seiner Frau Gertrud. Simon förderte George Grosz, Lyonel Feininger, Oskar Kokoschka und viele andere, war umschwärmt und sehr reich. Auf seinem Mustergut im sandigen Brandenburg führte er den preußischen Junkern vor, was sich anstellen ließ mit den vernachlässigten Ländereien.
Doch 1933 zerstoben jäh alle Visionen. Die Simons flohen nach Frankreich, 1941 erreichten sie mit gefälschten Visa und Pässen Brasilien und galten fortan als Tschechen. Ihre ältere Tochter Ursula war mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wolf Demeter, schon 1930 nach Paris gezogen; die Zweitgeborene Annette ging in Nizza zur Schule. Alle drei nahmen für die Flucht nach Brasilien eine französische Identität an.
Der brasilianische Schriftsteller Rafael Cardoso, 1964 in Rio de Janeiro als Enkel von Ursula Simon und Wolf Demeter geboren und in den USA aufgewachsen, wusste nichts von seiner deutschen Herkunft. Er kannte seinen Urgroßvater nur aus Familienanekdoten, seine Großeltern galten als Franzosen. Obwohl sie 1972 die deutsche Identität zurückerlangten, nannten sie sich weiterhin André und Renée Denis, auch die elegante Großtante hieß immer noch Malou. Über die Vergangenheit wurde beharrlich geschwiegen.
Als Kind liebte Cardoso die Ferien bei den Verwandten, wo man Scrabble spielte, viel las, und nachmittags bei Kaffee und Kuchen geistreiche Gespräche führte. Cardosos Vater Roger, Hugo Simons Enkel, 1931 in Paris geboren, starb mit nur 56 Jahren, lange bevor sein Sohn begann, Fragen zu stellen. Aus einem Impuls heraus rettete Rafael Cardoso bei der Haushaltsauflösung seiner Großeltern aus einer alten Mahagonikommode stapelweise Dokumente, in denen er zum ersten Mal auf die tatsächlichen Namen seiner Angehörigen stieß.
Einen großen Teil der Unterlagen konnte er nicht lesen. Sie landeten in einem Koffer und wurden vergessen. Erst als 1991 eine Exilforscherin bei ihm auftauchte, ihm erklärte, um wen es sich bei Hugo Simon handelte, suchte er nach dem Koffer und stellte ihn der Doktorandin zur Verfügung. Nun hat Cardoso selbst diesen Schatz gehoben. „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ nennt er seinen dickleibigen Roman.
Der Titel passt zu dem nie versiegenden Unternehmergeist Hugo Simons, der auf seine alten Tage in Curitiba noch eine Seidenraupenzucht gründete. Zugleich hat das Tier, das so beharrlich Fäden produziert, auch Eigenschaften, die zum Recherchieren gehören. Rafael Cardoso lernte Deutsch, las sich quer durch die Bibliotheken und forschte in Archiven. Sein Buch enthält ein umfangreiches Personenverzeichnis mit Kurzbiografien und eine Bibliografie mit weit über hundert Titeln. Von Kesslers Tagebüchern, Joseph Roths Feuilletons, Golo Manns „Erinnerungen und Gedanken“, über Stefan Zweigs „Welt von gestern“, Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“, Peter Gays Darstellung der Weimarer Kulturelite und unveröffentlichten Tagebüchern des Journalisten Ernst Feder, einem engen Freund Stefan Zweigs in Rio, bis hin zu Forschungsarbeiten über die deutschsprachige Pariser Publizistik und die deutsche Emigration nach Brasilien fließt alles in Cardosos Roman ein. Allein diese Bibliografie ist eine regelrecte Fundgrube.
Für die brasilianische Literatur mag das eine Pioniertat sein. Für den deutschen Leser verhält sich die Sache etwas anders. Während die Figuren des Urgroßvaters Hugo Simon und die des Großvaters Wolf Demeter einem vor allem in der zweiten Hälfte des Romans näher rücken und man ihr Heimweh, ihre Fremdheit und ihre Ängste durchaus spürt, wirkt der erste Teil von „Das Vermächtnis der Seidenraupe“ merkwürdig statisch.
