Der Radiologe Solomon Matzner und seine Frau freuen sich auf ihr Kind. Da erleidet Cici eine Fehlgeburt, und Sol weiß sich nicht anders zu helfen, als schnellstens ein Ersatzkind zu adoptieren: Cheri. Ein rebellisches Mädchen, das auch später als Frau nicht ansatzweise dazu bereit ist, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Ein Buch über die Familie, an der man sich die Zähne ausbeißt und ohne die man trotzdem nicht sein kann.
Verschiedene Leute sterben, aber sonst geht's
Tattoosprüche: Tracy Barones Debütroman über die Fehden und Versöhnungen einer unglücklichen Sippe
Im August 1962 kommt in New Jersey ein Mädchen zur Welt, das von seiner Mutter im Krankenhaus zurückgelassen wird. Über Umwege landet das Baby in den Armen von Cici und Sol Matzner, einem ungleichen Paar mit ungleichem Kinderwunsch. Sie, eine junge katholische Italienerin. Er, ein älterer jüdischer amerikanischer Arzt. Sie fühlt tiefe Trauer über eine gerade erlittene Fehlgeburt. Er erlebt den Verlust so abstrakt, dass er einen unbeholfenen Entschluss fasst: "Sol muss viertausend Dollar auftreiben, um seiner Frau ein Baby zu kaufen." Aus dem namenlosen Baby wird die titelstiftende Cheri Matzner.
Der Roman ist mit den immer wieder zitierten ersten Zeilen von Leo Tolstois "Anna Karenina" überschrieben: "Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich." Und auch wenn das Buch im Original "Happy Family" heißt, erzählt die ebenfalls 1962 geborene Debütautorin Tracy Barone, die zuvor an Hollywood-Produktionen wie "Wild Wild West" und "Men in Black" beteiligt war, nicht von einer solchen. "Sie sind jetzt zu dritt", überlegt Sol. "Er spürt das Ungleichgewicht dieser Zahl, das Potential für Lücken, für Dreiecke." Behält man beim Lesen diese klassische Einzelkind-Geometrie im Kopf, erkennt man schnell, dass das Dreieck der Matzners alles andere als gleichseitig ist. Es verzieht sich durch familiäre Allianzen und Fehden immer weiter.
Das Land steuert derweil auf die Kuba-Krise zu. Präsident Kennedy verkündet, er habe nachgewiesen, dass die Sowjetunion auf Kuba angriffsfähige Raketen entwickle. Das zeitgeschichtliche Echo folgt vierzig Jahre später, im Jahr 2002. Cheri ist mittlerweile Altorientalistik-Dozentin an der Universität von Chicago. Auf keinen Fall will sie, dass sich George W. Bushs Behauptung über Saddam Hussein und etwaige Massenvernichtungswaffen als wahr herausstellt. Jedoch nicht aus Pazifismus, sondern um eine Forschungsreise in den Irak antreten zu können.
Dazu kommt es zunächst aus anderen Gründen nicht. Ein kreationismusgläubiger katholischer Student, dessen Vater der Uni viel Geld spendet, beschwert sich über eine Drei minus in Cheris Seminar. Professorin Matzner (von Haus aus eigentlich selbst Katholikin) habe ihn aufgrund seines Glaubens diskriminiert. Sie wird suspendiert. Von da an geht es bergab. Cheri trennt sich von ihrem Ehemann Michael, wenig später erhält dieser eine Krebsdiagnose. So viel läuft schief, dass es schon fast unglaubhaft wirkt, dass dann auch noch das Baby einer Bekannten bei einem Autounfall stirbt und die traurigen Eheleute nun zusammen zur Trauerfeier müssen.
Man weiß allerdings, worauf man sich einlässt. Der Abschnitt des Buches heißt ganz trocken "Verschiedene Leute sterben". Trotz Überschrift und Ereignisdichte hat man am Ende der Sektion einen Kloß im Hals. Denn dass wir - und diverse Romanfiguren - irgendwann tot sind, ist ja kein Spoiler. Es ist banal. Sterben nicht, Überleben auch nicht. Barone macht diesen Unterschied bedrückend fühlbar.
