Von Marie Curie bis Max Planck, von Einstein bis Heisenberg – die Neuerfindung der Welt Im goldenen Zeitalter der Physik wurden unser Denken und die Welt revolutioniert. Mitreißend schildert Tobias Hürter diese Epoche und die spektakulären Lebensläufe der großen Genies der Naturwissenschaft. Und er zeigt, wie untrennbar Wissenschaft und Weltgeschehen miteinander verbunden sind. Denn wir können die Welt nicht beobachten, ohne sie zu verändern. Marie Curie, Planck, Bohr, Heisenberg, Schrödinger und Einstein haben nicht nur die Physik revolutioniert, sondern unsere Welt, ja unsere Wirklichkeit neu erfunden. Sie waren intellektuelle Abenteurer, Dandys oder Nerds, die tiefe Freundschaften und erbitterte Feindschaften miteinander verbanden. Die sich vielfach kreuzenden Lebenswege dieser Heroen des Denkens bieten einen reichen Schatz großartiger Geschichten. Und zugleich hat ihr Forschen einen ungeahnten wissenschaftlichen Schub ausgelöst, der zu einem neuen Weltbild der Physik führte, das bis heute nicht völlig verstanden ist. Doch das Zeitalter der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik war auch das Zeitalter von Kriegen und Revolutionen. Die Entdeckung der Radioaktivität hat die Wissenschaft revolutioniert und schließlich in die Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki geführt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gespannt folgt Rezensent Claus Kiefer den Etappen in Tobias Hürters Wissenschaftsgeschichte "Das Zeitalter der Unschärfe". Sie skizzieren die Spanne von 1895 bis 1945, in der die Physiker ihre "Fundamentaltheorien" entwickelten, so der Rezensent. Dabei erfährt Kiefer von den wissenschaftlichen Errungenschaften großer Köpfe wie Max Planck, Albert Einstein, Marie und Pierre Curie oder Werner Heisenberg, deren Ringen nach wissenschaftlichen Entdeckungen der Autor "einfühlsam" und "unterhaltend" schildere. Zugleich wird dem Rezensent beim Lesen von den persönlichen Widrigkeiten der Wissenschaftler im Exil, deren Unterdrückung in Nazideutschland aber auch deren Entscheidung zur politischen Anpassung bewusst, dass auch sie sich nicht im gesellschaftlichen Vakuum befinden, sondern dem Lauf der Zeit unterliegen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.12.2021Nichts verstanden, trotzdem schön
Am besten sind die Anekdoten: Tobias Hürter erzählt von Blüte und Niedergang der Atomphysik vor 1945
Ein Sommerabend im Paris der vorletzten Jahrhundertwende. Eine kleine Festgesellschaft strömt auf den Rasen, fröhliche Stimmen ertönen. Im Mittelpunkt steht eine Frau im schwarzen Kleid, ihr sonst so angespanntes Gesicht gelöst, denn sie hat zur Feier ihrer Promotion geladen, der ersten naturwissenschaftlichen Promotion einer Frau in Frankreich: Marie Curie. Neben ihr steht Ernest Rutherford, unterwegs auf einer drei Jahre lang verschobenen Hochzeitsreise, Maries Konkurrent auf dem neuen Gebiet der Atomphysik – heute aber ruht der Streit, denn es wird gefeiert!
So beginnt der Wissenschaftsjournalist Tobias Hürter sein Buch „Das Zeitalter der Unschärfe – Die glänzenden und dunklen Jahre der Physik 1895-1945“. Schon der Einstieg macht klar, dass hier nicht eine Geschichte der Physik, sondern der Physiker vorgetragen werden soll. Es ist eine Art kollektiver Biografie – wenn man will, eine wissenschaftssoziologische Studie, aufgelockert und angereichert durch die anekdotische Erzählung.
