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In seinem neuen Roman beschwört John le Carré noch einmal Melancholie und Mythologie
des alten Spionagegeschäfts. Und geht sehr weit zurück in die kalte Vergangenheit
VON FRITZ GÖTTLER
Es geht noch einmal zurück in die Kälte im neuen Roman von John le Carré. Zurück nach Ostberlin, das der Schauplatz war in den Fünfzigern und frühen Sechzigern im Roman, mit dem der Autor berühmt wurde, „Der Spion, der aus der Kälte kam“, 1963. Zurück zu Alec Leamas, dem beinharten Agenten des britischen MI6, der damals in einer verwickelten, undurchschaubaren Operation um Schein und Suggestion eine entscheidende Rolle spielte – ohne immer zu wissen, welche das war. Es ging um jene Fake Facts, mit denen Geheimdienste die gegnerische Abwehr verwirren und zu ungeschickten, leicht berechenbaren Reaktionen bewegen wollen, zum kunstvollen Aufbau getürkter Identitäten und Karrieren, dem klassischen Doppel- und Triplespiel. Alec Leamas hat seinen großen Einsatz damals mit dem Leben bezahlt, er wurde beim Versuch, über die Mauer aus der DDR zu fliehen, erschossen, gemeinsam mit der Frau, in die er sich, eher ungeplant, verliebt hatte, Liz Gold. Während auf der anderen Seite der Mauer George Smiley wartete, in diversen Romanen von John le Carré der ominöse Drahtzieher im MI6.
Agentengeschichten sind aber niemals abgeschlossen, und auch die alte Geschichte um den Spion, der aus der Kälte kam, wird wieder aktuell, als die Kinder von Alec und Liz plötzlich das Schicksal ihrer Eltern und deren Tod an der Mauer prüfen, ein Prozess steht plötzlich im Raum, der peinlich werden könnte für den Geheimdienst, womöglich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Der alte Fall muss neu verhandelt werden. Dumm nur, dass die Akten von damals mehrfach filetiert oder ganz entwendet wurden.
Da George Smiley nicht verfügbar ist zur Aufklärung – keiner scheint zu wissen, wo er steckt, ob es ihn überhaupt noch gibt –, halten sich die Leute der jetzigen MI6-Generation an seinen engsten Mitarbeiter und Komplizen, Peter Guillam. Der ist pensioniert, lebt auf seinem Bauernhof in der Bretagne und wird nun dringlich zur Inquisition befohlen in die Zentrale, die früher als der „Circus“ bekannt war. Peter muss sich, unter zynischer Aufsicht farbloser Jungbürokraten, durch die Dokumente von damals hindurchlesen und soll Auskunft geben über Lücken, Auslassungen, fingierte Momente. „Wenn wir erst mal die Wahrheit kennen, werden wir auch wissen, wie sie zu manipulieren ist.“ Peters Aufenthalt in London wird zur Geisterstunde. Natürlich ist er entschlossen zu lügen, solange es geht. Spooks werden die Agenten gern genannt, Gespenster.
Es ist kein Spionageroman, den der eben 86 gewordene John le Carré mit „Vermächtnis der Spione“ vorlegt, eher ein grandioses Buch über die Unmöglichkeit, einen Roman zu schreiben über Spione, deren Job es ist, Ereignisse zu leugnen, zu vernebeln, umzuschreiben. Je dichter der Wirbel von Berichten, Memos, Tonbandprotokollen wird, durch den Guillam sich hindurcharbeitet (und den er zum Großteil selbst entfacht hat), desto eindeutiger wird, wie deren „Authentizität“ auf Lückenhaftigkeit basiert.
