Antanas Škėma (1910–1961) hinterließ einen Roman, der bis heute bedeutenden Einfluss auf die litauische Literatur ausübt: "Das weiße Leintuch". Geschrieben zwischen 1952 und 1954, wurde er noch nie zuvor ins Deutsche übersetzt. Der Protagonist Antanas Garšva, ein litauischer Exilschriftsteller, arbeitet als Liftboy in einem vielstöckigen New Yorker Hotel. Antanas Garšva, Alter Ego von Antanas Škėma, ist vor den Sowjets aus Litauen geflohen, hadert aber mit der bigotten litauischen Leitkultur und der Trivialität der amerikanischen Konsumgesellschaft. In Rückblenden und Reflexionen versucht er seinen dramatischen Lebensweg zu verarbeiten und ihm einen Sinn zu geben, in der New Yorker Gegenwart findet er sich verstrickt in ein Dreiecksverhältnis mit seiner Geliebten Elena und ihrem Ehemann. Aus den aufwühlenden Episoden ergibt sich ein Puzzle des 20. Jahrhunderts, das Škėma mit kraftvollem sprachlichem Reichtum schildert – ein Wirbel an Wahrnehmungen und Erinnerungen, die über Garšva hereinbrechen, um deren Bewältigung er mit immer neuen literarischen Anläufen ringt. Eindrücke von den Straßen New Yorks, Liedverse und Reminiszenzen an Litauen drängen assoziativ in den Text hinein, treiben den Protagonisten voran, bedrängen ihn. "Das weiße Leintuch" erzählt aber auch von der Verantwortung des Schriftstellers in einer unsicheren Welt, von Formen der Anpassung und Möglichkeiten des Widerstands. In der alle Register ausschöpfenden Übersetzung von Claudia Sinnig ist der Roman nun auf Deutsch zu entdecken, in dunkler Schönheit und mit all seinen bis heute nicht beantworteten existenziellen Fragen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2017Ich, der absurde Mensch
Leipzigs Buchmesse bringt reiche litauische Literaturernte: Antanas Skemas moderner Klassiker "Das weiße Leintuch" liegt endlich auf Deutsch vor.
Das fängt ja gut an. "Gesegnet sind die Idioten, denn sie sind die glücklichsten Menschen auf Erden" lautet das erste von drei Mottos, die Antanas Skema seinem Roman "Das weiße Leintuch" voranstellt. Worauf müssen wir uns einstellen? Auf ein happy ending wie in einer Seligpreisung oder auf Epilepsie wie bei Dostojewski? So viel sei jetzt schon verraten: Der Mann, der da einige Jahre nach 1945 in New York seinem Arbeitsplatz in der 34th Street entgegenstrebt - an einem Nachmittag wohlgemerkt, kein normaler Bürojob -, dieser etwa vierzig Jahre alte Europäer hat Tabletten in der Tasche. Und in seinem Bewusstseinsstrom murmelt er gleich zu Beginn: "Viele Genies waren krank." Cäsar, Napoleon, Michelangelo - und eben auch Antanas Garsva, der Held dieses Buches.
Antanas Garsva, nicht nur durch den Vornamen als Alter Ego des Autors zu erkennen, ist in einem Hotel in einem Wolkenkratzer elevator operator, kurz gesagt: Liftboy. Toll, mit was für Menschen man in diesem Job in Berührung kommt: mit ehemaligen Boxern, (exil)russischen Geistlichen, Chiang-Kai-shek-Offizieren und Chinchilla-Züchtern. Ausschnitte aus dem richtigen Leben. Und wie im richtigen Leben geht es mal aufwärts, mal abwärts. Ganz ohne körperliche Mühe: "Sisyphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind humaner." Immer wieder Dialoge mit Hotelgästen und Partybesuchern: lebensnahe Skizzen oberflächlicher Begegnungen, die dennoch im Gedächtnis haftenbleiben.
