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Das Elend der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert verstärkte den Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und schürte die Angst vor einer Revolution. Preußen führte daraufhin als erste europäische Großmacht eine progressive Einkommensteuer ein. Mit ihr begann die Revolution der Gleichheit und der Übergang zur sozialliberalen Gouvernementalität, die auch Erfolge zeitigte. So nahm die seit Jahrhunderten wachsende Ungleichheit nach dem Ersten Weltkrieg erstmals ab. In seiner großen Studie zeichnet Marc Buggeln die spannende Geschichte der Steuerpolitik nach und zeigt, dass die progressiven Steuern stets…mehr

Produktbeschreibung
Das Elend der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert verstärkte den Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und schürte die Angst vor einer Revolution. Preußen führte daraufhin als erste europäische Großmacht eine progressive Einkommensteuer ein. Mit ihr begann die Revolution der Gleichheit und der Übergang zur sozialliberalen Gouvernementalität, die auch Erfolge zeitigte. So nahm die seit Jahrhunderten wachsende Ungleichheit nach dem Ersten Weltkrieg erstmals ab. In seiner großen Studie zeichnet Marc Buggeln die spannende Geschichte der Steuerpolitik nach und zeigt, dass die progressiven Steuern stets umstritten geblieben sind. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus stehen sie erneut im Zentrum gesellschaftlicher Verteilungskämpfe.


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Autorenporträt
Marc Buggeln ist Professor für regionale Zeitgeschichte und Public History an der Universität Flensburg und Direktor der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (Schleswig).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Florian Meinel liest das Buch des Berliner Historikers Marc Buggeln mit Interesse. Die Studie fordert Meinel zwar einiges ab, zumal ein Sachregister fehlt, wie der Rezensent bemängelt, dafür beschenkt der Autor ihn aber auch mit allerhand Entdeckungen (etwa zur Senkung der Spitzensteuern in der Wirtschaftswunderära). Warum sich Staaten aus Steuern finanzieren und inwiefern Steuern Medium demokratischer Kommunikation sind, vermittelt der Autor dem Rezensenten weitgehend überzeugend. Ob Steuerprogression unbedingt progressiv ist, diese Frage hätte Buggeln für Meinel allerdings gern noch analytischer angehen dürfen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2022

Am Ursprung politischer Gleichheit
Eine Institution, an der alles hängt: Marc Buggelns große Studie zur Geschichte der Steuern in Deutschland

Politik, die sich als progressiv versteht, leidet besonders unter den altbekannten Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Wie kann man wissen, in welche Richtung der Fortschritt heute marschiert und welche Rückschritte gerade drohen? Das Begriffspaar Fortschritt und Reaktion gehört zum Ideenhaushalt des Industriezeitalters und seinem Gegenwartspathos. Wer sich heute an ihm orientiert, ist vor Überraschungen nicht gefeit: Eine Premierministerin der Tories ist soeben mit der Neuauflage der Steuersenkungspolitik der Reaganomics nicht etwa an einem Generalstreik, sondern am Widerstand der Finanzmärkte gescheitert.

Ausgerechnet in der Steuerpolitik. Hier hat der Begriff des Fortschritts neben dem teleologischen nämlich auch einen halbwegs exakten Sinn. Progressiv heißen Steuern mit variablem und mit der Bemessungsgrundlage ansteigendem Steuersatz. Das wichtigste Beispiel ist die Einkommensteuer, und ihr Prinzip gehört zum Inventar von Parteitagsreden: Starke Schultern sollen größere Lasten tragen. Das unterscheidet sie von formal proportionalen, in Wirklichkeit aber regressiv wirkenden Steuern mit konstantem Tarif, etwa der Umsatzsteuer. Explizit regressive Steuern, die finanziell Schwächere überproportional belasten, gibt es in der Bundesrepublik zumindest als Steuern nicht mehr. Bis zum neunzehnten Jahrhundert, vor der Erfindung der Einkommensteuer, waren sie hingegen der Regelfall.

