In drei verschiedenen Erzählstimmen erschafft Tanya Pyankova das erschreckend aktuelle Psychogramm einer Zeit und einer Nation, das relevanter nicht sein könnte: Die von der Sowjetunion besetzte Ukraine erlitt eine Hungersnot, die das Leben vieler Millionen Menschen forderte - und die von den Besatzern als politisches Machtinstrument gezielt hervorgerufen worden war. Dieser Genozid ging als Holodomor ("Tötung durch Hunger") in die Geschichte ein.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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In ihrem Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen" lässt Tanya Pyankova drei Stimmen vom Holodomor in der Ukraine vor neunzig Jahren erzählen.
Als sich Arina eines Tages ein Herz fasst und der übergewichtigen Patientin im Sanatorium von Matschuchy endlich in die Augen schaut, hat Soljas Weltbild bereits erste Risse bekommen. Solja hat sich schon nicht mehr nur gefragt, wie sie die Hungerkur überstehen soll, die ihr die Ärzte hier auferlegt haben, und was aus ihr und ihrem Mann werden soll, sondern auch, langsam und leise, was ihr Mann Oleksij da draußen im Dorf eigentlich macht, mit seinem Auftrag, der das junge Paar hierhergeführt hat: die Kolchosen südlich von Poltawa auf Vordermann zu bringen.
"Solja", sagt Arina ihr sanft, "es gibt keine Kulaken." Aber hatte ihr Oleksij nicht wieder und wieder von diesen Kulaken erzählt, die das eigene Land und Vieh, den eigenen Reichtum nicht mit anderen teilen wollten, die immer noch, Anfang der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, zu stolz oder zu faul sind, um in den Kolchosen zu arbeiten, und lieber ihre Kinder hungern lassen? Von diesen Verrätern des Volks, diesen Feinden des Vaterlands?
Und jetzt sollen es, wie Arina behauptet, "einfach Menschen" sein, "zum Hungertod verurteilt", Leute, denen man alles genommen hat, was sie besaßen, Familien, deren Väter nach Sibirien geschickt worden sind, deren Mütter gezwungen wurden, die Kinder sich selbst zu überlassen, um in der Kolchose zu arbeiten, die misshandelt und geschmäht, deren Häuser wieder und wieder auf den Kopf gestellt worden sind, weil sie vielleicht doch noch etwas Essbares versteckt hatten?
Wahrscheinlich hätte Solja, eine der drei Erzählstimmen in Tanya Pyankovas Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen", weiterhin als Geschwätz abgetan, was sie von Arina gesagt bekommt, wenn nicht ihr kleiner Hund verschwunden wäre, nach dem frühen Tod ihres einzigen Kindes ihr ganzer Trost. Wenn Solja nicht allen Warnungen und Verboten zum Trotz in einem unbeobachteten Moment durch das Sanatoriumstor entwischt wäre, um selbst in Matschuchy nach ihrem Filja zu suchen und ein Elend vorzufinden, das für sie unvorstellbar war.
Was die junge Frau zusammen mit Dusja, einer neunzehn Jahre alten Kulakentochter aus dem Dorf, und Swyryd, einem Mann, der im Dorfsowjet als rechte Hand des Vorsitzenden Oleksij arbeitet, auf rund 380 Seiten erzählt, wird auch für die meisten Leser des Romans unvorstellbar sein und eine kaum erträgliche Lektüre bleiben, selbst für jene, denen die Bezeichnung "Holodomor" für die Hungerkatastrophe in der Ukraine vor neunzig Jahren mit ihren Millionen Todesopfern geläufig ist, eine Katastrophe, die erst im November vom Bundestag und vom EU-Parlament als sowjetischer Genozid am ukrainischen Volk anerkannt worden ist.
Eine Ahnungslose, ein Opfer und ein Opportunist: Tanya Pyankova hat die drei Blickrichtungen auf das Grauen, von dem sie erzählt, gut gewählt und fein verknüpft - auch über die Handlung hinaus. Dusja und Solja schildern am Anfang ihrer jeweils ersten Kapitel ähnliche Symptome entgegengesetzter Probleme. Bei beiden - "am Anfang ist es noch gar nicht so schlimm", heißt es fast gleichlautend beide Male - schwellen die Beine an, einmal infolge der Unterernährung, bei der anderen durch ihre Fresssucht.
