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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Anschaulichkeit muss man halt simulieren können: Tobias Hürter führt durch die Zeit, als die Physiker ihre Fundamentaltheorien entwickelten.
Am 23. März 1927 ging bei der "Zeitschrift für Physik" eine Arbeit ein, die sich als eine der wirkmächtigsten des zwanzigsten Jahrhunderts erweisen sollte. Eingereicht hatte sie der erst fünfundzwanzig Jahre alte Werner Heisenberg, der sich zu dieser Zeit auf einem Forschungsaufenthalt bei Niels Bohr in Kopenhagen befand. In dieser Arbeit fanden sich zum ersten Mal die mathematischen Beziehungen, die später unter dem Namen Unschärferelationen Berühmtheit erlangen sollten: Ort und Impuls können für Mikroobjekte wie Elektronen oder Atome nicht mehr gleichzeitig angegeben werden. Heisenberg selbst sprach in seiner Arbeit von Unsicherheitsrelation und bevorzugte später eher den treffenderen Begriff Unbestimmtheitsrelation. Im Unterschied zur vertrauten Alltagswelt bewegen sich die Objekte der Mikrowelt nicht mehr auf Bahnen, weshalb Ort und Impuls nicht einfach nur unscharf, sondern unbestimmt sind.
Dennoch hat sich gerade im deutschsprachigen Bereich die Bezeichnung "Unschärfe" durchgesetzt. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Paul Forman hat dies bereits vor Jahrzehnten mit dem Zeitgeist der Weimarer Republik in Verbindung gebracht, in der alte Gewissheiten wankten und die Welt unsicher und unscharf wirkte. In dem vorliegenden Werk von Tobias Hürter werden gar die fünfzig Jahre von 1895 bis 1945 mit dem Etikett "Zeitalter der Unschärfe" versehen. Der Autor bezieht sich damit vor allem auf die Entwicklungen in der Physik und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik wurden alte Weltbilder umgestoßen und neue geschaffen, denen aber die alte Anschaulichkeit abhandengekommen war.
Hürters Buch ist natürlich nicht das erste zu diesem Thema. Allerdings wählt er einen eigenen Zugang, der ein wenig an Florian Illies' Buch über das Jahr 1913 erinnert. Dort ist jedem Monat jenes Jahres ein Kapitel gewidmet, in dem sich die Wege von Persönlichkeiten der Geschichte und Kultur kreuzen. Bei Hürter gibt es über fünfzig unterschiedlich lange Kapiteln, jeweils übertitelt mit dem Namen einer - zumeist europäischen - Stadt und einer Jahresangabe. In ihnen betreten alle wichtigen Protagonisten dieses Zeitalters die Bühne, zum Teil mehrmals.
Wir erfahren von Max Plancks "Akt der Verzweiflung" bei der Einführung seines Wirkungsquantums im Jahr 1900, von Albert Einsteins bahnbrechenden Arbeiten in seiner Zeit als Patentbeamter in Bern 1905, von Marie und Pierre Curies gesundheitsgefährdenden Experimenten zur Radioaktivität in Paris, von Heisenbergs Entdeckungen auf Helgoland 1925 und eben in Kopenhagen 1927. Diese beiden Jahre begrenzen den Zeitraum, in dem das entstand, was wir heute unter Quantenmechanik verstehen. An ihrer Vollendung waren nicht nur Heisenberg, sondern auch andere "Knabenphysiker", wie man sie aufgrund ihres jugendlichen Alters nannte, beteiligt, so der scharfzüngige Wolfgang Pauli oder der schweigsame Paul Dirac, nebst bereits etablierten Wissenschaftlern wie Erwin Schrödinger und Max Born.
Von dem Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend stammt die Einschätzung, dass die Geschichte der Wissenschaft so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend sei wie die in ihr enthaltenen Ideen und diese wiederum so komplex, chaotisch, voll von Fehlern und so unterhaltend seien wie das Bewusstsein derer, die sie erfinden. Äußerst unterhaltend ist auch Hürters Darstellung. Dem Autor gelingt eine einfühlsame Schilderung der Akteure und ihrer mühevollen Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Die fällt auch Genies nicht in den Schoß, wie am körperlichen Zusammenbruch Einsteins 1917 deutlich wird. Hürter berichtet auch von Paulis psychischen Problemen und dessen Kontakt zu dem Psychoanalytiker C. G. Jung sowie dem mit Engelsgeduld ertragenen Leidensweg Lise Meitners als Frau in einer Männerdomäne.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Geschichte der Wissenschaft spielen persönlicher Ehrgeiz und Konkurrenzdenken. Besonders deutlich wird dies an dem Verhältnis Heisenbergs zu seinem Widerpart Schrödinger. Nach Heisenbergs reichlich unzugänglicher erster Arbeit zur sogenannten Matrizenmechanik gelang es dem Österreicher Schrödinger, für die Quantenmechanik eine Wellengleichung abzuleiten, die zumindest von der Mathematik her den Physikern jener Zeit vertraut vorkam. So geschehen im Winterurlaub 1925/26, den Schrödinger mit einer bisher unbekannt gebliebenen Geliebten in den Schweizer Bergen verbracht hatte. Seine Schrödinger-Gleichung sollte sich als eine der wichtigsten Gleichungen der modernen Physik erweisen, mit Anwendungen nicht nur in Atom- und Kernphysik, sondern auch in Chemie und Molekularbiologie.
Heisenbergs Unschärferelationen von 1927 können als Reaktion auf Schrödingers Arbeiten verstanden werden - entstanden aus dem Ringen um eine eigene Anschaulichkeit für seine abstrakte Theorie; selbst im Titel des Aufsatzes findet sich das Wort "anschaulich". Auch die sogenannte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, hervorgegangen aus Diskussionen von Bohr und Heisenberg in Kopenhagen, kann nur als Reaktion auf Schrödinger und als Versuch verstanden werden, diesem das Wasser abzugraben. Dass sich diese doch recht schwammige Deutung auch heute noch einiger Beliebtheit erfreut, liegt nicht zuletzt an den vielen Schülern und Mitarbeitern Bohrs, die ihren Weg auf einflussreiche Lehrstühle fanden - für den Einzelgänger Schrödinger ein Ding der Unmöglichkeit.
Wissenschaftler leben nicht in einem Wolkenkuckucksheim, sondern sind den Zeitläuften ausgesetzt. Davon legen viele der geschilderten Porträts Zeugnis ab. Wir erfahren von der Mühsal des Exils, von Tragödien der Unterdrückung in Nazideutschland und der Sowjetunion, aber auch von dem bequemen Weg der Anpassung. Und wir lesen von den praktischen und mitunter fatalen Anwendungen der Grundlagenforschung, vor allem den uns heute noch bedrohenden Atombomben.
So endet das Buch mit der Inhaftierung deutscher Atomphysiker, darunter Heisenberg, im britischen Farm Hall 1945. Sie hatten an der Entwicklung einer Atombombe gearbeitet, zum Glück vergeblich. Nach dem Krieg deuteten sie, so Hürter, ihr technisches Scheitern in moralische Standhaftigkeit um. Was eben nur zeigt, dass wissenschaftliche Exzellenz nicht einfach menschliche Souveränität bedeutet. CLAUS KIEFER
Tobias Hürter: "Das Zeitalter der Unschärfe". Die glänzenden und die dunklen Jahre der Physik 1895-1945.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 400 S., Abb., geb., 25,- Euro.
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