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Verfassung und Verfassungswirklichkeit in der V. Republik
Wolfram Vogel: Demokratie und Verfassung in der V. Republik. Frankreichs Weg zur Verfassungsstaatlichkeit. Verlag Leske und Budrich, Opladen 2001. 347 Seiten, 30,90 Euro.
Die V. Republik, die Schöpfung von Charles de Gaulle, war zu Anbeginn in Frankreich heftig umstritten. Ihre Verfassung stand mit der massiven Stärkung der Exekutive und einer damit verbundenen Zurückdrängung des Parlamentes quer zu der aus der III. und IV. Republik gewohnten Herrschaft von Deputiertenkammer und Senat, dem "régime des assemblées". Zwar hatten die Franzosen in einer Volksabstimmung das neue Regime mit überwältigender Mehrheit legitimiert, aber das war eher Ausdruck der Hoffnung, de Gaulle werde es gelingen, den schon vier Jahre dauernden Algerien-Krieg zu beenden.
Angesichts der offenkundig ganz auf die Person des Gründers zugeschnittenen Verfassung wuchs jedoch gleichzeitig die Sorge um die Zukunft der Demokratie in Frankreich. Rasch war man mit dem Bonapartismusvorwurf bei der Hand. Ein Verfassungskonsens war 1958 nicht vorhanden. Selbst der liberale Soziologe und Publizist Raymond Aron, der im Kriege in den Reihen des Freien Frankreichs an der Seite de Gaulles gestanden hatte, meinte, mit dieser Verfassung werde die Demokratie nicht überleben. Und auf der Linken bezeichnete Mitterrand noch vier Jahre später in einem vielzitierten Pamphlet die gaullistische Republik als ein System des "permanenten Staatsstreiches." Dennoch hat die Demokratie mit dieser Verfassung bis heute überlebt. Die Linke gelangte sogar ab 1981 in einer demokratischen "Alternance" an die Macht; Mitterrand stand als dritter Nachfolger von de Gaulle dem Gründungsvater in eindrucksvoller Repräsentanz der Republik in nichts nach.
Um diese Entwicklung zu erfassen, spitzt der Verfasser in seinem anspruchsvollen Buch das Problem auf die Frage zu, ob Frankreich seit 1958 zu einem demokratischen Verfassungsstaat geworden ist. In einem solchen setzt das Verfassungsprinzip, die Suprematie der geschriebenen Verfassung, dem Demokratieprinzip, das im Kern die Dominanz der Volkssouveränität meint, Grenzen. Die Verfassung entwickelt dabei - nicht zuletzt interpretiert von einem unabhängigen Verfassungsgericht - eine "hegende Kraft". Sie mäßigt den demokratischen Souverän so, daß Freiheit und Sicherheit der Bürger gewährleistet sind. So entsteht ein Verfassungskonsens.
Frankreich hat in seiner Geschichte, so zeigt der Verfasser in einem historischen Rückgriff, die Errichtung neuer republikanischer Regime stets mehr mit dem Demokratieprinzip als mit dem Verfassungsprinzip zu legitimieren versucht. Gegenüber dieser historischen Dominanz des Demokratieprinzipes haben die Verfassungsväter der V. Republik um Charles de Gaulle den Versuch gemacht, beide Prinzipien miteinander zu vereinbaren. Das Demokratieprinzip kommt in der Institution des Referendums und der Direktwahl des Präsidenten zum Ausdruck und gewährleistet eine starke Exekutive. Das Verfassungsprinzip spiegelt sich in der Einsetzung des Conseil Constitutionel - eines Verfassungsrates, der die Kontrolle der einfachen Gesetzgebung gemäß den Prinzipien der Verfassung ermöglicht.
Im Laufe der Entwicklung - so zeigt der Verfasser anhand eingehender quantitativer wie qualitativer Analysen der Rechtsprechung des Verfassungsrates - hat der Conseil schrittweise seine Kompetenzen ausgeweitet und damit den Weg zu einem Verfassungsgericht spezifischer Art eingeschlagen. In wegweisenden Entscheidungen drückte sich sein Wille zur Verfassungsstaatlichkeit insofern aus, als er die in der Verfassung festgelegten Regeln, Verfahren und Prinzipien als verbindlich für alle am politischen Entscheidungsprozeß beteiligten Akteure gemacht hat. Seine Rechtsprechung unterwirft unterschiedliche Mehrheiten den gleichen Verfassungsprinzipien. Das wurde insbesondere nach dem Wechsel der Mehrheiten ab 1981 von Bedeutung. Andererseits aber hat der Verfassungsrat die Volkssouveränität als dominante konstitutionelle Leitidee insofern aufrechterhalten, als er das absolute, das heißt durch den Conseil Constitutionel nicht zu beschränkende Recht des Souveräns zur Veränderung der Verfassung durch Referenden ebenfalls betont.
Der bekannte Historiker François Furet folgerte daraus, daß die Verfassung von 1958 in ihren Institutionen Ancien Régime wie Revolution in sich vereine. Die V. Republik, so das Fazit der Untersuchung, habe sich zwar nicht dem Ideal des Verfassungsstaates verschrieben, wohl aber einen Weg gefunden, die Spannung zwischen dem demokratiestaatlichen, auf revolutionärer Volkssouveränität beruhenden Ideal und einer verfassungsstaatlichen Einhegung so auszubalancieren, daß schließlich ein die Franzosen einender Verfassungskonsens entstanden ist. Dieser läßt sich in den Verfassungselogen anläßlich der verschiedenen Jubiläumsjahre der Republik ebenso erkennen wie in allen Meinungsumfragen. Auch wenn die realpolitische und sozioökonomische Entwicklung nur am Rande einbezogen wird, ist dies doch ein überzeugender Befund.
KLAUS-JÜRGEN MÜLLER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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