Sie ist vielseitig, ideenreich und unkonventionell: Gisela Erler hat sich über die Jahrzehnte in spannenden Rollen für die Mitsprache und den Protest von Menschen und Gruppen engagiert, die zu wenig Gehör in der politischen Debatte finden. Die Tochter des SPD-Politikers Fritz Erler hat als Forscherin, Politikerin und erfolgreiche Unternehmerin für eine gleichberechtigte und faire Gesellschaft gekämpft, geworben, gestritten und gearbeitet. Am Kabinettstisch des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann war sie als enge Vertraute ab 2011 maßgeblich an der Umsetzung der »Politik des Gehörtwerdens« beteiligt und daran, dass Baden-Württemberg heute das Musterland der Bürgerbeteiligung in Europa ist. In ihrem Buch beschäftigt sich Gisela Erler vor dem Hintergrund ihrer eigenen bewegten Biografie und ihren vielfältigen Erfahrungen mit der Frage, wie unsere Demokratie den aktuellen weltpolitischen Stürmen trotzt, wie der Populismus in Schach gehalten wird und vor allem, wie sich Bürgerinnen und Bürger konkret und zum Wohle aller einmischen können.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Claudia Henzler hat Gisela Erlers Plädoyer für Bürgerräte mit Interesse gelesen. Die ehemalige Staatsrätin für Bürgerbeteiligung unter Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg möchte sie aus zufällig ausgelosten Bürgern zusammensetzen und erklärt, unter welchen Bedingungen - Zugang zu Fachleuten, gelingende Moderation, Verpflichtung der Regierung zur ernsthaften Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und zur Argumentation von Absagen - Bürgerräte ihrer Ansicht nach als politisches Instrument funktionieren können. Obwohl das Buch laut Henzler deutlich von Erlers eigener politischer Prägung durch die Kretschmann-Ära geprägt ist und sich die Rezensentin mehr konkrete Beispiele aus der Praxis gewünscht hätte, kann sie Erlers Aufruf zu einer grundlegenden politischen Reform empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.06.2024Gegen den dauernden Alarmzustand
Gisela Erler zeigt, wie Grüne erfolgreich Regierungspolitik machen könnten
Der Zeitpunkt für eine politische Bilanz des ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann rückt näher. Kretschmann ist 76 Jahre alt und regiert nur noch bis 2026. Schon deshalb ist es interessant, wenn eine enge Weggefährtin einen Erinnerungsband vorlegt: Gisela Erler, Grüne der Gründergeneration, die über den "Mütterfeminismus", die Studentenbewegung und die Kritik an der Naturzerstörung durch einen brutalen Industrialismus zur Partei kam. Von 2011 bis 2021 war Erler Staatsrätin für "Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung". Mit anderen Achtundsechzigern gehörte sie zu den Mitgründern des Sponti-Verlags Trikont und baute später, ihrer Zeit weit voraus, Zentren für Tagesmütter auf. Sie stammt aus einer eminent politischen Familie: Ihr Vater war Fritz Erler, der zur Zeit des Kanzlers Ludwig Erhard Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag war.
Im Mittelpunkt des Buchs stehen die Bemühungen der grünen Landesregierung, mit einer "Politik des Gehörtwerdens" neue Beteiligungsformate zu entwickeln und Bürgern neue Möglichkeiten der Mitsprache zu geben. Gisela Erlers Aufgabe in der Landesregierung war es, aus dem Aufstand gegen Stuttgart 21 Konsequenzen zu ziehen. Das zentrale Instrument, das unter ihrer Ägide entwickelt wurde, waren die "Bürgerräte" oder "Bürgerforen": per Zufallsprinzip ausgewählte Bürger, die konfliktträchtige Themen durch ein die parlamentarischen Beratungen ergänzendes, unverbindliches Votum ergänzen sollten. Aus Sicht der Grünen erwiesen sie sich als ein besseres Instrument als Bürger- oder Volksentscheide, weil sie nicht polarisieren. Außerdem erschweren Volksentscheide das Regieren mehr als die rechtlich nicht bindenden Voten von Zufallsbürgern.