Swyryd hat auch nach bald zwanzig Jahren nicht verwunden, dass seine Jugendliebe Hanna sich für seinen besten Freund Tomifej entschieden hat. Die Autorin gibt der Verzweiflung, der Verletztheit, der Wut dieser Figur Raum. Man glaubt diesem einfachen Mann, dass er sich nicht anders zu helfen weiß. Fast nimmt man ihm ab, dass es mehr ist als reine Erpressung, wenn er Hanna auf der Straße begegnet und anbietet, ihr zu essen zu geben, ihre Kinder zu retten, wenn sie ihn nur erhörte. Man glaubt seinem Schmerz, wenn sie ihn stehen lässt, auch wenn ihr Mann in Sibirien und sie selbst hilflos ist - und man steht fassungslos vor der Brutalität und Missachtung, mit der sich Swyryd zugleich ein paar Höfe weiter wieder und wieder an der Kulakentochter Tamara abreagiert, während deren Mutter draußen in der Winterkälte warten muss. Auch sie versorgt er heimlich mit dem Nötigsten, mit weniger als dem Nötigsten. Als Tamara schwanger wird, kann er in seiner Angst, Affäre und Unterstützung könnten auffliegen, seine Augen gar nicht fest genug vor dem Elend verschließen, das er verantwortet.
Während seine wie nebensächlichen Schilderungen der Kaltblütigkeit seines Vorgesetzten das Bild ergänzen, das Solja von ihrem hilflosen, überforderten Mann zeichnet, erzählt Dusja davon, was es heißt, Swyryds Angebote auszuschlagen: Sie ist Hannas Tochter. Und was es heißt, Soljas Mann als attraktive Abwechslung zu seiner eigenen Frau aufgefallen zu sein und unter der Androhung, dass andernfalls der jüngere Bruder dran glauben müsse, in den Dorfsowjet bestellt zu werden.
Solja indes wirkt die längste Zeit des Buchs wie eine Schlafwandlerin in Matschuchy: eingesperrt auf dem Gelände des Sanatoriums. Nur mit sich, den ärztlichen Verordnungen und ihrem Hund beschäftigt. In der Angst, ihren Oleksij zu verlieren, seinen Launen, seinen Schilderungen, seiner Zuwendung und Abneigung ergeben. Hier scheint die Sorgfalt der Autorin die längste Zeit ganz darauf abzuzielen, das Porträt einer Unbeteiligten zu zeichnen, die in der Lage ist, einigen Anzeichen und Irritationen zum Trotz zu ignorieren, was alles in der nächsten Nähe um sie herum passiert. Bis sie, von Dusja am Straßenrand aufgelesen und - "In Matschuchy herrscht Hunger, wissen Sie?" - notdürftig ins Bild gesetzt, überraschend selbstlos dann doch noch einen Rettungsversuch unternimmt.
Über Dutzende von Seiten schildert Tanya Pyankova, was passiert, wenn Menschen anderen das Menschsein absprechen, sie schildert Grausamkeit wie Gleichgültigkeit, vor allem aber das langsame Verhungern ihrer Figuren, körperlich wie psychisch. Kaum etwas, das Menschen einander antun können, von der Tötung von Säuglingen bis zu Kannibalismus, bleibt in diesem Roman ausgespart. Dass all diese Grausamkeiten im Holodomor keineswegs Erfindungen der Autorin sind, stellte Tanya Pyankova, 1985 in der ukrainischen Region Iwano-Frankiwsk geboren und nicht allein durch ihre Romane und Gedichtbände eine wichtige Gestalt in der Literaturszene ihres Landes, bei einer Lesung zur Frankfurter Buchmesse fest: Sie habe lediglich kombiniert und an einem imaginierten Ort versammelt, was sie in Dokumenten aus dieser Zeit gefunden hat.
Wie sie im Nachwort schreibt, handelt ihr Roman "vom grauenvollen, durch nichts zu rechtfertigenden Terror, den der Besatzungsstaat Russland bereits 1908 gegen die Ukraine begonnen hat und bis heute fortführt". Umgekehrt wäre es allerdings kurzsichtig, "Das Zeitalter der roten Ameisen" nur unter dem Eindruck des aktuellen russischen Angriffskriegs in der Ukraine zu lesen. Tanya Pyankovas Roman ist ein Zeugnis der Entmenschlichung und damit auch ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkler Zeit. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Tanya Pyankova: "Das Zeitalter der roten Ameisen". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten. Ecco Verlag, Hamburg 2022. 400 S., geb., 22,- Euro.
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