Genau wie die Tatsache, dass die Liebe zu einem Familienmitglied manchmal einem anderen weh tut. Sommer 1970: Cheri besucht mit ihrer Mutter die italienische Familie. Frühmorgens, als alle anderen noch schlafen, lernt Cheri ihren wortkargen Stiefgroßvater kennen. Er nimmt sie kurzerhand mit auf die Jagd, wo sie einen Vogel schießt. "Cheri ist von Stolz erfüllt. Marco D'Ameri ist für sie der mächtigste Mann, den sie je getroffen hat, und sie ist ein Mitglied seiner Familie. (. . .) Es spielt keine Rolle, dass er sie nicht liebt. Sie liebt ihn und wird ihn immer lieben."
Auf Stolz folgt Streit. Für Cici ist die Zuneigung zwischen ihrer Tochter und deren Stiefgroßvater eine Bedrohung, denn der hat sie wegen ihres Umzugs nach Amerika "verstoßen wie Dreck". Und nun dieser Anblick: "tote Vögel auf dem Küchentisch, Schrotflinten zur Reinigung zerlegt, das Gesicht ihrer Tochter zerkratzt, Hände voller Schnitte und mit Schwarzpulver und Blut bedeckt, Marco D'Ameri, der in aller Ruhe seine Waffe ölt". Nach einer Tirade schleudert Cici ihrem Stiefvater den von Cheri geschossenen Vogel entgegen. "Der Vogel knallt gegen die Wand und landet auf dem Boden, den Hals in einem unnatürlichen Winkel verrenkt." Es ist eine der stärksten Szenen, weil sie die Ambivalenz familiärer Liebe sichtbar macht. Der Vogel stirbt zweimal: einmal durch die Kugel, einmal als Kugel.
Das alles ist im Präsens erzählt, Ausdruck der für Barone zentralen Unfähigkeit, das Leben nahestehender Menschen in seiner ganzen zeitlichen Breite zu sehen. "Es ist viel Zeit zwischen jetzt und ewig", erklärt dazu eine Figur. So eine typische Zeile, die man entweder profund findet oder platt wie einen schlechten Tattoospruch, je nach Beschaffenheit der Geschichte, die ihn umgibt. Die vorliegende schafft es meist, ihrer Tiefe gerecht zu werden.
Deshalb ist es schade, dass ein bis dahin schöner Roman auf den letzten hundert Seiten kitschig wird (und von Diogenes mit einem schmalzigen Coca-Cola-haften Cover vermarktet wird). Muss während einer Versöhnungsszene unbedingt "The Way You Look Tonight" von Frank Sinatra laufen? Braucht man wirklich den rauchigen tätowierten Mann, Marke Vin Diesel, der unheimlich gern Cheris Problemen zuhört, mit gut sichtbarem Bizeps Steak grillt und beiläufig Dylan Thomas zitiert?
Auf der Zielgeraden ordnet sich die Handlung dem Verlangen unter, die vielen losen Stränge zusammenzubinden, die sich angesammelt haben. Nicht, dass sie einen nicht interessierten. Die Geschichte von Cheri Matzner ist spannend und voller Figuren, denen man sich nach wenigen Seiten nahe fühlt. Das aufgeräumte Ende ist zwar enttäuschend, der Roman insgesamt aber gut lesbar.
Sein Fazit oszilliert zwischen Weisheit und Allgemeinplatz: Wenn wir nur ein bisschen herauszoomen könnten, sähen wir das Leben als Fluss, der irgendwann doch noch da mündet, wo er soll. Und wir akzeptierten die Mängel unserer Verwandten. Von Cheri etwas weniger feierlich gedacht: "Das alles war Teil ihrer verdammten Familienscheiße." Es verhält sich so ähnlich wie mit den Punkten eines Dreiecks: Sie können endlos auseinandergezerrt werden, sich einander annähern oder die Positionen tauschen. Solange sie nicht gerade auf einer Linie liegen, heißt die Figur immer gleich: Dreieck. Beziehungsweise Familie.