Eine andere Lebenswelt in New York sind eine Kneipe, eine Wohnung, die Straßen. In der Kneipe sitzt Garsva an der Theke und sieht sich im Spiegel: "Blond und bleich, dunkle Augenringe, blaue Lippen. Die gespiegelte Maske verlangte geradezu danach, abgenommen und zerknüllt zu werden." Dabei hat er den Scotch noch gar nicht angerührt, den ihm der Kneipenbesitzer Stephens (in seinem früheren Leben Steponavicius) einschenkt und der sich durch den ganzen Roman hindurchzieht. Antanas Garsva sitzt hier, um über Elena und ihren Mann zu sprechen. Eine Dreiecksgeschichte. Antanas, der Dichter, und Elena, einst Gymnasiallehrerin, sind einander zugetan. Liebesszenen werden diskret geschildert. Doch ebenso häufig sprechen Elena und Antanas über dessen Lyrik.
Am Ende spürt Garsva: Er wird auch über den Abschied von Elena hinwegkommen, wie vorher in Litauen über den Verlust von Jone und Schenja. "Ich bin am Leben und frei. Ein absurder Mensch nach Camus? Mag sein. Ein absurder Mensch, der sich mit Christus unterhält. Und mit den Philosophen." Und er wird schreiben. "Sei gegrüßt, Spinoza! Es geht das Gerücht, du hättest dich auf die Philosophie gestürzt, weil du ein Mädchen verloren hast."
Schließlich ist da noch eine dritte Ebene: Immer wieder werden "Aufzeichnungen von Antanas Garsva" eingestreut. Kindheit und frühe Jahre in der Heimat. Bis in den Zweiten Weltkrieg reichen diese Kapitel. Der Erzähler spricht hier in der Ich-Form, während das Leben in New York überwiegend in der dritten Person beschrieben wird. Garsva lebt in der "winzigen Großstadt" Kaunas, der Hauptstadt des Landes in der Vorkriegszeit. Litauen lebt vor uns auf, ein katholisches Land an der Ostsee. Sumpfige Landschaft, Birken, der traurige Schrei der Kiebitze. Überall Wegkreuze und Heiligenfiguren, aber auch Teufel und alte baltische Götter.
Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts wird das Land der Sowjetunion einverleibt. Als 1941 die Wehrmacht marschiert, fliehen die Sowjets. Ein blutjunger Rotarmist verwickelt Garsva in einen Ringkampf auf Leben und Tod. Der Dichter greift nach einem spitzen Stein und zertrümmert dem Russen den Schädel. Wenige Jahre später sitzt er im Fahrstuhl und erinnert sich: "Der Steinzeitmensch ist noch am Leben in meinem Blut, in meiner Vergeltung." Erst später erfahren wir, worauf sich das bezieht: 1940, unter sowjetischer Besatzung, hatte ein NKWD-Mann Garsva brutal verhört, gedemütigt, ihm mit einem Briefbeschwerer eine Kopfverletzung beigefügt.
Jetzt sitzen sie also alle, vor der Roten Armee geflohen, in Amerika: Antanas Garsva, Elena, auch Doktor Ignas, der jüdische Psychiater aus Kaunas, der den Dichter auch in New York untersucht. Neurasthenie lautet die Diagnose; heute würde man wohl von Depression sprechen. Emigrantenschicksale - Skema (1910 bis 1961) hat sie verarbeitet, er hat vieles von dem Geschilderten selbst erlebt. Auch die Zeit in einem DP-Lager für Litauer in Bayern nach 1945, die am Ende kurz aufscheint. Hier ist auch ein künstlerischer Konflikt angedeutet, zu dessen Teilnehmer Skema selbst werden sollte: Ist es die Pflicht der Flüchtlinge, am "Boden" - so der Name einer damaligen Dichtergruppe - festzuhalten, Heimat und Identität als Bedingung menschlichen Daseins zu pflegen? Oder sollte der Mensch nicht seine Unbehaustheit auf der Erde anerkennen und, im Sinne einer "Theologie des Exils", wie es damals hieß, ins Universale streben?
"Wir müssen uns um das Volk kümmern", bekommt Garsva von seinem heimatverbundenen Kontrahenten im Flüchtlingslager zu hören, und dann, eher abgrenzend und abfällig gemeint: "Schreib über dich selbst." Das hat der Autor dieses Buches auch getan, und zwar ebenso großartig wie erschütternd. Der Sog dieser Lektüre ist stark. Claudia Sinnig hat das Buch präzise übersetzt und mit Anmerkungen versehen. Ein Glück für Litauen, einst an der Memel Deutschlands Nachbar, dass es zu seinem Auftritt als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse dieses 1958 erschienene, wichtige Werk endlich übersetzt vorlegen kann.
GERHARD GNAUCK
Antanas Skema: "Das weiße Leintuch".
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 255 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leipzigs Buchmesse bringt reiche litauische Literaturernte: Antanas Skemas moderner Klassiker "Das weiße Leintuch" liegt endlich auf Deutsch vor.
Das fängt ja gut an. "Gesegnet sind die Idioten, denn sie sind die glücklichsten Menschen auf Erden" lautet das erste von drei Mottos, die Antanas Skema seinem Roman "Das weiße Leintuch" voranstellt. Worauf müssen wir uns einstellen? Auf ein happy ending wie in einer Seligpreisung oder auf Epilepsie wie bei Dostojewski? So viel sei jetzt schon verraten: Der Mann, der da einige Jahre nach 1945 in New York seinem Arbeitsplatz in der 34th Street entgegenstrebt - an einem Nachmittag wohlgemerkt, kein normaler Bürojob -, dieser etwa vierzig Jahre alte Europäer hat Tabletten in der Tasche. Und in seinem Bewusstseinsstrom murmelt er gleich zu Beginn: "Viele Genies waren krank." Cäsar, Napoleon, Michelangelo - und eben auch Antanas Garsva, der Held dieses Buches.
Antanas Garsva, nicht nur durch den Vornamen als Alter Ego des Autors zu erkennen, ist in einem Hotel in einem Wolkenkratzer elevator operator, kurz gesagt: Liftboy. Toll, mit was für Menschen man in diesem Job in Berührung kommt: mit ehemaligen Boxern, (exil)russischen Geistlichen, Chiang-Kai-shek-Offizieren und Chinchilla-Züchtern. Ausschnitte aus dem richtigen Leben. Und wie im richtigen Leben geht es mal aufwärts, mal abwärts. Ganz ohne körperliche Mühe: "Sisyphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind humaner." Immer wieder Dialoge mit Hotelgästen und Partybesuchern: lebensnahe Skizzen oberflächlicher Begegnungen, die dennoch im Gedächtnis haftenbleiben.
Eine andere Lebenswelt in New York sind eine Kneipe, eine Wohnung, die Straßen. In der Kneipe sitzt Garsva an der Theke und sieht sich im Spiegel: "Blond und bleich, dunkle Augenringe, blaue Lippen. Die gespiegelte Maske verlangte geradezu danach, abgenommen und zerknüllt zu werden." Dabei hat er den Scotch noch gar nicht angerührt, den ihm der Kneipenbesitzer Stephens (in seinem früheren Leben Steponavicius) einschenkt und der sich durch den ganzen Roman hindurchzieht. Antanas Garsva sitzt hier, um über Elena und ihren Mann zu sprechen. Eine Dreiecksgeschichte. Antanas, der Dichter, und Elena, einst Gymnasiallehrerin, sind einander zugetan. Liebesszenen werden diskret geschildert. Doch ebenso häufig sprechen Elena und Antanas über dessen Lyrik.
Am Ende spürt Garsva: Er wird auch über den Abschied von Elena hinwegkommen, wie vorher in Litauen über den Verlust von Jone und Schenja. "Ich bin am Leben und frei. Ein absurder Mensch nach Camus? Mag sein. Ein absurder Mensch, der sich mit Christus unterhält. Und mit den Philosophen." Und er wird schreiben. "Sei gegrüßt, Spinoza! Es geht das Gerücht, du hättest dich auf die Philosophie gestürzt, weil du ein Mädchen verloren hast."
