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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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Giulia Caminito beharrt auf Fair Play
Jede italienische Schriftstellerin darf sich freuen, wenn ihr Werk von Barbara Kleiner ins Deutsche gebracht wird. Beim neuen Roman von Giulia Caminito "Das Wasser des Sees ist niemals süß" durfte sich auch die Übersetzerin freuen, denn die Autorin fängt an, wo sie in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Ein Tag wird kommen" aufhörte: Mit klarer Sprache entwirft sie eine packende Szenerie, ohne seitenlangen Anlauf voller enervierender Vergleiche.
Sofort steht sie da, Antonia, Mutter, Dreh- und Angelpunkt der Familie, eine Frau mit unglaublicher Präsenz, denn "sie tritt ein, und das Zimmer wird klein", auch das Zimmer in einer schicksalsentscheidenden Behörde wie dem Wohnungsamt. Selbst mit einem Mann im Rollstuhl und vier Kindern verweigert man ihr eine Wohnung, die mehr als ein Kellerloch mit nacktem Fußboden ist. Die Alt-Linke Antonia, die "allein die Wände am Einstürzen hindert, die uns auf ihren Schultern aus dem brennenden Haus trägt", setzt sich wieder einmal durch, und die Familie landet im Umland Roms, am Lago di Bracciano, in einer mittelständischen, teils gehobenen Nachbarschaft. Antonia setzt alles daran, ihrer Tochter Gaia, die als Ich-Erzählerin in der Rückschau von diesen Ereignissen berichtet, durch Gymnasium und Studium ein besseres Leben zu ermöglichen. Eines mit Arbeitsvertrag. Eines, das Antonia selbst gern gehabt hätte, wäre sie nicht so früh schwanger geworden.
Den Konflikt zwischen Fremd- und Selbstbestimmung gestaltet Caminito sagenhaft gut. Mutter und Tochter sind sich nicht nur äußerlich ähnlich. Beide erfüllen vorbildlich sämtliche Bedingungen, um an eine Wohnung oder einen Studienplatz zu gelangen. Doch als Gaia in Philosophie promovieren will und abgelehnt wird, hat Antonia nur den Rat: Werde Lehrerin oder Verkäuferin. Mit nachvollziehbarer, aber doch herausfordernder Haltung hält Gaia fest, sie "richte über sie und vergebe ihr nicht".
Caminito bringt für Kälte und Brutalität ihrer Figur nicht allein die prekären Verhältnisse ins Spiel. Antonia gibt sich zwar Mühe, mit Handarbeiten den Alltag bunter zu gestalten, Gaia indes lehnt diese Versuche als untrendig ab. Sie möchte "Gegenstände anhäufen", möchte "jede Menge Schuhe, jede Menge Lippenstifte, jede Menge Haargummis", sogar einen Riesenplüschbär, den sie am Schießstand auf dem Rummel gewinnt. Bei aller Disziplin schwebt ihr nicht der Pakt mit dem Teufel, sondern die Wette vor. Das Spielerische. Und während die Mutter sie in ein Rennen um Bildung schickt, tritt sie beim Weitsprung an. Am Ende läuft sie in Rekordzeit durch die Sandgrube. Beide wenden sie korrekte Regeln in der falschen Disziplin an. Im großen Spiel um den Platz im Leben scheitern aber auch andere: Carlotta, eine Freundin aus besserem Hause, bringt sich um, Iris, eine andere Freundin, stirbt, ohne dass Gaia sie noch einmal sieht.
Gaia weiß, was sie von ihren reicheren Freundinnen zu halten hat. "Sie haben Mitleid mit meiner Bedürftigkeit oder genießen sie, weil Schenken ihnen ein Gefühl der Überlegenheit gibt", sie erfährt Mobbing in der Schule, sieht, dass selbst die Angehörigen der Mittelschicht nicht mehr mit dem Konsumtempo mithalten können, doch sie verabscheut nach Carlottas Tod "das ungerechte Schuldgefühl" in sich. Sie schlägt einen Mitschüler zusammen, zündet Autos an und bringt eine junge Frau fast um. Sie akzeptiert, wenn eine philippinische Putzhilfe an ihrer Stelle beschuldigt wird, in einen Einbruch verstrickt zu sein. "Es ist in Ordnung, dass die anderen untergehen, das ihnen erfundene und imaginäre Schuld zugeschrieben wird, das Wichtige ist, dass ich oben bleibe und an der Oberfläche treibe, im Licht auftauche." Die Faszination für den Roman geht nicht mit bedingungsloser Sympathie für die Erzählerin einher.
Das Ende ist offen. Vielleicht gibt es eine dritte Tote, vielleicht versucht Gaia aber auch, postum einen Wunsch von Iris zu erfüllen. Tirami su, "zieh mich rauf". Über Bildung waren Gaia Aufstieg und Selbstfindung versperrt. Dieses Scheitern muss auch als Warnung verstanden werden, damit am Ende nicht nur eine Gaia aus dem Wettbewerb hervorgeht, sondern auch eine Giulia Caminito. Und diese hat mit ihrem neuen Roman eine eindrückliche literarische Form gefunden, an die Regeln des Fair Play zu erinnern. CHRISTIANE PÖHLMANN
Giulia Caminito: "Das Wasser des Sees ist niemals süß".
Roman.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 320 S., geb., 26,- Euro.
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