CORNELIUS DIECKMANN
Tracy Barone: "Das wilde Leben der Cheri Matzner". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer.
Diogenes Verlag, Zürich 2019. 512 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tattoosprüche: Tracy Barones Debütroman über die Fehden und Versöhnungen einer unglücklichen Sippe
Im August 1962 kommt in New Jersey ein Mädchen zur Welt, das von seiner Mutter im Krankenhaus zurückgelassen wird. Über Umwege landet das Baby in den Armen von Cici und Sol Matzner, einem ungleichen Paar mit ungleichem Kinderwunsch. Sie, eine junge katholische Italienerin. Er, ein älterer jüdischer amerikanischer Arzt. Sie fühlt tiefe Trauer über eine gerade erlittene Fehlgeburt. Er erlebt den Verlust so abstrakt, dass er einen unbeholfenen Entschluss fasst: "Sol muss viertausend Dollar auftreiben, um seiner Frau ein Baby zu kaufen." Aus dem namenlosen Baby wird die titelstiftende Cheri Matzner.
Der Roman ist mit den immer wieder zitierten ersten Zeilen von Leo Tolstois "Anna Karenina" überschrieben: "Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich." Und auch wenn das Buch im Original "Happy Family" heißt, erzählt die ebenfalls 1962 geborene Debütautorin Tracy Barone, die zuvor an Hollywood-Produktionen wie "Wild Wild West" und "Men in Black" beteiligt war, nicht von einer solchen. "Sie sind jetzt zu dritt", überlegt Sol. "Er spürt das Ungleichgewicht dieser Zahl, das Potential für Lücken, für Dreiecke." Behält man beim Lesen diese klassische Einzelkind-Geometrie im Kopf, erkennt man schnell, dass das Dreieck der Matzners alles andere als gleichseitig ist. Es verzieht sich durch familiäre Allianzen und Fehden immer weiter.
Das Land steuert derweil auf die Kuba-Krise zu. Präsident Kennedy verkündet, er habe nachgewiesen, dass die Sowjetunion auf Kuba angriffsfähige Raketen entwickle. Das zeitgeschichtliche Echo folgt vierzig Jahre später, im Jahr 2002. Cheri ist mittlerweile Altorientalistik-Dozentin an der Universität von Chicago. Auf keinen Fall will sie, dass sich George W. Bushs Behauptung über Saddam Hussein und etwaige Massenvernichtungswaffen als wahr herausstellt. Jedoch nicht aus Pazifismus, sondern um eine Forschungsreise in den Irak antreten zu können.
Dazu kommt es zunächst aus anderen Gründen nicht. Ein kreationismusgläubiger katholischer Student, dessen Vater der Uni viel Geld spendet, beschwert sich über eine Drei minus in Cheris Seminar. Professorin Matzner (von Haus aus eigentlich selbst Katholikin) habe ihn aufgrund seines Glaubens diskriminiert. Sie wird suspendiert. Von da an geht es bergab. Cheri trennt sich von ihrem Ehemann Michael, wenig später erhält dieser eine Krebsdiagnose. So viel läuft schief, dass es schon fast unglaubhaft wirkt, dass dann auch noch das Baby einer Bekannten bei einem Autounfall stirbt und die traurigen Eheleute nun zusammen zur Trauerfeier müssen.
Man weiß allerdings, worauf man sich einlässt. Der Abschnitt des Buches heißt ganz trocken "Verschiedene Leute sterben". Trotz Überschrift und Ereignisdichte hat man am Ende der Sektion einen Kloß im Hals. Denn dass wir - und diverse Romanfiguren - irgendwann tot sind, ist ja kein Spoiler. Es ist banal. Sterben nicht, Überleben auch nicht. Barone macht diesen Unterschied bedrückend fühlbar.