Das macht ihren Reiz und ihre Grenzen aus. Was man hier nicht erwarten darf, ist eine Darstellung der Errungenschaften und Umwälzungen, die in besagtem Zeitraum nicht nur das wissenschaftliche Weltbild, sondern die Welt überhaupt umkrempelten, kulminierend in Hiroshima und Nagasaki. Wie oft haben nicht schon populärwissenschaftliche Werke versucht, uns Einsteins Relativitätstheorie nahezubringen! Immer dort, wo es heißt, das sei doch alles ganz einfach, man brauche sich bloß vorzustellen, wie Anton am Bahnsteig steht, während Berta an ihm mit Lichtgeschwindigkeit vorbeibrettert, weiß der vielfach vorenttäuschte Leser, dass er jetzt gleich überhaupt nichts mehr kapieren wird. Damit hält sich Hürter dankenswerterweise nicht auf. Immer wieder konstatiert er, dass die weltweit führenden Physiker sich gegenseitig nicht verstehen. Wie sollte es da der unbedarfte Leser können?
Und doch wünscht man sich zuweilen, der Autor hätte seinem Publikum etwas mehr zugetraut. In den physikalisch fieberhaft aktiven Zwanzigerjahren stehen die wellenmechanische und die matrizenmechanische Interpretation der Quantenphysik gegeneinander – aber Hürter hält es offenbar für aussichtslos, seinen Lesern auch nur ansatzweise erklären zu wollen, was im hier erforderlichen Sinn eine „Matrize“ wäre. Das Stichwort hat zu genügen, versehen mit dem warnenden Marker: Finger weg, höchste Mathematik! Erwin Schrödinger rühmt er wegen „einer der schönsten und wunderbarsten Gleichungen, die je ein menschlicher Geist ersann“, doch der Leser bekommt sie nicht zu Gesicht. Andernorts setzt Hürter wiederum zu hoch an. Wenn die als ähnlich wunderbar eingestufte Gleichung von Dirac sogar präsentiert wird (sie ist so vollkommen wie eine vom Himmel gefallene Marmorstatue!), rätselt man vergeblich, was jenes notenschlüsselhafte Sonderzeichen zu bedeuten hat, das anscheinend alle Probleme löst. Und Heisenbergs Unschärferelation erläutert der Autor so: „Man kann nur mit einem von zwei Augen in die Atome schauen: mit dem Ortsauge oder mit dem Geschwindigkeitsauge. Wenn man aber beide Augen gleichzeitig öffnet, sieht man unscharf.“ Hier fragt sich der Laie nicht nur, was das praktisch heißen soll, „in die Atome schauen“, sondern noch mehr, wie sich denn Geschwindigkeit überhaupt feststellen ließe außer durch Kenntnis von mindestens zwei Orten, zwischen denen das betreffende Objekt sich bewegt. Gewiss, das ist die Frage eines Laien. Aber für ihn ist das Buch geschrieben. Und beantwortet wird sie nicht. Dass Hürter dennoch ein lesenswertes und gut lesbares Buch zustande gebracht hat, verdankt er der günstigen Quellenlage, speziell dem Umstand, dass viele der Beteiligten Tagebuch führten und so ziemlich alle lebhafte Briefschreiber waren. Sie verfügten über die im Zeitalter der sozialen Medien keineswegs mehr selbstverständliche Fähigkeit, ein Bild nicht nur ihrer Aktivitäten, sondern auch ihrer Persönlichkeit zu geben. Einstein, der ewigen Institutssitzungen überdrüssig, unterzeichnet das Protokoll mit „Albert Ritter von Steissbein“. Heisenberg erträgt die Sticheleien Wolfgang Paulis nicht und bescheidet ihn: „Es ist wirklich ein Saustall, dass Sie das Pöbeln nicht aufhören können. (...) Die Punkte bedeuten einen Fluch von etwa zwei Minuten Dauer!“
Paul Dirac, der mittelschwer autistische Züge hat und die Animositäten seiner Kollegen auf dem menschlichen Level nicht begreift, äußert die Vermutung, dass Niels Bohr ein guter Dichter geworden wäre, „weil es in der Dichtung nützlich ist, die Worte ungenau zu gebrauchen“ – und ahnt nicht, wie er damit Bohrs Widersacher munitioniert. Die besten Stellen des Buchs sind jene, wo Hürter es darüber hinaus wagt, mündliche Dialoge zu erfinden, zwischen Einstein und Heisenberg, zwischen Heisenberg und Bohr. So gut kennt er seine Protagonisten, dass ihm dieser hochverfängliche Schritt hinüber zum historischen Roman tatsächlich glückt und er in formelfreien improvisierten Reden etwas von Art und Dringlichkeit der Probleme zum Vorschein bringt.