„Eine der faszinierenden Momente der Spionage-Welt ist, wie in ihr die Gesellschaft reflektiert wird, der sie dient“, resümiert le Carré, der selbst einige Jahre als spook gearbeitet hatte, seine lebenslange Arbeit. „Wenn man die Psychologie einer Nation wirklich untersuchen will – sie ist eingeschlossen in der ,secret world‘.“ Wie ein Spionage-Freizeitpark kommt Peter der Dienst heute vor. Eine traurige, melancholische Stimmung liegt über dem Buch, das noch einmal die Praxis und Mythologie der Spionage in der Zeit vor der totalen Überwachung durch Videokameras und Satelliten, durch die digitalen Techniken reflektiert. Es beschwört noch einmal Spionagearbeit als Handwerk, mit toten Briefkästen, kunstvoll inszeniertem körperlichem Kontakt (und spontanen, langen Motorradfahrten). Peter erinnert sich an eine Informantin, die ihm regelmäßig Informationen aus dem Innern der DDR-Bürokratie und der Stasi zukommen ließ, aber nicht nur die, bei Begegnungen in Budapest oder Warschau. „Lässigkeit ist alles, aber nur ja nicht zu dick aufgetragen. Kein Blickkontakt, aber auch nichts zu Angestrengtes an der Art, wie wir uns gegenseitig ignorieren … Aber was ist mit dem lässigen Hüftschwung, den sie plötzlich sehen lässt, was mit dem aufblitzenden Erkennen in ihren großen mandelförmigen Augen? Einen Sekundenbruchteil lang – aber länger, als ich erwartet habe – legen sich unsere rechten Hände ineinander … Ist sie wahnsinnig geworden? Oder ich? Und was war mit dem kurzen Willkommenslächeln? Oder habe ich mir das nur eingebildet?“
Als Tulip wird die Frau geführt, die Ostagenten hatten damals Blumennamen. Agentengeschichten, zumal die von John le Carré, sind immer auch Liebesgeschichten. Später, als Tulip sich beobachtet und gefährdet fühlt, wird ihre Exfiltration organisiert, in einer komplexen Operation wird sie aus Ostberlin geholt und in die britische Botschaft in Prag gebracht, dann nach Paris und nach Großbritannien. Eine Operation, während der sie eine Nacht mit Alec Leamas verbringt, in einem alten Trabi, eingeschneit, etwa zehn Kilometer entfernt von Bad Schandau, und eine Nacht mit Peter, in einem Hotel in Prag. „Also Peter“, fragt einer der jungen Bürokraten, „unter uns Männern. Haben Sie Tulip gevögelt oder nicht?“ Natürlich streitet Peter Guillam das ab. In der Le-Carré-Verfilmung von „Dame, König, As, Spion“ von Tomas Alfredson, 2011, wird Peter von Benedict Cumberbatch verkörpert, dessen coole Erscheinung sich mit der durchtriebenen Emotionalität im neuen Roman reibt. Natürlich ist Peter entschlossen, zu lügen, solange es geht. Aber: „Sie hatte mich gestärkt“, gibt er später zu. „Sie hatte mich zu dem Mann gemacht, der ich bis jetzt nicht gewesen war.“ Es geht um die „Anmut“ der Spione in diesem Roman: „Aber hatte ich nicht ein ganzes Leben lang jede Stunde ihres Lebens mit ihr geteilt? War ich nicht auf jeden ihrer spontanen Einfälle, jeden Taumel der Reinheit, Lust, Revolte und Rache eingegangen? Nennen Sie mir irgendeine andere Frau, die ich so lange und so intim gekannt hatte, bevor ich jemals mit ihr schlief.“
John le Carré: Das Vermächtnis der Spione. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 317 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
John le Carré, 2016 in Berlin
Foto: Jens Kalaene/dpa
Agentengeschichten
sind Lovestorys:
Claire Bloom und Richard
Burton in der Verfilmung
von John Le Carrés
„Der Spion, der aus der
Kälte kam“, 1965, von
Martin Ritt.
Foto: imago stock & people
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John le Carré hat es noch einmal getan: Sein neuer Agententhriller "A Legacy of Spies" belebt die berühmtesten Figuren des Autors neu, auch den legendären George Smiley.
LONDON, 13. September
Man sagt, dass in den letzten Augenblicken vor dem Tod das ganze Leben filmartig an einem vorbeiziehe. Wenn dem so ist, würde sich jener durch das verstärkte Bewusstsein der Endlichkeit angefachte Prozess des Erinnerns, des Zurückblickens und der Selbstbefragung über das, was war und hätte sein können, wie im Zeitraffer abspielen. Bei John le Carré findet dieser Prozess im Zeitlupentempo statt. Seit fast sechzig Jahren erkundet er insbesondere in seinen Romanen über den Kalten Krieg nicht nur die Psychologie der gebrochenen Weltmacht Großbritannien, das Spannungsfeld zwischen Idealismus und Realismus sowie die moralischen Ambiguitäten und Äquivalenzen des "lizenzierten Betrugs", als den er die Agententätigkeit bezeichnet hat.