Genau wie die Tatsache, dass die Liebe zu einem Familienmitglied manchmal einem anderen weh tut. Sommer 1970: Cheri besucht mit ihrer Mutter die italienische Familie. Frühmorgens, als alle anderen noch schlafen, lernt Cheri ihren wortkargen Stiefgroßvater kennen. Er nimmt sie kurzerhand mit auf die Jagd, wo sie einen Vogel schießt. "Cheri ist von Stolz erfüllt. Marco D'Ameri ist für sie der mächtigste Mann, den sie je getroffen hat, und sie ist ein Mitglied seiner Familie. (. . .) Es spielt keine Rolle, dass er sie nicht liebt. Sie liebt ihn und wird ihn immer lieben."
Auf Stolz folgt Streit. Für Cici ist die Zuneigung zwischen ihrer Tochter und deren Stiefgroßvater eine Bedrohung, denn der hat sie wegen ihres Umzugs nach Amerika "verstoßen wie Dreck". Und nun dieser Anblick: "tote Vögel auf dem Küchentisch, Schrotflinten zur Reinigung zerlegt, das Gesicht ihrer Tochter zerkratzt, Hände voller Schnitte und mit Schwarzpulver und Blut bedeckt, Marco D'Ameri, der in aller Ruhe seine Waffe ölt". Nach einer Tirade schleudert Cici ihrem Stiefvater den von Cheri geschossenen Vogel entgegen. "Der Vogel knallt gegen die Wand und landet auf dem Boden, den Hals in einem unnatürlichen Winkel verrenkt." Es ist eine der stärksten Szenen, weil sie die Ambivalenz familiärer Liebe sichtbar macht. Der Vogel stirbt zweimal: einmal durch die Kugel, einmal als Kugel.
Das alles ist im Präsens erzählt, Ausdruck der für Barone zentralen Unfähigkeit, das Leben nahestehender Menschen in seiner ganzen zeitlichen Breite zu sehen. "Es ist viel Zeit zwischen jetzt und ewig", erklärt dazu eine Figur. So eine typische Zeile, die man entweder profund findet oder platt wie einen schlechten Tattoospruch, je nach Beschaffenheit der Geschichte, die ihn umgibt. Die vorliegende schafft es meist, ihrer Tiefe gerecht zu werden.
Deshalb ist es schade, dass ein bis dahin schöner Roman auf den letzten hundert Seiten kitschig wird (und von Diogenes mit einem schmalzigen Coca-Cola-haften Cover vermarktet wird). Muss während einer Versöhnungsszene unbedingt "The Way You Look Tonight" von Frank Sinatra laufen? Braucht man wirklich den rauchigen tätowierten Mann, Marke Vin Diesel, der unheimlich gern Cheris Problemen zuhört, mit gut sichtbarem Bizeps Steak grillt und beiläufig Dylan Thomas zitiert?
Auf der Zielgeraden ordnet sich die Handlung dem Verlangen unter, die vielen losen Stränge zusammenzubinden, die sich angesammelt haben. Nicht, dass sie einen nicht interessierten. Die Geschichte von Cheri Matzner ist spannend und voller Figuren, denen man sich nach wenigen Seiten nahe fühlt. Das aufgeräumte Ende ist zwar enttäuschend, der Roman insgesamt aber gut lesbar.
Sein Fazit oszilliert zwischen Weisheit und Allgemeinplatz: Wenn wir nur ein bisschen herauszoomen könnten, sähen wir das Leben als Fluss, der irgendwann doch noch da mündet, wo er soll. Und wir akzeptierten die Mängel unserer Verwandten. Von Cheri etwas weniger feierlich gedacht: "Das alles war Teil ihrer verdammten Familienscheiße." Es verhält sich so ähnlich wie mit den Punkten eines Dreiecks: Sie können endlos auseinandergezerrt werden, sich einander annähern oder die Positionen tauschen. Solange sie nicht gerade auf einer Linie liegen, heißt die Figur immer gleich: Dreieck. Beziehungsweise Familie.
CORNELIUS DIECKMANN
Tracy Barone: "Das wilde Leben der Cheri Matzner". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer.
Diogenes Verlag, Zürich 2019. 512 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main