Endgültig und mit trauriger Berechtigung gewinnt das narrative Element das Übergewicht in der Zeit ab 1933, als das zwar zerstrittene, aber innige Genie-Kollektiv von der Gewalt des deutschen Faschismus zerrissen und damit in seiner produktiven Kraft zerstört wird. Jeder muss nun für sich allein seinen Weg finden, Einstein als umjubelter Exilant, Planck als glückloser Opportunist, Heisenberg als Wegbereiter der deutschen Atombombe, die sich, als die Alliierten sie 1945 aufspüren, als ein verlöteter Kanister mit ein bisschen Uran erweist, zur Vertuschung in einer Jauchegrube versenkt. Andere gehen ganz und gar zugrunde, und auch sie vergisst das Buch nicht. Keine der Koryphäen hat nach 1933 mehr eine große Idee hervorgebracht. Dennoch lief, was sie geleistet hatten, auf die Atombombe hinaus: Letztlich funktionierte, was sie angebahnt hatten, in einer Weise, die keiner von ihnen voraussah und die sie zutiefst beschämte, um das Mindeste zu sagen. Hier ist Hürter in jeder Hinsicht auf der Höhe seines Gegenstands.
Das Buch erlaubt dem Leser und der Leserin, an der naturwissenschaftlichen Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilzuhaben, auch wenn sie nicht eigentlich verstehen, was hier passiert ist. Vielleicht geht es nicht anders. Vielleicht ist Hürter bei seiner Einschätzung des Möglichen aber auch zu kleinmütig gewesen. Was in dem engen Rahmen möglich war, den er gewählt hat, das freilich hat er geleistet.
BURKHARD MÜLLER
Tobias Hürter: Das Zeitalter der Unschärfe. Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895–1945. Klett-Cotta, Stuttgart 2021.
398 Seiten, 25 Euro.
Der Atomphysiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg (links) beim Umkrempeln der Welt.
Foto: SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Am besten sind die Anekdoten: Tobias Hürter erzählt von Blüte und Niedergang der Atomphysik vor 1945
Ein Sommerabend im Paris der vorletzten Jahrhundertwende. Eine kleine Festgesellschaft strömt auf den Rasen, fröhliche Stimmen ertönen. Im Mittelpunkt steht eine Frau im schwarzen Kleid, ihr sonst so angespanntes Gesicht gelöst, denn sie hat zur Feier ihrer Promotion geladen, der ersten naturwissenschaftlichen Promotion einer Frau in Frankreich: Marie Curie. Neben ihr steht Ernest Rutherford, unterwegs auf einer drei Jahre lang verschobenen Hochzeitsreise, Maries Konkurrent auf dem neuen Gebiet der Atomphysik – heute aber ruht der Streit, denn es wird gefeiert!
So beginnt der Wissenschaftsjournalist Tobias Hürter sein Buch „Das Zeitalter der Unschärfe – Die glänzenden und dunklen Jahre der Physik 1895-1945“. Schon der Einstieg macht klar, dass hier nicht eine Geschichte der Physik, sondern der Physiker vorgetragen werden soll. Es ist eine Art kollektiver Biografie – wenn man will, eine wissenschaftssoziologische Studie, aufgelockert und angereichert durch die anekdotische Erzählung.
Das macht ihren Reiz und ihre Grenzen aus. Was man hier nicht erwarten darf, ist eine Darstellung der Errungenschaften und Umwälzungen, die in besagtem Zeitraum nicht nur das wissenschaftliche Weltbild, sondern die Welt überhaupt umkrempelten, kulminierend in Hiroshima und Nagasaki. Wie oft haben nicht schon populärwissenschaftliche Werke versucht, uns Einsteins Relativitätstheorie nahezubringen! Immer dort, wo es heißt, das sei doch alles ganz einfach, man brauche sich bloß vorzustellen, wie Anton am Bahnsteig steht, während Berta an ihm mit Lichtgeschwindigkeit vorbeibrettert, weiß der vielfach vorenttäuschte Leser, dass er jetzt gleich überhaupt nichts mehr kapieren wird. Damit hält sich Hürter dankenswerterweise nicht auf. Immer wieder konstatiert er, dass die weltweit führenden Physiker sich gegenseitig nicht verstehen. Wie sollte es da der unbedarfte Leser können?