Schließlich ist da noch eine dritte Ebene: Immer wieder werden "Aufzeichnungen von Antanas Garsva" eingestreut. Kindheit und frühe Jahre in der Heimat. Bis in den Zweiten Weltkrieg reichen diese Kapitel. Der Erzähler spricht hier in der Ich-Form, während das Leben in New York überwiegend in der dritten Person beschrieben wird. Garsva lebt in der "winzigen Großstadt" Kaunas, der Hauptstadt des Landes in der Vorkriegszeit. Litauen lebt vor uns auf, ein katholisches Land an der Ostsee. Sumpfige Landschaft, Birken, der traurige Schrei der Kiebitze. Überall Wegkreuze und Heiligenfiguren, aber auch Teufel und alte baltische Götter.
Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts wird das Land der Sowjetunion einverleibt. Als 1941 die Wehrmacht marschiert, fliehen die Sowjets. Ein blutjunger Rotarmist verwickelt Garsva in einen Ringkampf auf Leben und Tod. Der Dichter greift nach einem spitzen Stein und zertrümmert dem Russen den Schädel. Wenige Jahre später sitzt er im Fahrstuhl und erinnert sich: "Der Steinzeitmensch ist noch am Leben in meinem Blut, in meiner Vergeltung." Erst später erfahren wir, worauf sich das bezieht: 1940, unter sowjetischer Besatzung, hatte ein NKWD-Mann Garsva brutal verhört, gedemütigt, ihm mit einem Briefbeschwerer eine Kopfverletzung beigefügt.
Jetzt sitzen sie also alle, vor der Roten Armee geflohen, in Amerika: Antanas Garsva, Elena, auch Doktor Ignas, der jüdische Psychiater aus Kaunas, der den Dichter auch in New York untersucht. Neurasthenie lautet die Diagnose; heute würde man wohl von Depression sprechen. Emigrantenschicksale - Skema (1910 bis 1961) hat sie verarbeitet, er hat vieles von dem Geschilderten selbst erlebt. Auch die Zeit in einem DP-Lager für Litauer in Bayern nach 1945, die am Ende kurz aufscheint. Hier ist auch ein künstlerischer Konflikt angedeutet, zu dessen Teilnehmer Skema selbst werden sollte: Ist es die Pflicht der Flüchtlinge, am "Boden" - so der Name einer damaligen Dichtergruppe - festzuhalten, Heimat und Identität als Bedingung menschlichen Daseins zu pflegen? Oder sollte der Mensch nicht seine Unbehaustheit auf der Erde anerkennen und, im Sinne einer "Theologie des Exils", wie es damals hieß, ins Universale streben?
"Wir müssen uns um das Volk kümmern", bekommt Garsva von seinem heimatverbundenen Kontrahenten im Flüchtlingslager zu hören, und dann, eher abgrenzend und abfällig gemeint: "Schreib über dich selbst." Das hat der Autor dieses Buches auch getan, und zwar ebenso großartig wie erschütternd. Der Sog dieser Lektüre ist stark. Claudia Sinnig hat das Buch präzise übersetzt und mit Anmerkungen versehen. Ein Glück für Litauen, einst an der Memel Deutschlands Nachbar, dass es zu seinem Auftritt als Schwerpunktland der Leipziger Buchmesse dieses 1958 erschienene, wichtige Werk endlich übersetzt vorlegen kann.
GERHARD GNAUCK
Antanas Skema: "Das weiße Leintuch".