Le Carrés Spionagegeschichten sind aber auch eine Art von Selbstsuche. Am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn, als er unter diplomatischem Deckmantel noch für den britischen Auslandsgeheimdienst tätig war, legte sich David Cornwell das Pseudonym Le Carré zu. In seinen Büchern wiederum ist der Autor Le Carré aber David Cornwell auf der Spur, der in verschiedene fiktive Figuren eingegangen ist. Le Carré eruiert dessen Ungereimtheiten, offenbart dessen verwundbare Stellen, lüftet dessen Überzeugungen und hinterfragt dessen Beweggründe. Wenn der Autor meint, Cornwell zu nahe zu treten, streut er dem Leser Sand in die Augen.
John le Carré erweist sich immer wieder als Meister der Verschleierung, auch in seinem jüngsten Roman, "A Legacy of Spies" (Das Vermächtnis der Spione), der gerade in Großbritannien erschienen ist. Er endet allerdings mit einem kristallklaren Bekenntnis, in dem sich Zorn mit Trauer vermengt. Überhaupt hat das Buch den Charakter eines wehmütigen Rückblicks auf ein sich dem Ende zuneigendes Leben. Der personale Erzähler ist ein betagter Mann, der sich in der Gegenwart nicht mehr zu Hause fühlt.
"A Legacy of Spies" ist noch einmal eine Reise in die Vergangenheit des Kalten Krieges. Der Roman dient zugleich als Vor- und Nachgeschichte zu jenem Täuschungsmanöver des britischen Geheimdienstes, das in Le Carrés erstem Bestseller, "Der Spion, der aus der Kälte kam", mit der Erschießung des Agenten Alec Leamas und seiner arglosen Geliebten Liz Gold an der frischerrichteten Berliner Mauer endete. Mehr als fünfzig Jahre später stellt sich im neuen Buch heraus, dass beide jeweils ein uneheliches Kind hatten. Die Schadenersatzkultur, die Le Carré wie so viele andere Erscheinungen des Zeitgeistes zu beklagen scheint, veranlasst diese beiden Nachkommen, den zynischen, kokainsüchtigen Sohn von Leamas und die nach ihrer idealistischen Mutter kommende Tochter von Liz Gold, die britische Regierung zur Rechenschaft zu ziehen für den Tod ihrer Eltern.
Die Akten sind bereinigt worden, die Geheimdienstanwälte müssen sich also anders behelfen, um schlagende Argumente für die Verteidigung zu liefern und einen Skandal zu verhindern. Und so wird Peter Guillam, der damals an der Operation beteiligt war, aus dem Ruhestand in der Bretagne in die neue Londoner Zentrale bestellt. Der ehemalige Adlatus des Meisterspions George Smiley soll die Lücken ausfüllen. Le Carré verwendet den Kunstgriff, das Buch in der Form einer Niederschrift Guillams zu verfassen, den er schon in "Der heimlich Gefährte" eingesetzt hat.
Zu den zahlreichen Unwahrscheinlichkeiten der Handlung von "Das Vermächtnis der Spione" zählt, dass der Geheimdienst, ohne dass sich ein Vermerk zur Adresse fände, über all die Jahre hinweg jenen sicheren Unterschlupf mitsamt der Haushälterin aufrechterhalten hat, der bei der früheren Operation zum Schutz eines ostdeutschen Doppelagenten als Kommandozentrale gedient hatte. Guillam führt die Anwälte dorthin. In den dunklen Zimmern, in denen die Zeit stehengebleiben ist wie im Haus der sitzengelassenen Braut in Dickens' "Große Erwartungen", rekonstruiert der ehemalige Agent die Ereignisse von damals. Die dort in den Büchern versteckten Akten helfen ihm dabei auf die Sprünge.
