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Zeitgeschichte auf Mikroebene: Der französische Journalist Christophe Boltanski hat mit "Das Versteck" einen mitreißenden Roman über seine Familie geschrieben.
Das Versteck" ist ein komplett verrücktes Buch. Zum Roman, als der es kaschiert wird, fehlt ihm jegliche Fiktion - das Bemühen des Verfassers Christophe Boltanski um Objektivität und Authentizität geht so weit, dass er den winzigen Ort der Handlung mit kleinen Skizzen veranschaulicht. Er tut gut daran. Die Zeichnungen sind hilfreich für den Leser, dessen Vorstellungsvermögen vom Realitätsbezug der Geschichte überfordert wird. Gleichzeitig ist sie unendlich komisch. Geschrieben hat das Buch mit Boltanski ein weltweit gereister Journalist, der erzählt, wie ein Versteck noch Jahrzehnte nach seiner Räumung der Horizont einer außergewöhnlichen Familie bleibt. Die Handlung hat Christophe Boltanski, Jahrgang 1962, bei seinen Angehörigen recherchiert.
"Das Versteck" beginnt im Auto. Am Steuer sitzt eine alte Schachtel, sie leidet an Kinderlähmung und macht Jagd auf Fußgänger: "Mit wütender Lust raste sie am liebsten auf hinkende, aber eigenständige Alte los, um sie für deren Bewegungsfreiheit zu bestrafen und ihren Mitfahrern einen Schrecken einzujagen." Neben ihr sitzen stets die Gleichen: "Wir brachen immer alle zusammen auf. Sie am Steuer. Er neben ihr. Jean-Elie, Anne und ich auf die Rückbank gequetscht." Der Ich-Erzähler ist der Jüngste. Er hatte sich entschlossen, als Kind bei der Großmutter, die ihr Zuhause nie zu Fuß verlässt, und den Geschwistern seines Vaters zu leben. Das Auto ist ein Fiat 500, "Joghurtbecher" genannt, den sie im Hof parkt, gleich neben dem Kücheneingang.
Diese Mutter und Großmutter ist adoptiert worden, "verkauft" vom eigenen Vater, einem morphiumsüchtigen Anwalt aus der Provinz. Unter dem Pseudonym Annie Lauran schreibt sie zahlreiche Bücher. Am Sonntagmorgen verkauft sie die kommunistische "Humanité Dimanche", geht zur Messe und am Nachmittag in die Rue des Rosiers: Bei Goldenberg gibt es die beste koschere Wurst. Jude ist ihr Mann, katholisch sind ihre Eltern, der Kommunistischen Partei gehört der Verlag, von dem ihre Autorenhonorare kommen.
Die erste genauere Datumsanzeige im Buch: Mai '68. Christophe Boltanski ist da sechs Jahre alt und das Benzin in Paris bereits knapp geworden. Sie fahren durch eine menschenleere Stadt. Im Auto haben sie Kleister und Plakate, die sie in der Stadt aufhängen wollen. Sie bewerben "Das unmögliche Leben von Christian Boltanski", des Onkels. Das war das Thema seiner ersten Ausstellung in Paris. Er ist ein berühmter Künstler geworden.
"Das Versteck" ist der Ort, an dem sich der Großvater Étienne Boltanski versteckt hatte. Seine Vorfahren stammten aus Odessa, sie kamen während der Dreyfus-Affäre nach Frankreich. Étienne Boltanski war Arzt, unter deutscher Besatzung wurde ihm die Ausübung des Berufs verweigert. Ganz offiziell verließ er seine Frau und ließ sich scheiden, haute ab und wurde zumindest von der Polizei, die ihn suchte und nach Drancy bringen wollte, nicht gefunden. Zu Frau und Familie war er sehr schnell zurückgekehrt. In der Pariser Wohnung lebte er zwischen 1942 und 1944 in einem 1,2 Meter hohen Verlies; nicht einmal die Kinder wussten davon, sie hätten sich verplappern können. In dieser Zeit wurde Christian Boltanski gezeugt - von einem Abwesenden, im Versteck - und am 6. September 1944, zwei Wochen nach der Befreiung der Stadt, geboren.
Er weigerte sich, in die Schule zu gehen, klammerte sich an die Straßenlaternen und "brüllte, als schleife man ihn zum Schlachthof". In den katholischen Einrichtungen, in die ihn die Eltern zu stecken versuchten, wurde er als "kleiner Rabbiner" isoliert. Sein Bruder Jean-Élie Boltanski, später ein bedeutender Linguist, kehrte erst nach vier Jahren Abwesenheit ins Gymnasium zurück. Auch ihm widmet der Neffe ein herrliches Porträt. Jean-Elie ist nach dem Tod der Eltern, "die einen Palast bewohnten und wie Clochards lebten", im Haus geblieben und in ihre Gemächer gezogen, in denen er kaum etwas veränderte - "wie man sich in eine Gruft zurückzieht". Von seinen Büchern hatten die Angehörigen keine Ahnung. Seine Mahlzeiten nimmt der Sprachwissenschaftler in der Küche ein, sie bestehen "aus einem Glas Rotwein, einem Stück Brot und einem Spiegelei, überzogen mit einer Schicht Harissa". Eine "gute Idee" nannte er das Projekt des Neffen, die Geschichte der Familie aufzuschreiben.
Der dritte Bruder, Luc Boltanski, der Vater des Autors und als Soziologe oft in einem Atemzug mit Pierre Bourdieu genannt, fehlte als Kind wochenlang in der Schule und irritierte, wenn er denn da war, durch seine geistige Abwesenheit. Die Lehrer vermuteten "eine Form von Kretinismus, erst im Alter von 15 Jahren stellte man seine Schwerhörigkeit fest", berichtet Christophe Boltanski.
Während der Kriegszeit war es durchaus klug, die Kinder zu Hause zu behalten und von einem Privatlehrer unterrichten zu lassen. Diese Aufgabe war unter anderem einem Monsieur Laigle anvertraut, der Jean-Elies Liebe zur Sprache weckte. Im September 1944 wurde nun Laigle verfolgt: von Säuberungskommandos, die in ihm einen Kollaborateur sahen. Bei den Boltanskis hatte der Hauslehrer immer wieder betont, dass es sich bei den Nazis doch vor allem um "Sozialisten" handle. Man wies ihm das Versteck des Hausherrn zu, das nun nicht mehr bewohnt wurde. Die Mahlzeiten nahm Monsieur Laigle mit der Familie ein. Als sich einmal im Hof ein Polizist bemerkbar machte, "sprangen Hausherr und Gast gemeinsam unter den Tisch".
"Das Versteck", von Tobias Scheffel präzise in sehr lesbares Deutsch übersetzt, ist der erste "Roman" des bekannten Journalisten Christophe Boltanski. Er wurde vor zwei Jahren mit dem Prix Fémina ausgezeichnet und ist ein weiteres literarisches Schlüsselwerk über die Irrungen und Wirrungen der französischen Vergangenheit. Anne, die jeweils im Fond des Autos neben dem Autor saß, war adoptiert worden und arbeitet heute als Fotografin unter dem Namen Anne Franksi. Zu einem Bildband, in dem sie sich selbst und andere Patienten bei der Dialyse porträtiert hat, schrieb ihr Bruder Christian das Vorwort. Die zahlreichen Bücher der Großmutter Annie Lauran sind weitgehend vergessen. Sie tragen Titel wie "Die Kinder von nirgendwo", "Die Insel der Heiligen Kindheit", "Der Usurpator" oder auch "Hitlers Mütze und die Zeit des Vergessens".
Ob die Großmutter überhaupt einen Führerschein besaß und, "falls ja, durch welche List sie ihn bekommen hatte", konnte Christophe Boltanski nicht in Erfahrung bringen. Es legt aber Wert auf die Feststellung, dass sie nie jemanden überfahren habe. Das Buch ist so überzeugend und mitreißend, dass der Leser den Eindruck hat, die Weltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sei als Rahmenhandlung für die Geschichte der vier Boltanski-Generationen inszeniert worden.
JÜRG ALTWEGG
Christophe Boltanski: "Das Versteck". Roman.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Carl Hanser Verlag, München 2017. 320 S., geb., 23,- [Euro].
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