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 255 S., geb., 21,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Tilman Krause ist hin und weg von diesem symphonischen, das brausende Manhattan der 50er so lebendig zeichnenden Roman über einen litauischen Dichter, der als Liftboy in einem großen New Yorker Hotel arbeitet. Das Auf und Ab des Lifts steht auch für die Stimmungschwankungen des Liftboys, oder das Auf und Ab der litauischen Geschichte, die in Erinnerungen vergegenwärtigt wird, so Krause. Vor allem beeindruckt ihn die ungeheure Lebendigkeit dieses Romans, die kongenial von Claudia Sinnig im Deutschen eingefangen sei. Der Band ist außerdem noch schön ausgestattet und kommentiert, freut sich Krause. Ganz klar eine Leseempfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2017Sprich, Liftboy, sprich
Litauen ist das Gastland der Leipziger Buchmesse: Die Erstübersetzung
des Romans „Das weiße Leintuch“ von Antanas Škėma ist ein Ereignis
VON ULRICH RÜDENAUER
In Thomas Wolfes Roman „Die Party bei den Jacks“, der in den besseren Kreisen New Yorks spielt, begegnen wir zwei Liftboys. Sie regeln, Grenzwächtern gleich, den Verkehr zwischen unten und oben. Die Fahrstühle stehen für das gesellschaftliche Auf und Ab – in die oberen Etagen der Park-Avenue-Paläste, wo das Leben seine unbedingten Reize hat, gelangen allerdings nur die wenigsten. Der Aufzug ist ein schönes Symbol für grandiose Höhenflüge ebenso wie für fatale Abstürze. Soziale Aufstiegsaspirationen fahren jedenfalls immer mit. Auch für Thomas Manns Hochstapler Felix Krull geht es bei seiner Lehrzeit als Liftboy Stockwerk für Stockwerk nach oben. Existenzialistisch gewendet ist der Fahrstuhl allerdings ein Käfig, der zwar immer in Bewegung ist, aus dem man aber nicht entkommt und in dem es keinen Schritt vorangeht.
„Up und down, up und down in einem streng eingerahmten Raum. Sisyphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind humaner. Der Stein hat die Erdanziehung verloren. Sisyphos braucht keine geäderten Muskeln mehr. Triumph von Rhythmus und Kontrapunkt. Synthese, Harmonie, up und down“. Antanas Garšva ist in diesem streng eingerahmten Raum als Liftboy gefangen. Er verrichtet seine Arbeit mit einiger Eleganz, zeigt seine glänzenden Zähne, wenn er lächelt; er hat ausgezeichnete Manieren und schmeichelt damit den Passagieren – ein gebildeter Europäer, den es nach New York verschlagen hat. Aber Antanas Garšva ist kein Parvenü, sondern ein verzweifelter Mann, in dessen Kopf es ebenfalls up und down geht, hin und her, mehr zurück als vor: ein Dichter, der tief in den Aufzugsschacht blickt und sich nur mühsam noch an den dünnen, rissig gewordenen Stahlseilen der Realität festklammert.
Garšva ist das Alter ego des litauischen Autors Antanas Škėma, der hierzulande vollkommen unbekannt ist und den man nun mit seinem einzigen Roman „Das weiße Leintuch“ kennenlernen kann. Er wurde 1910 im polnischen Łódź geboren, das damals zum russischen Reich gehörte und wo sein Vater als Lehrer arbeitete. 1921 kehrte die Familie ins nun unabhängige Litauen zurück. Škėma studierte in Kaunas zunächst Medizin, dann Jura, wurde in den Dreißigerjahren Schauspieler und später Regisseur am Staatstheater Vilnius. Er floh schließlich nach Deutschland und lebte dort mehrere Jahre in Displaced-Persons-Lagern. 1947 erschien eine Sammlung von Kurzgeschichten, und er schrieb an ersten Dramen. Ende der Vierzigerjahre siedelte er in die USA über, wo er seinen Lebensunterhalt als Fabrikarbeiter und Liftboy verdiente. Diese Phase ist auch die Gegenwartsebene von Škėmas Roman „Das weiße Leintuch“, der Anfang der 1950er-Jahren geschrieben, 1958 erstmals veröffentlicht und nun vom Berliner Guggolz Verlag ausgegraben wurde. Der Roman ist eine bemerkenswerte Entdeckung.
