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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine verhalten optimistische Bestandsaufnahme über den Zustand der Demokratie
Angesichts einer nicht abreißenden Kette multipler Krisen sind Bücher über den Zustand der Demokratie seit einigen Jahren in Mode. Im Lichte einer gewachsenen Sorge über die Lebensfähigkeit der Demokratie können solche zeitdiagnostischen Schriften einen veritablen Beitrag zur politischen Selbstverständigung leisten. Der Charakter derartiger Beiträge ist zumeist kaum eindeutig zu beschreiben und schwankt zwischen empirischer Bestandsaufnahme, normativer Rahmensetzung und persönlich grundiertem Besinnungsaufsatz. Antonia Grunenberg, die zuletzt als Professorin für Politikwissenschaft lehrte, beherrscht dieses flexible Format.
Ihre Betrachtungen zur Demokratie sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Sie vermengt autobiographische Rückblenden mit Rückbindungen an Aussagen aus der politischen Philosophie (nicht zuletzt der von ihr verehrten Hannah Arendt), aktuelle journalistische und politikwissenschaftliche Beobachtungen mit eigenen Überzeugungen. In der Einleitung legt Grunenberg die Motivation für dieses Buch dar, das auf die Herausforderungen für die Demokratie angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, der Corona-Pandemie und potentiell geschwächter Bürger im Zeichen von Technologisierung und Digitalisierung reagieren will. Neben äußeren und scheinbar unpolitischen Gefahren für die Demokratie betont sie Kräfte der Selbstzerstörung von innen. Dabei ist ein negativistischer Abgesang ihre Sache nicht. Mindestens ebenso sehr glaubt sie an die Fähigkeit der Demokratie zu Selbstheilung und Erneuerung. Als Zeitzeugin konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten, "wie die deutsche Demokratie an großen Konflikten, an eigenen und fremden Fehlern gewachsen ist". Das stimmt optimistisch.
In den ersten Kapiteln macht Antonia Grunenberg ihre Leser mit ihren Reminiszenzen an die alte Bundesrepublik vertraut. Die 1944 geborene Autorin schildert frühe autoritäre Erfahrungen ihrer Familie in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, bevor sie - nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik - das Bild von den als bleiern empfundenen Fünfzigerjahren zeichnet. Sie wuchs im Folgejahrzehnt in eine sich radikalisierende Protestbewegung hinein, begeisterte sich für Rosa Luxemburg und Räteideen, verfasste sogar ein Manifest zur "Abschaffung des Parlamentarismus" mit. Einst hoffte sie, auf diesem Weg die "formale" durch eine "essenzielle" Demokratie ersetzen zu können. Im Rückblick irritiert sie dieser überschäumende Idealismus und Aktivismus ebenso wie der damalige "Verzicht auf jede kritische Reflexion des eigenen Handelns".
Das holt sie nun gleichsam nach. Eine Grundüberzeugung blieb aber konstant: Demokratien können nicht allein auf Institutionen dauerhaft und stabil aufgebaut werden, es bedarf dazu einer lebendigen Zivilgesellschaft. Wer nach einem roten Faden in Grunenbergs bunt gemischten Buch sucht, wird ihn womöglich in diesem Gedanken finden. Gelegentlich erweckt die Autorin angesichts ihrer Hoffnung auf bürgerschaftliche Selbstorganisation den Eindruck, die Rolle der verfassungsstaatlichen Institutionen, Mechanismen und Regeln gering zu schätzen. Gerade nach Umwälzungen und Systemwechseln ist deren Installierung aber entscheidend, um Demokratien überhaupt erst funktionstüchtig zu machen. Für eine anhaltende Stabilisierung und Immunisierung gegenüber autoritären Rückfällen ist die von Grunenberg hochgehaltene lebendige Zivilgesellschaft freilich wichtig. Sie sollte aber nicht an den Anfang des Prozesses gestellt werden. Das kann - insbesondere junge - Demokratien überfordern.
Das weiß die Autorin im Grunde auch, und sie lässt die von ihr einstmals selbst geübte Revolutionsromantik nicht mehr gelten. Das kommt in der scharfen Kritik an den Klimaprotesten der "Letzten Generation" zum Ausdruck. Grunenberg warnt davor, aus der "Radikalität einer Erwartung" unmittelbares politisches Exekutivhandeln abzuleiten und damit eine Verachtung gegenüber parlamentarischen Verfahren wie kontroversen Aushandlungsprozessen zum Ausdruck zu bringen. Sie geht sogar so weit, von "totalitärer Überheblichkeit" und dem Risiko einer "ökologischen Fürsorgediktatur" zu sprechen.
Auch im Falle der Kapitol-Erstürmung in den Vereinigten Staaten zeigt sich Grunenberg erleichtert angesichts "demokratischer Institutionen", die "standgehalten" haben. An ihren Seitenblick nach Amerika schließt sich ein Exkurs zur "technologischen Entmündigung der Bürger" an. Sosehr sie die Ambivalenzen des digitalen Zeitalters herausstellt, erkennt sie doch überwiegend negative Konsequenzen dieses "Fortschritts der Technik", der "keinen Fortschritt der Demokratie" zeitige. Ob die Gefahren für die Demokratie im digitalen Zeitalter wirklich größer sind, als sie es im analogen waren - dem mag man angesichts eines von Gewalt und Diktatur geprägten 20. Jahrhunderts mit Skepsis begegnen.
In diesen Passagen erhält Grunenbergs Buch einen kulturpessimistischen Anstrich, der aber keineswegs typisch für den Duktus ihrer meinungs- und thesenfreudigen Schrift ist. In letzter Konsequenz dominiert in ihrem essayistischen Potpourri ein Grundvertrauen in die Regenerationsleistung der Demokratie, solange nur "beherzte Bürger" sich für sie zuständig fühlen und pluralistischen Dissens, verbunden mit einem prinzipiellen Willen zum Konsens, auszuhalten vermögen. ALEXANDER GALLUS
Antonia Grunenberg: Demokratie als Versprechen. Warum es sich lohnt, für die Freiheit zu kämpfen
Europa-Verlag, München 2022, 208 S., 20,- Euro.
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