Erlers Buch ist eine teils leicht desillusionierte Auseinandersetzung mit den Kritikern der Bürgerforen in den Medien und vor allem in der Union. Die Autorin erinnert daran, dass der verstorbene Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) dieser Form der Bürgerbeteiligung offen gegenüberstand, was in seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen sogar festgehalten ist. Es verdrießt Gisela Erler, dass die Union mit zum Teil wenig stichhaltigen Argumenten von diesem Instrument nun nichts mehr wissen will. Kritisiert wird vor allem, dass Bürgerforen die parlamentarische Demokratie aushöhlen könnten, ihre Zusammensetzung nicht repräsentativ sei oder dass nicht ergebnisoffen diskutiert werde. All diese Bedenken lassen sich ausräumen: Die Zufallsauswahl lässt sich durch Quoten für Alter, Bildungsgrad oder Geschlecht steuern, das Zufallsprinzip garantiert eine größere Unabhängigkeit, weil die Diskussionen eben nicht von Lobbyinteressen überlagert werden. Wenn das Votum eines Bürgerrats in den parlamentarischen Prozess zurückgespielt wird, kann es dort zu einer Versachlichung und zu einem Fortschritt der Debatte beitragen. Die Autorin ist aber selbst skeptisch, wie groß der Beitrag der Bürgerräte in der jetzigen, durch populistische Zersetzungsprozesse gekennzeichneten Demokratiekrise sein kann. Erler erinnert das an die Abwehrmechanismen der "revolutionären Milieus" in ihrer Jugend. Leider sind heute nicht nur stark eingezirkelte Milieus für rationale Debatten oder den "herrschaftsfreien Diskurs", wie ihn Jürgen Habermas und viele Anhänger der deliberativen Demokratietheorie in idealtypischer Weise favorisiert haben.
Die völlige Entgrenzung des Politikbegriffs, die anarchische Macht sozialer Medien, die allumfassende Emotionalisierung des Politischen sowie rechtspopulistische Parteien, die mit antidemokratischen Reflexen bewusst spielen, haben in vielen Demokratien - auch in Deutschland - die Stimmung vergiftet. Auch das Votum eines Bürgerforums ist dieser Stimmungslage ausgesetzt, sie limitiert die Wirkung dieser partizipativen Methode. Diese Fragen hätte Erler ruhig breiter diskutieren können, stattdessen widmet sie sich dann aktuellen tagespolitischen Themen.
Der Demokratieforscher Veith Selk glaubt, dass sich durch eine "zivilgesellschaftliche Partizipationsaristokratie" - wie man die Bürgerforen auch bezeichnen könnte - kaum eine breitere Partizipation und Rückbindung der Bürger an die Demokratie erreichen lasse. Behindert werde das auch durch die "kommunikative Überlastung" durch die sozialen Medien. Vor zwanzig Jahren, beim Auftreten erster Wutbürgerbewegungen und der Initialzündung für die Ausweitung der Bürgerbeteiligung, war das noch anders: Es war zum Beispiel bei Stuttgart 21 durch das Votum eines Expertengremiums möglich, einen lokal begrenzten Konflikt zu befrieden, auch wenn es sich damals nicht um Zufallsbürger handelte. Wenn Zufallsbürger zur Überwindung der derzeitigen Krise nur einen begrenzten Heilungsbeitrag leisten können, sollte man sie zur Befriedung gesellschaftlicher Konflikte, zur Vorbereitung von Kompromissen nicht unterschätzen und auch künftig nutzen. Das zeigen die vielen positiven Beispiele, die Erler für Baden-Württemberg aufzählt. "Eine unbedingte Basisdemokratie bewirkt einen dauernden Alarmzustand, den die meisten Menschen nicht wünschen. In Bürgerbeteiligungen und Bürgerräten auf allen Ebenen der Gesellschaft besteht der Missing Link, das bisher fehlende Zwischenstück, für die Demokratie des 21. Jahrhunderts", schreibt Erler optimistisch, denn gefühlte Ohnmacht räche sich in der Politik und wende sich "wütend gegen Entscheidungen und sogar gegen Kompromisse".