Über diesem Geflecht aus Vergangenheit und Gegenwart liegt der lange Schatten von George Smiley, dessen Verbleib erst auf den allerletzten Seiten des neuen Buchs enthüllt wird. Smiley tritt hier als einer der Köpfe des Manövers in Erscheinung, obwohl er sich in dem ursprünglichen Roman in seinen Forschungen über das deutsche siebzehnte Jahrhundert vergraben hatte, weil ihm die Operation nicht behagte. "Er findet sie verwerflich. Er sieht die Notwendigkeit ein, aber er will damit nichts zu tun haben", teilt der Geheimdienstchef, den Le Carré als Control in die Literaturgeschichte eingeführt hat, dem Agenten Leamas in "Der Spion, der aus der Kälte kam" mit. Nun aber ist Guillam verdrossen darüber, dass er in die Mangel genommen wird. Dabei sei er doch nur ein naiver Untergebener gewesen. Drahtzieher seien vielmehr die "Großmeister der Täuschung", George Smiley und dessen Vorgesetzter Control, gewesen.
Es ist das Privileg eines Autors, seinen Stoff nach eigenem Belieben bearbeiten zu können. Dem Leser verlangt Le Carré dabei allerdings eine willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit ab. Nicht die geringste Hürde, die dabei überwunden werden muss, ist das Alter der Protagonisten. Guillam dürfte unterdessen das Alter Le Carrés erreicht haben, der demnächst seinen sechsundachtzigsten Geburtstag feiert. Der pensionierte Spion wandert jedoch ebenso agil durch die Straßen Londons, wie sein literarischer Schöpfer mit der Feder umgeht. Guillam bildet sich sogar ein, den hünenhaften Sohn von Leamas überwältigen zu können, als dieser ihn mit einer Pistole bedroht. Bei Smiley überdehnt Le Carré allerdings die Vorstellungskraft. Er hat ihn schon einmal, in "Dame, König, As, Spion", um mehrere Jahre jünger gemacht. Die historischen Begebenheiten lassen ihm jetzt wenig Spielraum. Der eulenhafte Intellektuelle, der das Gewissen eines gewissenlosen Dienstes verkörpert, muss um die hundert Jahre alt sein, als Guillam ihn schließlich in einer Freiburger Universitätsbibliothek aufspürt. Trotzdem springt der beleibte alte Herr, der mit seinen schlecht sitzenden Kleidern wie eine Karikatur seiner selbst geworden ist, auf die Füße, um seinen ehemaligen Schützling zu begrüßen.
Le Carré hat "Der Spion, der aus der Kälte kam" einmal als eine dürftig verkleidete innere Entladung bezeichnet, mit der er seiner Desillusionierung über die Geheimdienstwelt Ausdruck verliehen hat. "Das Vermächtnis der Spione" gipfelt während der Wiederbegegnung der beiden Veteranen des Kalten Krieges in einer ähnlichen Entladung über die aktuellen politischen Missstände. Das Gespräch kreist um die im Kern von Le Carrés Büchern stehende Frage, ob der Zweck die Mittel heilige. Control hat nie daran gezweifelt: "Ich meine, man kann ja schlecht weniger schonungslos als der Gegner vorgehen, nur weil die Politik der eigenen Regierung eine friedfertige ist, oder?", lässt Le Carré die ihm offenkundig unliebsame Figur sagen. Smiley hingegen hat sein Leben lang darüber gegrübelt. Nun erklärt er, dass ihn bei dem schmutzigen Geschäft ein hehres Ziel getrieben habe: die Einheit Europas. "Wenn ich herzlos gewesen bin, war ich herzlos für Europa." Für ein Europa, das aus der Dunkelheit des Zweiten Weltkrieges in ein neues Zeitalter der Vernunft führen sollte. Mit einem verächtlichen Hieb gegen Theresa Mays Formulierung über den Weltbürger, der nirgendwo Bürger sei, macht Le Carré seiner bitteren Enttäuschung über den Brexit Luft. Rückblickend verleiht er Smileys Werk doch eine moralische Rechtfertigung: den Glauben, für eine höhere Sache gehandelt zu haben. Auch das ist ein Vermächtnis der Spione.
GINA THOMAS
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