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Die Beelitzer Lungenheilstätten als Zwischenreich des Okkultismus: Ulla Lenzes Roman "Das Wohlbefinden"
Plötzlich steht der Junge im Krankenzimmer der beiden Frauen. Er ist durch die Wand gekommen, trägt Winterkleidung, die Lippen und Finger "blau und das Gesicht leichenblass". Die eine Patientin, Anna, sieht er "mit einem Ausdruck aus Entsetzen und Schmerz an", die andere, Margarete, bemerkt ihn nicht. Als der Junge kurz darauf verschwindet, hinterlässt er Wasser auf dem Zimmerboden - das wenigstens kann Margarete sehen. Und Anna teilt ihr mit, dass Margaretes Sohn gerade ertrunken sei, im kilometerweit entfernten Berlin.
Woher weiß sie das? "Es sprach einfach aus ihr heraus", heißt es dazu in Ulla Lenzes Roman "Das Wohlbefinden", und wenig später wird offenbar, dass Anna mit ihrer Behauptung sogar recht hatte. Die junge Frau aus einfachen Verhältnissen ist medial begabt, sie weiß es seit Längerem, und auch die Begleitumstände solcher Eingebungen wie die zum Todesfall von Margaretes Sohn kennt sie bereits: Ein kalter Hauch weht sie an, und wenn sie die Augen schließt, "als könnte sie damit den Lauf der Dinge anhalten", dann schafft sie das nicht lange - "etwas zwang sie, die Augen wieder zu öffnen".
Anna Brenner, so unterstreicht es diese Stelle, ist als Medium zwar empfänglich für Eindrücke aus der Welt des Okkulten. Beeinflussen kann sie sie aber nicht. Es ist nicht einmal an ihr, zu entscheiden, was sie davon mitteilt, sodass sich ihr auch die Abwägung der Folgen einer solchen Mitteilung entzieht. In diesem Fall erhält sie von ihrer Zimmernachbarin eine Ohrfeige.
Lenzes Roman hat drei Zeitebenen, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, im Jahr 1967 und schließlich jüngst während der Corona-Epidemie angesiedelt sind. Im Jahr 2020 sucht die schlecht bezahlte Onlinewerberin Vanessa eine für sie erschwingliche Wohnung bei Berlin, wo auf dem Gelände der Heilstätten Beelitz gerade neue Unterkünfte entstehen. Aus einem Impuls heraus teilt sie dem Makler mit, ihre Urgroßmutter Johanna Schellmann habe ein Buch über die um 1900 errichtete Anstalt geschrieben. Wenig später meldet sich der Makler bei ihr, weil er im Besitz eines von Schellmann angefertigten Typoskripts sei - sein vor einiger Zeit verstorbener Vater Klaus habe die greise Dichterin bis zu ihrem Tod betreut - dieses Verhältnis im Jahr 1967 bildet die zweite Zeitebene des Romans.
Eine Menge Zufälle sind also nötig, um die Handlung in Gang und Vanessa in Kontakt mit der Geschichte zu bringen, die ihre Urgroßmutter mit dem Medium teilt - Johanna mit Anna. Sie beginnt 1907 eben in den Heilstätten Beelitz, als die Dichterin dort für ein Buch recherchiert, das ihr 1909 unter dem Titel "Das Schmuckzimmer" den literarischen Durchbruch bringen soll. Dort wird Schellmann auf die über das Gelände spazierende, von einer Anhängerinnenschar umgebene Brenner aufmerksam. Die beiden Frauen nähern sich einander an, Brenner zieht schließlich in die Grunewaldvilla der Schellmanns, sehr zum Missvergnügen des Ehemanns der Dichterin, um Johanna vom Leben in den Heilstätten zu erzählen und so beim Schreiben des Romans zu unterstützen - der Roman beschreibt auf jeder seiner Ebenen auch von patriarchalen Konventionen, gegen die Frauen wie Johanna ankämpfen.
Annas okkulte Begabung spricht sich weiter herum, sie wird nach München zu dem Parawissenschaftler Albert von Schrenck-Notzing geschickt, der sie untersucht und einem interessierten Publikum während einer Séance zur Schau stellt. Schließlich kommt es zum Zerwürfnis zwischen Anna und Johanna, das Medium verlässt die Villa. Aber noch sechzig Jahre später wird die hochbetagte Schellmann die Präsenz der einstigen Freundin empfinden.