Der Autor entscheidet sich für eine historische Rekonstruktion und fertigt Tableaus an, Momentaufnahmen von bestimmten Jahren, die für die Familie zu Umschlagpunkten wurden. Ein Mittagessen in der Drakestraße im Sommer 1930, ein Besuch im Varieté Wintergarten ein Jahr später, eine Sitzung oppositioneller Köpfe, ein Wochenende in Seelow. Die Perspektiven wechseln, mal schaut Gertrud auf das, was sich vor ihren Augen abspielt, mal Ursula oder Annette.
Im Verlauf des Romans hat man dann häufiger an Wolfs Innenleben teil, aber die meisten Episoden werden aus Hugos Blickwinkel geschildert. Während die Überfahrt nach Brasilien, die Ankunft dort und die verschiedenen Stationen zwischen Rio und Curitiba eine gewisse Spannung entfalten und Neues bieten, stellt sich am Anfang der Romans der Eindruck von Kulissenschieberei ein.
Das Ganze hat etwas von Staffage, und irgendwie sieht man dauernd die Kostümbildnerin und den Bühnentischler vorbei huschen. Die Mischung aus authentischem Personal und zwangsläufig erfundenen Dialogen und Innenschau wirkt immer wieder gekünstelt. So faszinierend das Schicksal der realen Simons ist, es hapert an einer erzählerischen Durchdringung, an ästhetischem Überschwang, die Erzählweise bleibt konventionell, die Sprache zu durchschnittlich.
Man muss Cardosos „Vermächtnis der Seidenraupen“ gar nicht an Feuchtwangers „Der Teufel in Frankreich“ oder Anna Seghers „Transit“ messen. Auch dem Vergleich mit Ursula Krechels Migrationsromanen „Shanghai fern von wo“ (2008) und „Landgericht“ (2012) hält es nicht stand. Edmund De Waals Familienrecherche „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ (2014), die Cardoso als Inspiration nennt, ist ebenfalls sehr viel mitreißender.
Vielleicht hätte der Schriftsteller den Prozess seiner Annäherung an das Sujet, der in drei Intermezzi nur kurz aufscheint, ausführlicher darstellen sollen. Das emotionale Band zu den früheren Generaionen scheint durch Flucht und Vertreibung abgerissen und nur schwer neu zu knüpfen zu sein. Der dritte und letzte Teil, der immerhin beinahe die Hälfte des Romans einnimmt, entschädigt den Leser dann ein wenig. Hier endlich lodert Brasilien auf, hier spürt man, dass Rafael Cardoso vertrautes Terrain beschreitet. Die Aufzucht von Seidenraupen ist ein mühsames Unterfangen.
Cardosos Vater starb, lange bevor
der Sohn begann, Fragen nach
der Familiengeschichte zu stellen
Das abgerissene Band
zu den Vorfahren lässt sich nur
mit Mühe wieder knüpfen
Als der Haushalt seiner Großeltern aufgelöst wurde, stieß Cardoso auf Stapel von Familiendokumenten. Dieses Foto zeigt seine Großmutter Gertrud Simon, den Maler Max Liebermann, Albert Einstein und die Künstler Aristide Maillol und Renée Sintenis (v.l.n.r.) am 15. Juli 1930, Drakestraße 3, Berlin-Tiergarten. Foto: Rafael Cardoso
Rafael Cardoso: Das Vermächtnis der Seidenraupen. Roman. Aus dem Englischen von Luis Ruby. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 576 Seiten, 25 Euro. E-Book 22,99 Euro.
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Ein lesenswerter Roman [...] Dem heutigen Leser mutet das lebendig geschriebene Buch wie ein Abenteuerroman an. Eva Karnofsky Westdeutscher Rundfunk, WDR 5 20170114