Und doch wünscht man sich zuweilen, der Autor hätte seinem Publikum etwas mehr zugetraut. In den physikalisch fieberhaft aktiven Zwanzigerjahren stehen die wellenmechanische und die matrizenmechanische Interpretation der Quantenphysik gegeneinander – aber Hürter hält es offenbar für aussichtslos, seinen Lesern auch nur ansatzweise erklären zu wollen, was im hier erforderlichen Sinn eine „Matrize“ wäre. Das Stichwort hat zu genügen, versehen mit dem warnenden Marker: Finger weg, höchste Mathematik! Erwin Schrödinger rühmt er wegen „einer der schönsten und wunderbarsten Gleichungen, die je ein menschlicher Geist ersann“, doch der Leser bekommt sie nicht zu Gesicht. Andernorts setzt Hürter wiederum zu hoch an. Wenn die als ähnlich wunderbar eingestufte Gleichung von Dirac sogar präsentiert wird (sie ist so vollkommen wie eine vom Himmel gefallene Marmorstatue!), rätselt man vergeblich, was jenes notenschlüsselhafte Sonderzeichen zu bedeuten hat, das anscheinend alle Probleme löst. Und Heisenbergs Unschärferelation erläutert der Autor so: „Man kann nur mit einem von zwei Augen in die Atome schauen: mit dem Ortsauge oder mit dem Geschwindigkeitsauge. Wenn man aber beide Augen gleichzeitig öffnet, sieht man unscharf.“ Hier fragt sich der Laie nicht nur, was das praktisch heißen soll, „in die Atome schauen“, sondern noch mehr, wie sich denn Geschwindigkeit überhaupt feststellen ließe außer durch Kenntnis von mindestens zwei Orten, zwischen denen das betreffende Objekt sich bewegt. Gewiss, das ist die Frage eines Laien. Aber für ihn ist das Buch geschrieben. Und beantwortet wird sie nicht. Dass Hürter dennoch ein lesenswertes und gut lesbares Buch zustande gebracht hat, verdankt er der günstigen Quellenlage, speziell dem Umstand, dass viele der Beteiligten Tagebuch führten und so ziemlich alle lebhafte Briefschreiber waren. Sie verfügten über die im Zeitalter der sozialen Medien keineswegs mehr selbstverständliche Fähigkeit, ein Bild nicht nur ihrer Aktivitäten, sondern auch ihrer Persönlichkeit zu geben. Einstein, der ewigen Institutssitzungen überdrüssig, unterzeichnet das Protokoll mit „Albert Ritter von Steissbein“. Heisenberg erträgt die Sticheleien Wolfgang Paulis nicht und bescheidet ihn: „Es ist wirklich ein Saustall, dass Sie das Pöbeln nicht aufhören können. (...) Die Punkte bedeuten einen Fluch von etwa zwei Minuten Dauer!“
Paul Dirac, der mittelschwer autistische Züge hat und die Animositäten seiner Kollegen auf dem menschlichen Level nicht begreift, äußert die Vermutung, dass Niels Bohr ein guter Dichter geworden wäre, „weil es in der Dichtung nützlich ist, die Worte ungenau zu gebrauchen“ – und ahnt nicht, wie er damit Bohrs Widersacher munitioniert. Die besten Stellen des Buchs sind jene, wo Hürter es darüber hinaus wagt, mündliche Dialoge zu erfinden, zwischen Einstein und Heisenberg, zwischen Heisenberg und Bohr. So gut kennt er seine Protagonisten, dass ihm dieser hochverfängliche Schritt hinüber zum historischen Roman tatsächlich glückt und er in formelfreien improvisierten Reden etwas von Art und Dringlichkeit der Probleme zum Vorschein bringt.