In der zeitlich am meisten zurückliegenden Schicht zeichnet die Autorin ein Bild der bekannten Okkultismusbegeisterung jener Jahre, in dem auch historische Gestalten wie das hier gründlich verkasperte Ehepaar Rudolf und Marie Steiner oder eben Schrenck-Notzing Gastauftritte haben. Durch den 1967 spielenden Romanteil irrlichtert dann Günter Grass. Die Vorstellung jedenfalls, wir seien von einer Geisterwelt umgeben, zu der sich bestimmte Personen Zugang verschaffen könnten, erreicht Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts weite Kreise, auch und gerade in der Wissenschaft. "Wir sind hier in einer Art Zwischenreich", sagt der Heilstätten-Klinikleiter Blomberg und meint damit zunächst die ihm anvertraute Einrichtung, deren tuberkulosekranke Bewohner hier keine vollständige Heilung finden, wohl aber Linderung und neue Kraft, um anschließend wieder ihrer schweren Erwerbsarbeit nachgehen zu können.
Von der Existenz eines okkulten Zwischenreichs ist Blomberg allerdings ebenso überzeugt, und er beschäftigt sich erheblich lieber mit dem Medium Anna, von deren Begabung er sich Hilfe in seiner therapeutischen Arbeit erhofft, als mit den Forschungen von Schellmanns Ehemann, der auf dem Weg ist, das für die Tuberkulose-Behandlung so wichtige Penicillin zu erfinden. Blomberg setzt auf das "Wohlbefinden" der Patienten, das Lenzes Roman den Titel gibt, er sucht in der Psyche nach Mitteln, dies zu befördern, und bezieht das Okkulte mit ein, je länger der Roman anhält, umso mehr.
Dass allerdings ein Arzt allen Ernstes im Jahr 1908 noch rhetorisch fragt "Wie könnte Fotografie betrügen?", mutet seltsam an - nach all den angeblichen Geisterfotografien des neunzehnten Jahrhunderts und den damals weit verbreiteten Berichten über Betrugsverfahren gegen die Urheber dieser Aufnahmen. Glaubt Blomberg selbst daran? Und wenn nicht: Glaubt er wirklich, dass er damit durchkommt?
Was ihn umtreibt, wird in einer Szene deutlich, in der sich der Arzt um den Erfolg einer Séance sorgt und sich Manipulationen ausdenkt, die das Publikum übersinnliche Erscheinungen glauben lassen soll. Ein Betrug sei das nicht, meint Blomberg, eher "Nachhilfe, um die Wahrheit ans Licht zu befördern".
Lenze gelingen glücklich gewagte Sätze wie etwa in der Beschreibung einer nächtlichen Szenerie: "Es war eine geheimnisvolle Luft; Moder und Erde, als könnte sie sprechen." Dann wieder liest man, aus der Perspektive derselben Romanfigur, leider Plattitüden wie die Erinnerung an "das Echte und Lebendige" in Schellmanns Ehemann, "das ihr so gefallen hatte, das kraftvoll über die starren Strukturen um sie herum triumphierte". Auch wer sich bei Sätzen wie "Der Wagen rumpelte gen Berlin" oder "'Ich finde es interessant', hob sie nachdenklich an" unbehaglich fühlt, hat in diesem Roman schlechte Karten.
Immerhin deutet sich für Johanna Schellmanns Urenkelin Vanessa ein Ausweg aus ihrer umfassenden Lebenskrise an. Während der Corona-Epidemie kann sie eine Wohnung hüten, die für die eigentliche Besitzerin jetzt unzugänglich ist, und sie erreicht mit ihren Geschichten in Social Media über Johanna und Anna ein wachsendes Publikum. Sogar in ihrer eigenen zerrütteten Familie kommt jetzt einiges in Ordnung. Was "Wohlbefinden" sei, so mag man die Absicht des Romans verstehen, muss zu jeder Zeit und von jedem Einzelnen neu ausgehandelt werden. TILMAN SPRECKELSEN
Ulla Lenze: "Das Wohlbefinden". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 336 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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