Hinter dem Aufstieg progressiver Einkommensteuern zur wichtigsten Form der Staatsfinanzierung steckt, wie der Berliner Historiker Marc Buggeln in seiner groß angelegten Studie zeigt, eine ganze Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der klassischen Moderne. In ihr treffen sich Industriekapitalismus, Demokratisierung, Arbeiterbewegung, Militarisierung und Sozialstaat. Buggelns Analyse folgt in groben Zügen der Erzählung Thomas Pikettys vom Aufstieg und Niedergang der sozialstaatlichen Umverteilung der Industrialisierungsgewinne. Jener Aufstieg be-gann als Kompromiss zwischen Arbeiterbewegung und industriellen Eliten. Insbesondere der Berliner Ökonom Adolph Wagner, dessen immensen internationalen Einfluss auf den Diskurs der Finanzwissenschaft der Hochmoderne Buggeln akribisch nachzeichnet, sah in der Steuerprogression ein Instrument, um zusätzliche Einnahmen für sozialpolitische Zwecke im Interesse der unteren Schichten einzusetzen. Wie die progressive Einkommensteuer in kurzer Zeit zum international führenden Modell wurde, ist nicht nur ein Beispiel für die "Macht der Ideen", sondern auch der erste Auftritt einer neuen Machtform aus Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaft. Es folgte die ungeheure fiskalische Expansion des zwanzigsten Jahrhunderts mit einer vergleichsweise einmaligen Abschöpfung großer Vermögen.

Doch warum finanzieren sich Staaten überhaupt vorwiegend aus Steuern und nicht vielmehr aus Zöllen, Enteignungen oder staatlichen Monopolbetrieben, die es vom Lotto bis zur Badischen Staatsbrauerei Rothaus schließlich auch noch gibt? Buggeln erinnert daran, dass die Umstellung der Staatsfinanzen von Domänen auf Steuern eine der zentralen Kräfte im Prozess der Entstehung moderner Gesellschaften war. Steuern forcieren die staatliche und administrative Durchdringung des Sozialen: Um sie zu erheben, sind immer neue Infrastrukturen staatlicher Wissenssammlung, Kontrolle und Überwachung nötig, die ihrerseits neue Finanzbedarfe generieren. Schon für eine Grundsteuer braucht der Staat eine recht präzise Kenntnis der Verteilung des Bodens. Erst recht können progressive Einkommensteuern nicht mehr auf der Grundlage von Schätzungen erhoben werden, sondern erfordern exaktes Wissen auf allen Seiten: Steuererklärungen, Steuerprüfungen, Steuerberater, Steuerabteilungen.

Dann aber sind Steuern ein Ursprung der politischen Gleichheit, und zwar schon deshalb, weil sie in Geld, nicht in Sachleistungen zu zahlen sind. Die abstrakte Steuerschuld nämlich zwingt dazu, soziale Beziehungen zu monetarisieren. Wer als unfreier Leibeigener steuerpflichtig wird, muss ab sofort in Geld entlohnt werden, wird zum Arbeitnehmer und tritt in der Steuerpflicht häufig überhaupt erst in ein Rechtsverhältnis zum Staat, wird zum Bürger. Erst die steuerliche Erfassung als prinzipiell gleiche Subjekte machte die bürgerliche Gleichheit konkret und politisch unumkehrbar, weil die Erfassten erst auf Rechtsgleichheit und zunehmend auch auf Belastungsgleichheit pochen können.

Steuern sind daher, wie der Politikwissenschaftler Sebastian Huhnholz in zahlreichen Arbeiten gezeigt hat, auf die sich auch Buggeln bezieht, das Medium demokratischer Massenkommunikation überhaupt. Sie dienen der Legitimitätsbeschaffung von Parteien und Verwaltungen und sind die Institution, die praktisch alle ökonomischen und soziokulturellen Klassifizierungen schafft, stabilisiert oder verändert. Wer heute den "arbeitenden Steuerzahler" gegen die gleichen Rechte der Staatsbürger ausspielt, kann bei Buggeln nachlesen, in wie trübem Wasser er fischt.

Die Wahlverwandtschaft von Demokratie und Steuerprogression markiert für Buggeln in mehr als einer Beziehung den Beginn der Massendemokratie. Durch die Demokratisierung wurde die Refinanzierung des Staates leichter, weil der öffentliche Kredit billiger. Auch insoweit war der Erste Weltkrieg in Buggelns Rekonstruktion die Urkatastrophe des vorigen Jahrhunderts. So wenig die Steuerpolitik entscheidend war für den Kriegsausgang, so sehr für die Folgen. Während das Deutsche Reich, das Kriegsanleihen aufgenommen hatte, nach der Niederlage in ein toxisches Gemisch aus Steuererhöhungen und Inflation hineinlief, hatten Amerika und Großbritannien schon während des Krieges die Steuern massiv erhöht und konnten sie nun senken. Erst jetzt, im beginnenden Zeitalter des Keynesianismus, wurde die progressive Einkommensteuer zu dem, was sie heute ist, ein Instrument der Konjunkturpolitik.

Diese Militarisierung des Steuerstaates ist der einzige Schatten, der bei Buggeln auf das Narrativ des Fortschritts durch progressive Einkommensteuern fällt. Aber ist mehr Steuerprogression wirklich immer progressiv? Hier hätte es geholfen, Eigentums- und Steuerverfassung noch stärker zusammenzudenken. Dass beispielsweise das bei Buggeln besonders fortschrittliche Preußen progressive Einkommensteuern vergleichsweise früh einführte, liegt nicht an einer bisher unbekannten sozialdemokratischen Agenda, sondern vor allem am steuerpolitischen Elitendualismus: Die Junker schätzen die Progressionssteuern als persönliche Eigentümer ihrer Ländereien gerade deswegen, weil die rheinischen Industriellen Kapitalgesellschaften brauchten und die Steuer bei ihnen darum zweimal anfiel: bei der Firma und bei den Eigentümern selbst.

Das Buch bis zum Schluss zu lesen ist keine leicht zu bewältigende Herausforderung, nicht zuletzt, weil Autor und Verlag die Mühe eines Sachregisters nicht hätten scheuen dürfen. Doch es lohnt sich. Weil Buggeln die deutsche Steuerpolitik immer in einen internationalen Vergleich einbettet, gibt es verblüffende Entdeckungen zu machen. So haben die deutschen Ordoliberalen in den Fünfzigerjahren nicht nur die unabhängigen Zentralbanken erfunden, sondern auch das andere Lieblingskind des Neoliberalismus: Die Bundesrepublik senkte, anders als die Vereinigten Staaten und Großbritannien, schon im Wirtschaftswunder die Spitzensteuern massiv und nahm damit vorweg, was Thatcher und Reagan erst in den Achtzigerjahren nachholten. Am Beginn der Fortschritte der Bundesrepublik stand die steuerpolitische Regression: zurück in die Zukunft der Exportnation. FLORIAN MEINEL

Marc Buggeln: "Das Versprechen der Gleichheit". Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 1039 S., br., 38,- Euro.

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»Buggelns Beschreibungen der vorgeherrscht habenden finanzwissenschaftlichen Anschauungen sowie von Ursache und Wirkung der vergangenen Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik hinterlassen einen bleibenden Eindruck und einen nagenden Gedanken - sofern man für einen bestimmten Begriff von sozialer Gerechtigkeit aufgeschlossen ist: Umverteilung von oben nach unten ist allzu häufig daran gescheitert, dass der politische Wille, Steuern in einem dafür ausreichenden Umfange zu erheben, schlichtweg nicht gebildet wurde.« E. Malte N. Reifegerste Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 20231208