Das Buch - auch wenn es nicht Gisela Erlers ursprüngliche Absicht war - enthält auch Hinweise darauf, wie die Grünen erfolgreich Regierungspolitik machen können. 1984 veröffentlichte nämlich eine Gruppe um Winfried Kretschmann, zu der Erler gehörte, das "Ökolibertäre Manifest". Empfohlen wurde, nicht "durchzuregieren", sondern ökologische Ziele mit marktwirtschaftlichen Mitteln und einem Bündnis mit ganz unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen zu erreichen. Es war unausgesprochen das Ziel einer grünen Volkspartei. Genähert haben sich die Grünen diesem Ziel mal mehr, mal weniger. In der Ampelregierung offensichtlich eher nicht. Gisela Erler, heute 78 Jahre alt, bedauert das am Ende eines langen und auch bewegten politischen Lebens: "Was bei den ökolibertären Grünen bereits vor 40 Jahren klar formuliert wurde, nämlich dass sich Marktwirtschaft und Ökologie verbinden müssen, ist noch immer nicht bei der gesamten grünen Basis angekommen." RÜDIGER SOLDT
Gisela Erler: Demokratie in stürmischen Zeiten. Für eine Politik des Gehörtwerdens. Politische Erinnerungen.
Herder Verlag, Freiburg 2024. 272 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Gisela Erler zeigt, wie Grüne erfolgreich Regierungspolitik machen könnten
Der Zeitpunkt für eine politische Bilanz des ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann rückt näher. Kretschmann ist 76 Jahre alt und regiert nur noch bis 2026. Schon deshalb ist es interessant, wenn eine enge Weggefährtin einen Erinnerungsband vorlegt: Gisela Erler, Grüne der Gründergeneration, die über den "Mütterfeminismus", die Studentenbewegung und die Kritik an der Naturzerstörung durch einen brutalen Industrialismus zur Partei kam. Von 2011 bis 2021 war Erler Staatsrätin für "Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung". Mit anderen Achtundsechzigern gehörte sie zu den Mitgründern des Sponti-Verlags Trikont und baute später, ihrer Zeit weit voraus, Zentren für Tagesmütter auf. Sie stammt aus einer eminent politischen Familie: Ihr Vater war Fritz Erler, der zur Zeit des Kanzlers Ludwig Erhard Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag war.
Im Mittelpunkt des Buchs stehen die Bemühungen der grünen Landesregierung, mit einer "Politik des Gehörtwerdens" neue Beteiligungsformate zu entwickeln und Bürgern neue Möglichkeiten der Mitsprache zu geben. Gisela Erlers Aufgabe in der Landesregierung war es, aus dem Aufstand gegen Stuttgart 21 Konsequenzen zu ziehen. Das zentrale Instrument, das unter ihrer Ägide entwickelt wurde, waren die "Bürgerräte" oder "Bürgerforen": per Zufallsprinzip ausgewählte Bürger, die konfliktträchtige Themen durch ein die parlamentarischen Beratungen ergänzendes, unverbindliches Votum ergänzen sollten. Aus Sicht der Grünen erwiesen sie sich als ein besseres Instrument als Bürger- oder Volksentscheide, weil sie nicht polarisieren. Außerdem erschweren Volksentscheide das Regieren mehr als die rechtlich nicht bindenden Voten von Zufallsbürgern.
Erlers Buch ist eine teils leicht desillusionierte Auseinandersetzung mit den Kritikern der Bürgerforen in den Medien und vor allem in der Union. Die Autorin erinnert daran, dass der verstorbene Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) dieser Form der Bürgerbeteiligung offen gegenüberstand, was in seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen sogar festgehalten ist. Es verdrießt Gisela Erler, dass die Union mit zum Teil wenig stichhaltigen Argumenten von diesem Instrument nun nichts mehr wissen will. Kritisiert wird vor allem, dass Bürgerforen die parlamentarische Demokratie aushöhlen könnten, ihre Zusammensetzung nicht repräsentativ sei oder dass nicht ergebnisoffen diskutiert werde. All diese Bedenken lassen sich ausräumen: Die Zufallsauswahl lässt sich durch Quoten für Alter, Bildungsgrad oder Geschlecht steuern, das Zufallsprinzip garantiert eine größere Unabhängigkeit, weil die Diskussionen eben nicht von Lobbyinteressen überlagert werden. Wenn das Votum eines Bürgerrats in den parlamentarischen Prozess zurückgespielt wird, kann es dort zu einer Versachlichung und zu einem Fortschritt der Debatte beitragen. Die Autorin ist aber selbst skeptisch, wie groß der Beitrag der Bürgerräte in der jetzigen, durch populistische Zersetzungsprozesse gekennzeichneten Demokratiekrise sein kann. Erler erinnert das an die Abwehrmechanismen der "revolutionären Milieus" in ihrer Jugend. Leider sind heute nicht nur stark eingezirkelte Milieus für rationale Debatten oder den "herrschaftsfreien Diskurs", wie ihn Jürgen Habermas und viele Anhänger der deliberativen Demokratietheorie in idealtypischer Weise favorisiert haben.