Sein Held Antanas Garšva gehört einer verlorenen Generation an. Von den Sowjets vertrieben und in New York gestrandet, wird er sich in seinem Exil zusehends selbst fremd. Er verrennt sich in die Vergangenheit und ringt um seine Sprache, die ihn mit seiner Geschichte verbindet und zugleich immer stärker aus der Gegenwart hinauskatapultiert. Der Mann verliert jeden Halt. Selbst seine verheiratete Geliebte Elena, die ihm die frühere Liebe Jonė ins Gedächtnis ruft, kann ihn nicht davor bewahren, in eine undurchdringliche Dunkelheit abzutauchen. Optimismus sei eine bittere Verhöhnung des menschlichen Leidens, lautet sein Credo: „Das Leben ist schlecht, denn das Leben ist Krieg; je vollkommener ein Organismus, umso vollkommener das Leiden.“ Antanas Garšva betrachtet sich als „litauischer Kaukas in einer Operette von Johann Strauß“, eine Art Kobold oder Gnom in einer lächerlichen Kulisse also. Sein neues Zuhause ist eine Pappwelt aus puritanisch gepflegten Parks, Coca-Cola-Dosen und Reklametafeln. Tragödien gibt es nicht in solchen Zeiten, lediglich die Farce. Glücklich wäre eben nur, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.
Genau das aber gelingt Garšva nicht. Immer wieder blitzen Bilder aus einer unglücklichen Kindheit auf, aus der Zwischenkriegszeit, aus der sowjetischen Okkupation, als seine Gedichte als reaktionär und formalistisch gebrandmarkt wurden und er schließlich ganz verstummte. Immer wieder fliegen ihm litauische Volkslieder zu, als würden diese Melodien ihn in seinem Exil in einen erholsamen Schlaf wiegen können. Eigentlich aber sind sie Heimsuchungen im wahrsten Sinne des Wortes – die Strophen überbrücken den Atlantik, sie sind eine Nabelschnur, die sich nicht kappen lässt. Jeder Reim gemahnt den Dichter an die verlorene Sprache. Christliche Bilder durchziehen das Gewebe des Romans, der Existenzialismus Škėmas ist von metaphysischer Sehnsucht durchsetzt. Garšva befindet sich auf einem Passionsweg, und New York ist sein Babel.
„Sprich, Liftboy. Sag ein einziges Wort. Denn ich sterbe in der großen Ruhe. Die Wüste von New York versengt mich. Ich vergehe, ergeben und furchtsam, den geduckten Demiurg umarmend. Mein Christus – hör mich an, mein Christus – ich bete zu dir.“ Im Hintergrund hört man unweigerlich das ununterbrochene Rauschen des Molochs Manhattan, der jeden Einzelnen zu verschlucken droht.
So vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft in diesem Bewusstseinsstrom eines Gestrandeten, eines Untergehers. Antanas Škėmas Held ist ein moderner Siyphos. Sein eindringlicher, bilderreicher, zuweilen stakkatohaft-atemloser, expressiver, dann wieder poetisch dahinfließender Roman – Claudia Sinnig hat ihn erstmals ins Deutsche übersetzt – gilt als ein Wegbereiter der modernen litauischen Literatur. Avanciert und experimentell ist er, nicht ganz ohne Pathos, ein assoziativer Taumel. Es scheint, als habe Škėma gewusst, dass er nur einen einzigen Roman schreiben würde und darin alles sagen müsse. „Das weiße Leintuch“ handelt von der Niederlage eines Dichters, der in mehreren Welten scheitert und am Ende in den Wahnsinn abzudriften droht.
Das Buch handelt von Škėma selbst, der 1961 bei einem Autounfall stirbt, auf dieselbe Weise wie Albert Camus, dessen ruhelose, existenzialistische Ernsthaftigkeit er teilte. „Das Absurde“, heißt es in Camus’ „Mythos des Sisyphos“, „ist der Zusammenprall des menschlichen Rufes mit dem unbegreiflichen Schweigen der Welt.“ Aus diesem Zusammenprall ist auch „Das weiße Leintuch“ hervorgegangen.
Antanas Škėma: Das weiße Leintuch. Roman. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Mit einer biografischen Skizze von Jonas Mekas. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 256 Seiten. 21 Euro.
Von den Sowjets vertrieben und
in New York gestrandet, wird sich
Antanas Škėma im Exil fremd
Antanas Škėma, 1910 als Sohn eines litauischen Lehrers im polnischen Łódź geboren, starb 1961 in den USA.
