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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jenseits von Moralphilosophie und Effizienzdenken: Der Historiker Till van Rahden fragt, was Demokratien am Leben hält
Das Krisenempfinden in der Demokratie hat sich auf eigenartige Weise von den sozioökonomischen Gegebenheiten unabhängig gemacht. Die Behauptung, das Aufkommen populistischer Strömungen sei als Aufstand der Abgehängten zu sehen, trägt nicht besonders weit. Die Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie reicht tief in die Mittelschichten hinein, und die Erosion liberaler Grundwerte affiziert jene, die als gut situierte „jobholder“ mitten in der Gesellschaft stehen sollten. Auch Teile des sogenannten bürgerlichen Milieus sprechen von Fake News, misstrauen dem politischen Establishment und fürchten das Fremde.
Die Kommentatoren streiten derweil lebhaft über die Ursache dieser Misere. Ist die Globalisierung schuld, die den demokratischen Nationalstaat seiner Selbstbestimmung beraubt? Scheitern die Demokratien des Westens an der Integration von Migranten? Haben selbstzufriedene politische Eliten das Vertrauen der Bürger verspielt? Lässt sich die politische Willensbildung nicht mehr über das herkömmliche Parteiensystem organisieren? Im Unterschied zur Zwischenkriegszeit, als die Weimarer Republik wirtschaftskrisenbedingt im Chaos versank, ist noch kein sozialer Notstand akut. Angst vor Status- und Wohlstandsverlust oder apokalyptische Furcht vor gesellschaftlichen Umwälzungen befeuern den Überdruss an einem politischen System, das nach 1989 als alternativlos galt: der liberalen Demokratie.
Als Kontrapunkt zur Vielzahl der angloamerikanischen Bestandsaufnahmen, die von Brexit und Trump gebeutelt das langsame Absterben der Demokratie debattieren, stellt der Historiker Till van Rahden in einem originellen Essay die Frage, was die Demokratie denn überhaupt am Leben gehalten hat – und was sie weiterhin für ihr Überleben braucht.
Sein konstruktiver Ansatz zeichnet sich durch einen staunenden Blick auf die bundesrepublikanische Demokratiegeschichte aus und berauscht sich weder an der Ankunft im Westen noch überstrapaziert er die Läuterungsgeschichte des Aufarbeitens und Lernens. Anstatt die vertrauten Stationen von Liberalisierung und gesellschaftlicher Modernisierung noch einmal abzuklappern, lenkt er unseren Blick auf die soziomoralische Substanz der Demokratie. Im Sinne Tocquevilles begreift er die funktionierende Demokratie eben nicht allein als politische Herrschaftsform. Sie ist vor allem eine Lebensform, zu der Respekt, toleranter Umgang miteinander – keine Shitstorms – und Offenheit von ebenso gepflegten wie geschützten öffentlichen Räumen gehören.
Van Rahden durchmustert die tastende Heranbildung „unbeholfener Demokraten“, die sich nach 1945 in Absetzung zum NS in allen Lebensbereichen zu orientieren suchten. Die Tabula rasa des Zivilisationsbruchs stellte überkommene Traditionen auf den Prüfstand; westdeutsche Lehrlinge der Demokratie befreiten sich erst langsam von autoritären und hierarchischen Überzeugungen. Dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung ein vielstimmiges Meinungsspektrum ausdrücklich zuließ, half dabei, den Streit selbst als Essenz des Demokratischen aufzufassen. So war es nicht allein Sonntagsredenrhetorik, die Demokratie als „Wert an sich“, als „sittliche Lebensform“ und „lebendigen Prozess“ zu verstehen. Diese Konzentration aufs Formale half, den Umgang mit Pluralität einzuüben.
Besonders abseits des intellektuellen Höhenkamms zeigt van Rahden eindrücklich, wie engagiert gesellschaftliche Gruppen und Verbände den Kampf um die Geschlechtergerechtigkeit oder um die Neuinterpretation der Vaterrolle führten. Schon 1952, lange vor den Achtundsechzigern, entdeckte die klerikale Zeitschrift Der Männer-Seelsorger das Politische im Privaten und verkündete der katholischen Leserschaft: „Demokratie beginnt in der Familie!“ Erziehungshandbücher entwarfen ein neues Bild des demokratischen Vaters, der den Kinderwagen schiebt und der Mutter an Wickelkompetenz in nichts nachsteht.
Hier ist buchstäblich mit den Händen zu greifen, wie ein an militärischer Härte orientiertes Männlichkeitsideal sozialkulturell ausgemustert und auf „breiter Front“ durch die demokratische Vaterschaft ersetzt wird. Van Rahden erinnert an das epochale Verdienst der Verfassungsrichterin Erna Scheffler, die im Jahr 1959 dazu beitrug, das Prinzip des väterlichen Stichentscheids, also die grundgesetzwidrige „Richtlinienkompetenz“ des pater familiae, per BVG-Urteil zu kassieren. Die mediale Debatte, welche die Regierung Adenauer entblößte, wird dabei zum Musterbeispiel eines rationalen Diskurses, in dem die Kraft des besseren Arguments den Sieg davonträgt.
Van Rahden wendet sich gegen zwei vorherrschende Demokratiebetrachtungen: zum einen gegen eine erfahrungsabstinente Moralphilosophie, die sich auf eine abstrakte Entwicklung demokratischer Gerechtigkeitsprinzipien beschränkt; zum anderen gegen ein marktliberal überformtes Effizienzdenken, das die Demokratie lediglich an ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit misst. Zur Rettung der Demokratie lässt sich zudem weder ein utopisches Fernziel noch die Zauberformel für neue Partizipationsformen angeben. Aber die liberale Demokratie ermöglicht als einzig bisher bekannte Staatsform das gute Leben in Pluralität.
Mit seinem stillen Helden Dolf Sternberger sieht van Rahden im aristotelischen Ideal demokratischer Praxis das wirksamste Mittel zur Bewahrung der Demokratie. Ein solches Streben erschöpft sich nicht im moralischen Appell. Die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger ist im Alltag erfahrbar und praktizierbar. Wenn van Rahden „die sorglose Selbstgewissheit eines marktliberalen Effizienzdenkens“ der vergangenen Jahre kritisiert, werden die Maßstäbe für eine nachhaltige demokratische Politik deutlich. Die Schließung von öffentlichen Schwimmbädern und Bibliotheken, die Verödung der öffentlichen Räume sind nicht allein Ergebnis einer verfehlten kommunalen Finanzplanung – der Verfall von Infrastruktur und Kultureinrichtungen signalisiert vielmehr eine Krise der politischen Kultur und der Gemeinwohlorientierung. Till van Rahdens elegant formuliertes Brevier der demokratischen Lebensformen hält unaufdringliche Handlungsempfehlungen bereit, wie dem vermeintlichen Sinnverlust in der liberalen Demokratie tätig zu begegnen ist.
JENS HACKE
Till van Rahden: Demokratie. Eine gefährdete Lebensform. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 2019. 196 Seiten, 24,95 Euro.
Erst langsam befreiten sich die
Unbeholfenen von autoritären und
hierarchischen Überzeugungen
„Wählen ohne Reue“: Plakatwand zur Bundestagswahl 1972.
Foto: AP
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