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Vor fünfzig Jahren beendete in Chile ein Militärputsch die Regierungszeit des Sozialisten Salvador Allende. In seinem Roman "Das verschwundene Meer" beschäftigt sich der Autor Carlos Franz mit den Folgen.
Am 11. September 1973 putschte sich Augusto Pinochet an der Spitze einer Militärjunta an die Macht in Chile. Pünktlich zum fünfzigsten Jahrestag erscheint im Mitteldeutschen Verlag die Übersetzung eines Romans des chilenischen Autors Carlos Franz aus dem Jahr 2005. "Das verschwundene Meer" fühlt sich in das hochkomplexe Thema der Schuld und der Grauzone zwischen Tätern und Opfern ein.
Kurz nach dem offiziellen Ende der Militärdiktatur, zwanzig Jahre sind seit dem Putsch vergangen, kehrt die Protagonistin des Romans, die chilenische Juristin Laura, aus ihrem Berliner Exil nach Pampa Hundida zurück. In dem fiktiven Oasenstädtchen erlebte sie als junge Provinzrichterin die erste Phase der Diktatur. Der Ort liegt in der Atacama, jener Wüste im Norden Chiles, die dem Roman von Carlos Franz im spanischen Original seinen Titel gibt. Die Wüste, so erfahren wir, war früher ein Meer - daher der deutsche Titel des von Lutz Kliche klug übersetzten Romans.
Eine Frage ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter Claudia schreckt Laura aus der Geruhsamkeit ihres Berliner Lebens auf und lässt sie die lange Reise zurück nach Chile und in die Vergangenheit antreten: "Wo warst du, Mamá, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt passierten?" Laura ist mittlerweile Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und international gefeierte Autorin eines Buches mit dem mysteriösen Titel "Moira", das von "der Mutter aller Götter" handelt, "die noch über Apollon und Dionysos stand, über dem beharrlichen Streben nach Ausgleich und der Sehnsucht nach dem Abgrund." Der metaphorisch-philosophische Wettstreit zwischen Apollon und Dionysos durchzieht leitmotivisch den Roman - nicht zufällig ist ihm ein Zitat aus Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" vorangestellt.
Der örtliche Vertreter der Militärdiktatur, der charismatische Major Cáceres, macht zwanzig Jahre zuvor die junge Richterin Laura, die sich auf der Seite der Rationalität verortet und an die apollinische Macht der blinden Justitia glaubt, zur Zeugin eines Militärprozesses, in dessen Verlauf Dutzende politische Gefangene zum Tode verurteilen werden: "Er ließ sie einen nach dem anderen an aufeinanderfolgenden Tagen erschießen, als wolle er seine Macht verlängern." Laura, obwohl höchste Vertreterin der Judikative in Pampa Hundida, wagt es nicht, zugunsten der Gefangenen und der Gerechtigkeit einzugreifen. Sie lässt sich stattdessen, so gesteht sie ihrer Tochter in einem langen Brief, auf einen Pakt mit dem Teufel ein: Für jede Nacht, die sie mit dem Major verbringt, schenkt dieser einem seiner Gefangenen das Leben.
Der Sex zwischen Laura und dem Major, den der Roman aus Lauras Perspektive detailliert beschreibt, ist von Gewalt und Dominanz geprägt. Was sie für die Lesenden schwer erträglich schildert, ist Missbrauch, Vergewaltigung, Folter. Laura enthüllt zwanzig Jahre nach den Ereignissen, dass sie nicht nur - aus ihrer Sicht - schuldig geworden ist, indem sie trotz ihrer Position zuließ, dass Unschuldige verurteilt und hingerichtet wurden. Sie ist gleichzeitig selbst ein traumatisiertes Opfer. Der Roman macht die lähmende Omnipräsenz von Gewalt und Angst in einem totalitären Staat geradezu körperlich spürbar: Die Gründe, aus denen Laura es nicht wagt, juristisch gegen die Erschießungen vorzugehen, "waren nichts als Angst, Claudia, eine unwürdige, armselige, erbärmliche Angst. Eine Angst, die kein Mitleid verdient. Eine Angst, die sich wie eine Ratte im Mauseloch meiner Vernunft verkriechen wollte, im Versteck meiner juristischen Argumente."
Das in Chile noch immer hochaktuelle politische Thema der Verschwundenen, auf das der deutsche Titel noch deutlicher als das Original verweist, wird in Franz' Roman subtil aufgegriffen, nicht zuletzt anhand der Figur des opportunistischen Justizministers Velasco, Lauras ehemaligem Juraprofessor und Mentor. Der von seiner körperlichen Behinderung gezeichnete Greis versucht in einem zwischen alter Verbundenheit und unterschwelliger Bedrohung oszillierenden Gespräch, Laura von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Vergangenheit ruhen zu lassen: "'Es ist ein Schuss gefallen . . .' 'Und Sie fürchten jetzt, dass man ihn bis in Ihr Ministerium hört', unterbrach ihn Laura. 'Im ganzen Land wird man ihn hören, Laura, wenn wir ihm nicht sofort einen Schalldämpfer verpassen. Also gib mir die Akte, und du kannst die ganze Angelegenheit vergessen.'" Lauras Tochter, die jugendliche Aufklärerin Claudia, steht mit ihrem Enthusiasmus hingegen für den Willen der nachgeborenen Generationen, die Vergangenheit Chiles nicht ruhen zu lassen und sie auch juristisch aufzuarbeiten.
Lauras Beziehung zu dem Major, ihrem Folterer und Vergewaltiger, reflektiert sie selbst auf eine Art und Weise, die die Lesenden mit ihr in den Abgrund blickt lässt, den Cáceres geschaffen hat. Ihr offensichtlich schambesetzter Genuss an Dominanz und Unterwerfung, der an Schilderungen des Stockholm-Syndroms erinnert, bleibt ihr letztlich selbst unerklärlich, sie nennt ihren Brief an die Tochter "ein zum Scheitern verurteiltes Bemühen, das Unsägliche verständlich zu machen". Das Unsägliche umfasst in diesem Roman nicht nur Lauras (und damit stellvertretend Justitias) Versagen angesichts des Unrechts der Diktatur, sondern auch das unerklärliche Begehren, das Cáceres in ihr auslöst: "Der Körper meines Henkers war, so absurd es schien, die rettende Planke im Untergang der Wüste, in dieser Leere, die um uns her versank und verschwand. Mein Henker war mein einziger Schutz gegen seine eigene Gewalt, der einzige Begleiter in dieser absoluten Einsamkeit." Die Gewalt und die dionysische "Sehnsucht nach dem Abgrund" haben in der Welt, wie Franz sie entwirft, einer Welt, in der Opfer und Täter nicht mehr klar voneinander abgegrenzt sind, einen festen Platz. LENA SEAUVE
Carlos Franz: "Das verschwundene Meer". Roman.
Aus dem chilenischen Spanisch von Lutz Kliche. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023. 480 S., geb., 30,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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