Foto: oH
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Litauen ist das Gastland der Leipziger Buchmesse: Die Erstübersetzung
des Romans „Das weiße Leintuch“ von Antanas Škėma ist ein Ereignis
VON ULRICH RÜDENAUER
In Thomas Wolfes Roman „Die Party bei den Jacks“, der in den besseren Kreisen New Yorks spielt, begegnen wir zwei Liftboys. Sie regeln, Grenzwächtern gleich, den Verkehr zwischen unten und oben. Die Fahrstühle stehen für das gesellschaftliche Auf und Ab – in die oberen Etagen der Park-Avenue-Paläste, wo das Leben seine unbedingten Reize hat, gelangen allerdings nur die wenigsten. Der Aufzug ist ein schönes Symbol für grandiose Höhenflüge ebenso wie für fatale Abstürze. Soziale Aufstiegsaspirationen fahren jedenfalls immer mit. Auch für Thomas Manns Hochstapler Felix Krull geht es bei seiner Lehrzeit als Liftboy Stockwerk für Stockwerk nach oben. Existenzialistisch gewendet ist der Fahrstuhl allerdings ein Käfig, der zwar immer in Bewegung ist, aus dem man aber nicht entkommt und in dem es keinen Schritt vorangeht.
„Up und down, up und down in einem streng eingerahmten Raum. Sisyphos, von neuen Göttern an diesen Ort versetzt. Diese Götter sind humaner. Der Stein hat die Erdanziehung verloren. Sisyphos braucht keine geäderten Muskeln mehr. Triumph von Rhythmus und Kontrapunkt. Synthese, Harmonie, up und down“. Antanas Garšva ist in diesem streng eingerahmten Raum als Liftboy gefangen. Er verrichtet seine Arbeit mit einiger Eleganz, zeigt seine glänzenden Zähne, wenn er lächelt; er hat ausgezeichnete Manieren und schmeichelt damit den Passagieren – ein gebildeter Europäer, den es nach New York verschlagen hat. Aber Antanas Garšva ist kein Parvenü, sondern ein verzweifelter Mann, in dessen Kopf es ebenfalls up und down geht, hin und her, mehr zurück als vor: ein Dichter, der tief in den Aufzugsschacht blickt und sich nur mühsam noch an den dünnen, rissig gewordenen Stahlseilen der Realität festklammert.
Garšva ist das Alter ego des litauischen Autors Antanas Škėma, der hierzulande vollkommen unbekannt ist und den man nun mit seinem einzigen Roman „Das weiße Leintuch“ kennenlernen kann. Er wurde 1910 im polnischen Łódź geboren, das damals zum russischen Reich gehörte und wo sein Vater als Lehrer arbeitete. 1921 kehrte die Familie ins nun unabhängige Litauen zurück. Škėma studierte in Kaunas zunächst Medizin, dann Jura, wurde in den Dreißigerjahren Schauspieler und später Regisseur am Staatstheater Vilnius. Er floh schließlich nach Deutschland und lebte dort mehrere Jahre in Displaced-Persons-Lagern. 1947 erschien eine Sammlung von Kurzgeschichten, und er schrieb an ersten Dramen. Ende der Vierzigerjahre siedelte er in die USA über, wo er seinen Lebensunterhalt als Fabrikarbeiter und Liftboy verdiente. Diese Phase ist auch die Gegenwartsebene von Škėmas Roman „Das weiße Leintuch“, der Anfang der 1950er-Jahren geschrieben, 1958 erstmals veröffentlicht und nun vom Berliner Guggolz Verlag ausgegraben wurde. Der Roman ist eine bemerkenswerte Entdeckung.
