Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Ohne den Geist von Blut und Eisen: Jacob Burckhardts bisher unbekannte Vorlesungen über die Zeit Friedrichs des Großen
Jacob Burckhardt war, vor allem in der zweiten Lebenshälfte, ein Gelehrter, der schrieb, um zu sprechen: Die vielen Tausende handgeschriebener Seiten in seinem Nachlass dienten der Vorbereitung von Lehrstunden, in denen Burckhardt nicht ablas, sondern das aufwendig konzipierte und memorierte Wissen frei vortrug. Diese Mündlichkeit aber strahlte auf die sie stützenden Texte zurück, durch raffinierte Einfachheit, durch Witz, auch Pathos. So wurde er der freimütigste Historiker des 19. Jahrhunderts, und darum ist er der lebendigste von ihnen geblieben.
Nationale oder ideologische Festlegungen waren dem altständisch-liberalen, kunstsinnigen, zeitdiagnostisch aufmerksamen Basler Stadtbürger mit seinem Sinn für Abgründe fremd. Und weil er schrieb, um zu sprechen, gelangen ihm auch immer wieder Formulierungen von größter Entschiedenheit: „Wer solche Kriege führte wie er 1740“, sagte Burckhardt im Wintersemester 1867/68 über Friedrich den Großen, „wer solche Dinge tut, solche Härte zeigt, um dessen Religion bekümmere ich mich nicht viel, an dem interessiert mich nicht, was er geglaubt habe, oder sich einbildete, geglaubt zu haben.“ Genau zur selben Zeit, als Burckhardt das in einem Basler Hörsaal aussprach, erklärte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, die Deutschen fürchteten Gott, aber sonst nichts auf der Welt, im Übrigen aber würden die Fragen der Zeit mit Blut und Eisen gelöst.
Es ist ein schöner Gewinn des Friedrich-Jahres, dass nun Burckhardts Vorlesungen über die Zeit Friedrichs des Großen rekonstruiert werden konnten. Geleistet hat diese voraussetzungsreiche Arbeit der St. Galler Historiker Ernst Ziegler, ein Schüler des Burckhardt-Biographen Ernst Kaegi und einer der besten Kenner von Burckhardts riesenhaftem Nachlass. Er geht dabei zwei Wege: Aus Burckhardts eigenen Konzepten macht er einen durchformulierten Fließtext, genau so, wie es einst Burckhardt Neffe Jacob Oeri mit den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ getan hat. Und aus Mitschriften von Burckhardts Hörern – sie sind zahlreich erhalten, teilweise in Stenographien, die heute nur noch Ziegler zu lesen versteht – rekonstruiert er einen „gesprochenen Wortlaut“. Ziegler spricht von der „Vorderseite des Teppichs“, zu dem die Vorbreitungsnotizen die „Rückseite“ bieten. Im jetzt erschienenen Friedrich-Band wird beides vorgeführt, mit starkem Übergewicht der Rückseite, also Burckhardt’schen Materials, das Ziegler redigiert hat.
Wir erhalten dabei keine Biographie, sondern eine so knappe wie originelle Übersicht zur europäischen Geschichte seit 1763, dem Jahr, in dem Friedrich der Große mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges Preußen definitiv als europäische Großmacht etablieren konnte. Seither gab es den „deutschen Dualismus“ und seither war das europäische Staatensystem in jener Unordnung, die die Gründung eines deutschen Nationalstaates erst möglich machte – so sah es der weitblickende Zeitgenosse Burckhardt. Und seither war Frankreich, das auf der Seite Österreichs gegen Friedrich gekämpft und verloren hatte, so geschwächt und verschuldet, dass die Revolution sich nicht mehr vermeiden ließ.
Ihr, der Revolution, arbeitete aber auch ein Geist der Zeit vor, zu dem Friedrich viel beitrug: Er ist für Burckhardt ein großer Exponent der Epoche, nicht ihr Schöpfer oder Herr. Er nennt ihn „den größten Sohn seiner Zeit“, was ein verschattetes Lob ist. Vor allem „riesige Willenskraft“ billigt er dem gewissenlosen Erobererkönig zu, von dessen Äußerem er sagt: „Später war sein Gesicht verzogen und voll merkwürdiger Ecken und Falten. Sein blauforschendes Auge hatte eher etwas schreckendes.“
Während zur selben Zeit der britische Historiker Thomas Carlyle ein üppiges Heldenepos zu Friedrich vorlegte oder Franz Kugler, Burckhardts Berliner Lehrer, zusammen mit Adolf Menzel sein berühmtes Volksbuch herausbrachte, beharrte der Schweizer mit Nüchternheit auf dem menschlich-konkreten Detail. Jeder dreiundreißigste Mann war in Preußen nach 1763 Soldat, rechnete er aus. Viele Krüppel hatte der Krieg hinterlassen. „Für die Invaliden war nicht gesorgt; viele lagen nach den Schlachten ihm (dem König) fluchend an den Straßen. Er soll lieber einen Toten als einen Invaliden gehabt und deshalb die Amputationen nicht gerne gesehen haben.“
Dabei ist Burckhardt alles andere als ein simpler Moralist. Er zeichnet das Bild einer blendenden, aber geistig erkaltenden Zeit. Die polnische Teilung, die Friedrich zusammen mit der russischen Zarin Katharina und der widerwilligen österreichischen Kaiserin Maria Theresia ins Werk setzte, wird ihm zu einem folgenreichen Symptom – den verbrecherischen Zug daran notiert Burckhardt fast beiläufig.
Wer dieses Buch liest, lernt nicht nur viel über das 18. Jahrhundert, sondern auch etwas über das historische Denken eines großen Europäers in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hans Pleschinski, der Übersetzer des Briefwechsels von Voltaire und Friedrich, steuert einen brillanten Essay bei, der Friedrich auch als kunstsinnigen und liebenden Menschen zeigt, in einer Gebrochenheit, die gut zu Jacob Burckhardts humaner Skepsis passt.
GUSTAV SEIBT
JACOB BURCKHARDT: Das Zeitalter Friedrichs des Großen. Aus dem Nachlass erstmals ediert und bearbeitet von Ernst Ziegler. Mit einem Essay von Hans Pleschinski. Verlag C.H. Beck, München 2012. 255 Seiten, 19,95 Euro.
„Später war sein Gesicht verzogen
und voll merkwürdiger
Ecken und Falten.“
Der große Historiker Jacob Burckhardt (links) hielt 1852/53 öffentliche Vorträge über die Zeit Friedrichs des Großen. Im brandenburgischen Letschin im Oderbruch steht bis heute ein Denkmal des Monarchen. Foto: Scherl/Patrick Pleul/dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH