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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Die Zukunftsentwürfe für die EU haben alle einen Makel, schreibt der Staatsrechtler Alexander Thiele. Eine Rückbesinnung auf das antike Erbe fordert der Philosoph Christoph Quarch.
Visionen für die Zukunft der Europäischen Union sind vor der Europawahl Mangelware, in Deutschland, aber auch in anderen Mitgliedstaaten. Im Wahlkampf von Union, SPD, Grünen und Liberalen spielt die Frage, welche Gestalt ein geeintes Europa im Jahr 2040 haben sollte, kaum eine Rolle. Ein Grund dafür liegt auf der Hand: Die EU-skeptischen bis antieuropäischen Kräfte am rechten Rand erstarken. Die Befürworter einer vertieften Integration konzentrieren sich daher auf die Verteidigung des europapolitischen Status quo. Aber es könnte auch an den Visionen selbst liegen, jedenfalls dann, wenn man der Lesart des Berliner Staatsrechtlers Alexander Thiele folgt. Er vertritt die These, dass die europapolitischen Zukunftsentwürfe, angefangen von Joschka Fischers Reformvorschlag aus dem Jahr 2000 über Emmanuel Macrons vielbeachtete Rede an der Pariser Sorbonne Universität 2017 bis hin zur Prager Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 allesamt einen Makel haben: Sie schweben letztlich im luftleeren Raum, weil sie die entscheidende Frage ausblenden: Wozu das Ganze? Thiele nennt sie in seinem gleichnamigen Buch daher "defekte Visionen". In diesen Zukunftsentwürfen werde die europäische Integration selbst als universeller Problemlöser dargestellt, während die Frage, "welches konkrete Problem durch die europäische Integration wie gelöst werden soll, in den Hintergrund tritt", schreibt er in seinem sehr lesenswerten Essay. Und wer sich erlaube, darauf aufmerksam zu machen, dass diesen Visionen der Praxisbezug fehle, der müsse sich vorwerfen lassen, ein schlechter Europäer zu sein. Es gelte die Devise: Je mehr Europa, desto besser. Das ist aus Thieles Sicht jedoch eine falsche Perspektive. Es dürfe nicht um mehr oder weniger Europa gehen. Im Mittelpunkt müsse vielmehr die Frage stehen, mit welchem Integrationsschritt sich in bestimmten Politikfeldern, etwa in der Klima- oder Migrationspolitik, welcher Fortschritt erzielen lasse. Stattdessen erschöpften sich die Zukunftsentwürfe weitgehend in staatstheoretischen Beschreibungsversuchen.
Was damit gemeint ist, illustriert Thiele am Beispiel des Begriffs "föderaler europäischer Bundesstaat". Damit umschreibt etwa die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag ihr europapolitisches Ziel. Aber was bedeutet "föderaler Bundesstaat"? Eine feste, allseits anerkannte Definition der politischen Struktur eines Bundesstaates gibt es bis heute nicht. In diese Kategorie fallen so unterschiedliche Länder wie Deutschland, die USA, Indien Mexiko und die Schweiz. Man könnte die EU, wie Thiele überzeugend darlegt, durchaus heute schon einen föderalen Bundesstaat nennen. Denn das, was sie von einem Staat unterscheide, die Hoheitsgewalt, sich selbst Kompetenzen zu geben - diese können der EU nur die Mitgliedstaaten übertragen -, falle im Tagesgeschäft nicht ins Gewicht.
Die tiefere Ursache dafür, dass die Frage nach dem Ziel der europäischen Integration ausgeblendet wird, reicht bis an die Anfänge der EU zurück, wie Thiele darlegt. Nach dem Scheitern der Pläne für eine politische Gemeinschaft Mitte der 1950er- Jahre habe sich die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als unpolitisches Gebilde verstanden. Das sei Europa jedoch nie gewesen - damals nicht und heute erst recht nicht. Eine Antwort darauf, wie die Zukunft Europas aussehen solle, könne es nur geben, wenn man die Europäische Union als das akzeptiere und bezeichne, was sie sei: eine politische Herrschaftsorganisation. Begünstigt wurde dieses unpolitische Verständnis der EU insbesondere von Walter Hallstein, der von 1958 bis 1967 erster Präsident der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war. Er prägte das Wort von der Europäischen Union als "Rechtsgemeinschaft". Daran sei prinzipiell nichts auszusetzen, findet der Berliner Staatsrechtler, wenn damit nicht auch eine bewusste Abgrenzung von einer politischen Gemeinschaft verbunden gewesen wäre. Die Vorstellung der EU als einer unpolitischen und technokratischen Organisation sieht Thiele bis heute am Werk. Als Beispiel dafür nennt er Emmanuel Macron, der die politischen Debatten im Europäischen Rat als zu überwindenden "Bürgerkrieg" bezeichnete.
Interessant ist Thieles Erklärung für das Demokratiedefizit in der EU, die sich aus seiner These einer weitgehend entpolitisierten EU ergibt. Im Gegensatz zur herkömmlichen Lesart, die sich auch das Bundesverfassungsgericht zu eigen machte, bestehe das Demokratiedefizit weniger in einer defizitär verwirklichten Gleichheit aller Unionsbürger. Gemeint ist damit der Umstand, dass ein deutscher EU-Abgeordneter viel mehr Bürger vertritt als einer aus Malta. Nach seiner Auffassung besteht das Demokratiedefizit der EU vor allem in einer materiellen Überfrachtung der Unionsverträge. Weil in den Verträgen vieles festgeschrieben worden sei, was eigentlich gar nicht in eine Verfassung gehöre, mangele es den europäischen Gesetzgebungsinstanzen an politischer Verhandlungsmasse. Die aber sei ein wesentliches Element für eine politische Herrschaftsorganisation wie die EU.
Während Thiele das Pathos gänzlich aus der europapolitischen Debatte verbannen möchte, strotzen die zehn Vorschläge nur davon, die Christoph Quarch unter dem programmatischen Titel "Den Geist Europas wecken" unterbreitet. Was Europa heute brauche, sei eine geistige Mitte, eine gemeinsame Vision von einem gemeinschaftlichen Leben, "die so leuchtend und strahlend ist wie der delphische Gott Apollon", schreibt Quarch. Seine Vorschläge wirken auf den ersten Blick wie die weltfremden Träumereien eines Altertumsfreundes aus der Nachkriegszeit: So schlägt er eine neue platonische Akademie für Europa vor oder Delphi, den Sitz des berühmtesten antiken Orakels, zur ständigen Kulturhauptstadt Europas und Austragungsort "delphischer Spiele" zu machen. Quarch plädiert für eine Rückbesinnung auf das Erbe des antiken Griechenlands als Fundament für das moderne Europa. Sein Pathos mag übertrieben wirken, sein Griechenland-Bild idealisierend, aber warum sollte man die abgedroschene Leerformel vom antiken Erbe Europas in einer Zeit weitgehend Lateinunterricht-freier Schulen nicht auch einmal ausbuchstabieren? Auch solche Visionen braucht Europa. THOMAS JANSEN
Christoph Quarch: Den Geist Europas wecken. Zehn Vorschläge.
Europa Verlag, München 2024. 240 S., 24,- Euro.
Alexander Thiele: Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union.
Campus Verlag, Frankfurt 2024. 155 S., 22,- Euro.
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