Endgültig und mit trauriger Berechtigung gewinnt das narrative Element das Übergewicht in der Zeit ab 1933, als das zwar zerstrittene, aber innige Genie-Kollektiv von der Gewalt des deutschen Faschismus zerrissen und damit in seiner produktiven Kraft zerstört wird. Jeder muss nun für sich allein seinen Weg finden, Einstein als umjubelter Exilant, Planck als glückloser Opportunist, Heisenberg als Wegbereiter der deutschen Atombombe, die sich, als die Alliierten sie 1945 aufspüren, als ein verlöteter Kanister mit ein bisschen Uran erweist, zur Vertuschung in einer Jauchegrube versenkt. Andere gehen ganz und gar zugrunde, und auch sie vergisst das Buch nicht. Keine der Koryphäen hat nach 1933 mehr eine große Idee hervorgebracht. Dennoch lief, was sie geleistet hatten, auf die Atombombe hinaus: Letztlich funktionierte, was sie angebahnt hatten, in einer Weise, die keiner von ihnen voraussah und die sie zutiefst beschämte, um das Mindeste zu sagen. Hier ist Hürter in jeder Hinsicht auf der Höhe seines Gegenstands.
Das Buch erlaubt dem Leser und der Leserin, an der naturwissenschaftlichen Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilzuhaben, auch wenn sie nicht eigentlich verstehen, was hier passiert ist. Vielleicht geht es nicht anders. Vielleicht ist Hürter bei seiner Einschätzung des Möglichen aber auch zu kleinmütig gewesen. Was in dem engen Rahmen möglich war, den er gewählt hat, das freilich hat er geleistet.
BURKHARD MÜLLER
Tobias Hürter: Das Zeitalter der Unschärfe. Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895–1945. Klett-Cotta, Stuttgart 2021.
398 Seiten, 25 Euro.
Der Atomphysiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg (links) beim Umkrempeln der Welt.
Foto: SZ Photo
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2022Wellen sehen so vertraut aus
Anschaulichkeit muss man halt simulieren können: Tobias Hürter führt durch die Zeit, als die Physiker ihre Fundamentaltheorien entwickelten.
Am 23. März 1927 ging bei der "Zeitschrift für Physik" eine Arbeit ein, die sich als eine der wirkmächtigsten des zwanzigsten Jahrhunderts erweisen sollte. Eingereicht hatte sie der erst fünfundzwanzig Jahre alte Werner Heisenberg, der sich zu dieser Zeit auf einem Forschungsaufenthalt bei Niels Bohr in Kopenhagen befand. In dieser Arbeit fanden sich zum ersten Mal die mathematischen Beziehungen, die später unter dem Namen Unschärferelationen Berühmtheit erlangen sollten: Ort und Impuls können für Mikroobjekte wie Elektronen oder Atome nicht mehr gleichzeitig angegeben werden. Heisenberg selbst sprach in seiner Arbeit von Unsicherheitsrelation und bevorzugte später eher den treffenderen Begriff Unbestimmtheitsrelation. Im Unterschied zur vertrauten Alltagswelt bewegen sich die Objekte der Mikrowelt nicht mehr auf Bahnen, weshalb Ort und Impuls nicht einfach nur unscharf, sondern unbestimmt sind.
Dennoch hat sich gerade im deutschsprachigen Bereich die Bezeichnung "Unschärfe" durchgesetzt. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Paul Forman hat dies bereits vor Jahrzehnten mit dem Zeitgeist der Weimarer Republik in Verbindung gebracht, in der alte Gewissheiten wankten und die Welt unsicher und unscharf wirkte. In dem vorliegenden Werk von Tobias Hürter werden gar die fünfzig Jahre von 1895 bis 1945 mit dem Etikett "Zeitalter der Unschärfe" versehen. Der Autor bezieht sich damit vor allem auf die Entwicklungen in der Physik und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik wurden alte Weltbilder umgestoßen und neue geschaffen, denen aber die alte Anschaulichkeit abhandengekommen war.
Hürters Buch ist natürlich nicht das erste zu diesem Thema. Allerdings wählt er einen eigenen Zugang, der ein wenig an Florian Illies' Buch über das Jahr 1913 erinnert. Dort ist jedem Monat jenes Jahres ein Kapitel gewidmet, in dem sich die Wege von Persönlichkeiten der Geschichte und Kultur kreuzen. Bei Hürter gibt es über fünfzig unterschiedlich lange Kapiteln, jeweils übertitelt mit dem Namen einer - zumeist europäischen - Stadt und einer Jahresangabe. In ihnen betreten alle wichtigen Protagonisten dieses Zeitalters die Bühne, zum Teil mehrmals.
Wir erfahren von Max Plancks "Akt der Verzweiflung" bei der Einführung seines Wirkungsquantums im Jahr 1900, von Albert Einsteins bahnbrechenden Arbeiten in seiner Zeit als Patentbeamter in Bern 1905, von Marie und Pierre Curies gesundheitsgefährdenden Experimenten zur Radioaktivität in Paris, von Heisenbergs Entdeckungen auf Helgoland 1925 und eben in Kopenhagen 1927. Diese beiden Jahre begrenzen den Zeitraum, in dem das entstand, was wir heute unter Quantenmechanik verstehen. An ihrer Vollendung waren nicht nur Heisenberg, sondern auch andere "Knabenphysiker", wie man sie aufgrund ihres jugendlichen Alters nannte, beteiligt, so der scharfzüngige Wolfgang Pauli oder der schweigsame Paul Dirac, nebst bereits etablierten Wissenschaftlern wie Erwin Schrödinger und Max Born.
Von dem Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend stammt die Einschätzung, dass die Geschichte der Wissenschaft so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend sei wie die in ihr enthaltenen Ideen und diese wiederum so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend seien wie das Bewusstsein derer, die sie erfinden. Äußerst unterhaltend ist auch Hürters Darstellung. Dem Autor gelingt eine einfühlsame Schilderung der Akteure und ihrer mühevollen Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Die fällt auch Genies nicht in den Schoß, wie am körperlichen Zusammenbruch Einsteins 1917 deutlich wird. Hürter berichtet auch von Paulis psychischen Problemen und dessen Kontakt zu dem Psychoanalytiker C. G. Jung sowie dem mit Engelsgeduld ertragenen Leidensweg Lise Meitners als Frau in einer Männerdomäne.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte der Wissenschaft spielen persönlicher Ehrgeiz und Konkurrenzdenken. Besonders deutlich wird dies an dem Verhältnis Heisenbergs zu seinem Widerpart Schrödinger. Nach Heisenbergs reichlich unzugänglicher erster Arbeit zur sogenannten Matrizenmechanik gelang es dem Österreicher Schrödinger, für die Quantenmechanik eine Wellengleichung abzuleiten, die zumindest von der Mathematik her den Physikern jener Zeit vertraut vorkam. So geschehen im Winterurlaub 1925/26, den Schrödinger mit einer bisher unbekannt gebliebenen Geliebten in den Schweizer Bergen verbracht hatte. Seine Schrödinger-Gleichung sollte sich als eine der wichtigsten Gleichungen der modernen Physik erweisen, mit Anwendungen nicht nur in Atom- und Kernphysik, sondern auch in Chemie und Molekularbiologie.
Heisenbergs Unschärferelationen von 1927 können als Reaktion auf Schrödingers Arbeiten verstanden werden - entstanden aus dem Ringen um eine eigene Anschaulichkeit für seine abstrakte Theorie; selbst im Titel des Aufsatzes findet sich das Wort "anschaulich". Auch die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, hervorgegangen aus Diskussionen von Bohr und Heisenberg in Kopenhagen, kann nur als Reaktion auf Schrödinger und als Versuch verstanden werden, diesem das Wasser abzugraben. Dass sich diese doch recht schwammige Deutung auch heute noch einiger Beliebtheit erfreut, liegt nicht zuletzt an den vielen Schülern und Mitarbeitern Bohrs, die ihren Weg auf einflussreiche Lehrstühle fanden - für den Einzelgänger Schrödinger ein Ding der Unmöglichkeit.
Wissenschaftler leben nicht in einem Wolkenkuckucksheim, sondern sind den Zeitläuften ausgesetzt. Davon legen viele der geschilderten Porträts Zeugnis ab. Wir erfahren von der Mühsal des Exils, von Tragödien der Unterdrückung in Nazideutschland und der Sowjetunion, aber auch von dem bequemen Weg der Anpassung. Und wir lesen von den praktischen und mitunter fatalen Anwendungen der Grundlagenforschung, vor allem den uns heute noch bedrohenden Atombomben.