Sein Held Antanas Garšva gehört einer verlorenen Generation an. Von den Sowjets vertrieben und in New York gestrandet, wird er sich in seinem Exil zusehends selbst fremd. Er verrennt sich in die Vergangenheit und ringt um seine Sprache, die ihn mit seiner Geschichte verbindet und zugleich immer stärker aus der Gegenwart hinauskatapultiert. Der Mann verliert jeden Halt. Selbst seine verheiratete Geliebte Elena, die ihm die frühere Liebe Jonė ins Gedächtnis ruft, kann ihn nicht davor bewahren, in eine undurchdringliche Dunkelheit abzutauchen. Optimismus sei eine bittere Verhöhnung des menschlichen Leidens, lautet sein Credo: „Das Leben ist schlecht, denn das Leben ist Krieg; je vollkommener ein Organismus, umso vollkommener das Leiden.“ Antanas Garšva betrachtet sich als „litauischer Kaukas in einer Operette von Johann Strauß“, eine Art Kobold oder Gnom in einer lächerlichen Kulisse also. Sein neues Zuhause ist eine Pappwelt aus puritanisch gepflegten Parks, Coca-Cola-Dosen und Reklametafeln. Tragödien gibt es nicht in solchen Zeiten, lediglich die Farce. Glücklich wäre eben nur, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.
Genau das aber gelingt Garšva nicht. Immer wieder blitzen Bilder aus einer unglücklichen Kindheit auf, aus der Zwischenkriegszeit, aus der sowjetischen Okkupation, als seine Gedichte als reaktionär und formalistisch gebrandmarkt wurden und er schließlich ganz verstummte. Immer wieder fliegen ihm litauische Volkslieder zu, als würden diese Melodien ihn in seinem Exil in einen erholsamen Schlaf wiegen können. Eigentlich aber sind sie Heimsuchungen im wahrsten Sinne des Wortes – die Strophen überbrücken den Atlantik, sie sind eine Nabelschnur, die sich nicht kappen lässt. Jeder Reim gemahnt den Dichter an die verlorene Sprache. Christliche Bilder durchziehen das Gewebe des Romans, der Existenzialismus Škėmas ist von metaphysischer Sehnsucht durchsetzt. Garšva befindet sich auf einem Passionsweg, und New York ist sein Babel.
„Sprich, Liftboy. Sag ein einziges Wort. Denn ich sterbe in der großen Ruhe. Die Wüste von New York versengt mich. Ich vergehe, ergeben und furchtsam, den geduckten Demiurg umarmend. Mein Christus – hör mich an, mein Christus – ich bete zu dir.“ Im Hintergrund hört man unweigerlich das ununterbrochene Rauschen des Molochs Manhattan, der jeden Einzelnen zu verschlucken droht.
So vermischen sich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft in diesem Bewusstseinsstrom eines Gestrandeten, eines Untergehers. Antanas Škėmas Held ist ein moderner Siyphos. Sein eindringlicher, bilderreicher, zuweilen stakkatohaft-atemloser, expressiver, dann wieder poetisch dahinfließender Roman – Claudia Sinnig hat ihn erstmals ins Deutsche übersetzt – gilt als ein Wegbereiter der modernen litauischen Literatur. Avanciert und experimentell ist er, nicht ganz ohne Pathos, ein assoziativer Taumel. Es scheint, als habe Škėma gewusst, dass er nur einen einzigen Roman schreiben würde und darin alles sagen müsse. „Das weiße Leintuch“ handelt von der Niederlage eines Dichters, der in mehreren Welten scheitert und am Ende in den Wahnsinn abzudriften droht.
Das Buch handelt von Škėma selbst, der 1961 bei einem Autounfall stirbt, auf dieselbe Weise wie Albert Camus, dessen ruhelose, existenzialistische Ernsthaftigkeit er teilte. „Das Absurde“, heißt es in Camus’ „Mythos des Sisyphos“, „ist der Zusammenprall des menschlichen Rufes mit dem unbegreiflichen Schweigen der Welt.“ Aus diesem Zusammenprall ist auch „Das weiße Leintuch“ hervorgegangen.
Antanas Škėma: Das weiße Leintuch. Roman. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Mit einer biografischen Skizze von Jonas Mekas. Guggolz Verlag, Berlin 2017. 256 Seiten. 21 Euro.
Von den Sowjets vertrieben und
in New York gestrandet, wird sich
Antanas Škėma im Exil fremd
Antanas Škėma, 1910 als Sohn eines litauischen Lehrers im polnischen Łódź geboren, starb 1961 in den USA.
Foto: oH
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