Die völlige Entgrenzung des Politikbegriffs, die anarchische Macht sozialer Medien, die allumfassende Emotionalisierung des Politischen sowie rechtspopulistische Parteien, die mit antidemokratischen Reflexen bewusst spielen, haben in vielen Demokratien - auch in Deutschland - die Stimmung vergiftet. Auch das Votum eines Bürgerforums ist dieser Stimmungslage ausgesetzt, sie limitiert die Wirkung dieser partizipativen Methode. Diese Fragen hätte Erler ruhig breiter diskutieren können, stattdessen widmet sie sich dann aktuellen tagespolitischen Themen.
Der Demokratieforscher Veith Selk glaubt, dass sich durch eine "zivilgesellschaftliche Partizipationsaristokratie" - wie man die Bürgerforen auch bezeichnen könnte - kaum eine breitere Partizipation und Rückbindung der Bürger an die Demokratie erreichen lasse. Behindert werde das auch durch die "kommunikative Überlastung" durch die sozialen Medien. Vor zwanzig Jahren, beim Auftreten erster Wutbürgerbewegungen und der Initialzündung für die Ausweitung der Bürgerbeteiligung, war das noch anders: Es war zum Beispiel bei Stuttgart 21 durch das Votum eines Expertengremiums möglich, einen lokal begrenzten Konflikt zu befrieden, auch wenn es sich damals nicht um Zufallsbürger handelte. Wenn Zufallsbürger zur Überwindung der derzeitigen Krise nur einen begrenzten Heilungsbeitrag leisten können, sollte man sie zur Befriedung gesellschaftlicher Konflikte, zur Vorbereitung von Kompromissen nicht unterschätzen und auch künftig nutzen. Das zeigen die vielen positiven Beispiele, die Erler für Baden-Württemberg aufzählt. "Eine unbedingte Basisdemokratie bewirkt einen dauernden Alarmzustand, den die meisten Menschen nicht wünschen. In Bürgerbeteiligungen und Bürgerräten auf allen Ebenen der Gesellschaft besteht der Missing Link, das bisher fehlende Zwischenstück, für die Demokratie des 21. Jahrhunderts", schreibt Erler optimistisch, denn gefühlte Ohnmacht räche sich in der Politik und wende sich "wütend gegen Entscheidungen und sogar gegen Kompromisse".
Das Buch - auch wenn es nicht Gisela Erlers ursprüngliche Absicht war - enthält auch Hinweise darauf, wie die Grünen erfolgreich Regierungspolitik machen können. 1984 veröffentlichte nämlich eine Gruppe um Winfried Kretschmann, zu der Erler gehörte, das "Ökolibertäre Manifest". Empfohlen wurde, nicht "durchzuregieren", sondern ökologische Ziele mit marktwirtschaftlichen Mitteln und einem Bündnis mit ganz unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen zu erreichen. Es war unausgesprochen das Ziel einer grünen Volkspartei. Genähert haben sich die Grünen diesem Ziel mal mehr, mal weniger. In der Ampelregierung offensichtlich eher nicht. Gisela Erler, heute 78 Jahre alt, bedauert das am Ende eines langen und auch bewegten politischen Lebens: "Was bei den ökolibertären Grünen bereits vor 40 Jahren klar formuliert wurde, nämlich dass sich Marktwirtschaft und Ökologie verbinden müssen, ist noch immer nicht bei der gesamten grünen Basis angekommen." RÜDIGER SOLDT
Gisela Erler: Demokratie in stürmischen Zeiten. Für eine Politik des Gehörtwerdens. Politische Erinnerungen.
Herder Verlag, Freiburg 2024. 272 S., 24,- Euro.
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