So endet das Buch mit der Inhaftierung deutscher Atomphysiker, darunter Heisenberg, im britischen Farm Hall 1945. Sie hatten an der Entwicklung einer Atombombe gearbeitet, zum Glück vergeblich. Nach dem Krieg deuteten sie, so Hürter, ihr technisches Scheitern in moralische Standhaftigkeit um. Was eben nur zeigt, dass wissenschaftliche Exzellenz nicht einfach menschliche Souveränität bedeutet. CLAUS KIEFER
Tobias Hürter: "Das Zeitalter der Unschärfe". Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 400 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anschaulichkeit muss man halt simulieren können: Tobias Hürter führt durch die Zeit, als die Physiker ihre Fundamentaltheorien entwickelten.
Am 23. März 1927 ging bei der "Zeitschrift für Physik" eine Arbeit ein, die sich als eine der wirkmächtigsten des zwanzigsten Jahrhunderts erweisen sollte. Eingereicht hatte sie der erst fünfundzwanzig Jahre alte Werner Heisenberg, der sich zu dieser Zeit auf einem Forschungsaufenthalt bei Niels Bohr in Kopenhagen befand. In dieser Arbeit fanden sich zum ersten Mal die mathematischen Beziehungen, die später unter dem Namen Unschärferelationen Berühmtheit erlangen sollten: Ort und Impuls können für Mikroobjekte wie Elektronen oder Atome nicht mehr gleichzeitig angegeben werden. Heisenberg selbst sprach in seiner Arbeit von Unsicherheitsrelation und bevorzugte später eher den treffenderen Begriff Unbestimmtheitsrelation. Im Unterschied zur vertrauten Alltagswelt bewegen sich die Objekte der Mikrowelt nicht mehr auf Bahnen, weshalb Ort und Impuls nicht einfach nur unscharf, sondern unbestimmt sind.
Dennoch hat sich gerade im deutschsprachigen Bereich die Bezeichnung "Unschärfe" durchgesetzt. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Paul Forman hat dies bereits vor Jahrzehnten mit dem Zeitgeist der Weimarer Republik in Verbindung gebracht, in der alte Gewissheiten wankten und die Welt unsicher und unscharf wirkte. In dem vorliegenden Werk von Tobias Hürter werden gar die fünfzig Jahre von 1895 bis 1945 mit dem Etikett "Zeitalter der Unschärfe" versehen. Der Autor bezieht sich damit vor allem auf die Entwicklungen in der Physik und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik wurden alte Weltbilder umgestoßen und neue geschaffen, denen aber die alte Anschaulichkeit abhandengekommen war.
Hürters Buch ist natürlich nicht das erste zu diesem Thema. Allerdings wählt er einen eigenen Zugang, der ein wenig an Florian Illies' Buch über das Jahr 1913 erinnert. Dort ist jedem Monat jenes Jahres ein Kapitel gewidmet, in dem sich die Wege von Persönlichkeiten der Geschichte und Kultur kreuzen. Bei Hürter gibt es über fünfzig unterschiedlich lange Kapiteln, jeweils übertitelt mit dem Namen einer - zumeist europäischen - Stadt und einer Jahresangabe. In ihnen betreten alle wichtigen Protagonisten dieses Zeitalters die Bühne, zum Teil mehrmals.
Wir erfahren von Max Plancks "Akt der Verzweiflung" bei der Einführung seines Wirkungsquantums im Jahr 1900, von Albert Einsteins bahnbrechenden Arbeiten in seiner Zeit als Patentbeamter in Bern 1905, von Marie und Pierre Curies gesundheitsgefährdenden Experimenten zur Radioaktivität in Paris, von Heisenbergs Entdeckungen auf Helgoland 1925 und eben in Kopenhagen 1927. Diese beiden Jahre begrenzen den Zeitraum, in dem das entstand, was wir heute unter Quantenmechanik verstehen. An ihrer Vollendung waren nicht nur Heisenberg, sondern auch andere "Knabenphysiker", wie man sie aufgrund ihres jugendlichen Alters nannte, beteiligt, so der scharfzüngige Wolfgang Pauli oder der schweigsame Paul Dirac, nebst bereits etablierten Wissenschaftlern wie Erwin Schrödinger und Max Born.
Von dem Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend stammt die Einschätzung, dass die Geschichte der Wissenschaft so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend sei wie die in ihr enthaltenen Ideen und diese wiederum so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend seien wie das Bewusstsein derer, die sie erfinden. Äußerst unterhaltend ist auch Hürters Darstellung. Dem Autor gelingt eine einfühlsame Schilderung der Akteure und ihrer mühevollen Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Die fällt auch Genies nicht in den Schoß, wie am körperlichen Zusammenbruch Einsteins 1917 deutlich wird. Hürter berichtet auch von Paulis psychischen Problemen und dessen Kontakt zu dem Psychoanalytiker C. G. Jung sowie dem mit Engelsgeduld ertragenen Leidensweg Lise Meitners als Frau in einer Männerdomäne.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte der Wissenschaft spielen persönlicher Ehrgeiz und Konkurrenzdenken. Besonders deutlich wird dies an dem Verhältnis Heisenbergs zu seinem Widerpart Schrödinger. Nach Heisenbergs reichlich unzugänglicher erster Arbeit zur sogenannten Matrizenmechanik gelang es dem Österreicher Schrödinger, für die Quantenmechanik eine Wellengleichung abzuleiten, die zumindest von der Mathematik her den Physikern jener Zeit vertraut vorkam. So geschehen im Winterurlaub 1925/26, den Schrödinger mit einer bisher unbekannt gebliebenen Geliebten in den Schweizer Bergen verbracht hatte. Seine Schrödinger-Gleichung sollte sich als eine der wichtigsten Gleichungen der modernen Physik erweisen, mit Anwendungen nicht nur in Atom- und Kernphysik, sondern auch in Chemie und Molekularbiologie.
Heisenbergs Unschärferelationen von 1927 können als Reaktion auf Schrödingers Arbeiten verstanden werden - entstanden aus dem Ringen um eine eigene Anschaulichkeit für seine abstrakte Theorie; selbst im Titel des Aufsatzes findet sich das Wort "anschaulich". Auch die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, hervorgegangen aus Diskussionen von Bohr und Heisenberg in Kopenhagen, kann nur als Reaktion auf Schrödinger und als Versuch verstanden werden, diesem das Wasser abzugraben. Dass sich diese doch recht schwammige Deutung auch heute noch einiger Beliebtheit erfreut, liegt nicht zuletzt an den vielen Schülern und Mitarbeitern Bohrs, die ihren Weg auf einflussreiche Lehrstühle fanden - für den Einzelgänger Schrödinger ein Ding der Unmöglichkeit.
Wissenschaftler leben nicht in einem Wolkenkuckucksheim, sondern sind den Zeitläuften ausgesetzt. Davon legen viele der geschilderten Porträts Zeugnis ab. Wir erfahren von der Mühsal des Exils, von Tragödien der Unterdrückung in Nazideutschland und der Sowjetunion, aber auch von dem bequemen Weg der Anpassung. Und wir lesen von den praktischen und mitunter fatalen Anwendungen der Grundlagenforschung, vor allem den uns heute noch bedrohenden Atombomben.
So endet das Buch mit der Inhaftierung deutscher Atomphysiker, darunter Heisenberg, im britischen Farm Hall 1945. Sie hatten an der Entwicklung einer Atombombe gearbeitet, zum Glück vergeblich. Nach dem Krieg deuteten sie, so Hürter, ihr technisches Scheitern in moralische Standhaftigkeit um. Was eben nur zeigt, dass wissenschaftliche Exzellenz nicht einfach menschliche Souveränität bedeutet. CLAUS KIEFER
Tobias Hürter: "Das Zeitalter der Unschärfe". Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 400 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Anschaulichkeit muss man halt simulieren können: Tobias Hürter führt durch die Zeit, als die Physiker ihre Fundamentaltheorien entwickelten.« Claus Kiefer, FAZ, 11. Januar 2022 Claus Kiefer FAZ 20220111