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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Krisenberichterstatter im Parlament: Die kurze Geschichte der Regierung Kemmerich
Am 4. Februar 2020, dem Tag vor der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag, reiste Thomas Kemmerich nach Berlin. Der Landes- und Fraktionschef der FDP traf sich mit Hauptstadtjournalisten, um zu erläutern, warum er vorhatte, in einem eventuellen dritten Wahlgang als Kandidat anzutreten. Ein Reporter des Deutschlandfunks führte ein Interview mit ihm, das aus unbekannten Gründen nicht gesendet wurde. Vielleicht schien Kemmerich, den außerhalb Thüringens damals kaum jemand kannte, nicht wichtig genug fürs nationale Programm.
Martin Debes, der Chefreporter der Thüringer Allgemeinen, zitiert aus dem Interview in seinem Buch über die von Kemmerich ausgelöste Regierungssystemkrise. Der Kandidat im Wartestand, dessen Partei bei der Landtagswahl vom 27. Oktober 2019 die Fünfprozenthürde nur knapp genommen hatte, trug eine lange demokratietheoretische Rechtfertigung seines Unternehmens vor. Es könne "durchaus ein kleinerer Partner im parlamentarischen Gefüge" berufen sein, eine Minderheitsregierung anzuführen: Das Interesse einer Fraktion an der Mehrheitsbildung war nach Kemmerichs Theorie umgekehrt proportional zu ihrer Größe - vielleicht könne das "Bemühen" der Kleinen sogar "versöhnend" wirken.
In den Ohren von Debes verträgt sich das Tondokument schlecht mit den späteren Beteuerungen Kemmerichs, nie an eine Mehrheit gemäß Artikel 70 Absatz 3 der Landesverfassung geglaubt zu haben. Das Buch wartet nicht mit Enthüllungen auf. Debes hat keine Indizien dafür gefunden, dass man die gemeinschaftliche Stimmabgabe von AfD, CDU und FDP im dritten Wahlgang auf eine Absprache zurückführen könnte. Statt einer Komplotttheorie schlägt er "Die Schlafwandler" von Christopher Clark als Modell für die Eigendynamik eines von widerstreitenden Intentionen vorangetriebenen Geschehens vor, dessen Ausgang nicht erwünscht war, aber im entscheidenden Moment in Kauf genommen wurde. In der Chronologie der Februarkrise käme der Verabredung der CDU-Fraktion, geschlossen für Kemmerich zu stimmen, eine ähnliche Bedeutung zu wie 1914 dem Blankoscheck des Deutschen Reiches für Österreich: Der auf dem Papier mächtigste Akteur gab die Initiative aus der Hand und machte sich von seinem Juniorpartner abhängig, beziehungsweise im Fall der CDU von der AfD als dem Partner, der kein Partner sein sollte. Blanko wurde die Zusage der CDU an Kemmerich insofern ausgefertigt, als es keine Verabredung darüber gab, ob er im Fall einer Mehrheit durch AfD-Stimmen die Wahl annehmen oder ausschlagen werde. Auf Twitter verbreitete Mike Mohring, Kemmerichs Amtskollege bei der CDU, ein Foto aus der entscheidenden Fraktionssitzung mit dem aus dem Lateinischen übersetzten Merksatz: "Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende!" Was glaubte Mohring mit der Versendung dieser Sentenz zu tun?
Die AfD genoss paradoxerweise einen strategischen Vorteil, den man mit dem Vergleich mit 1914 nicht mehr erklären kann. Staaten befinden sich in einem Verhältnis zueinander, das dem Naturzustand der politischen Philosophie gleicht. Parlamentarische Parteien dagegen bekämpfen einander nach Regeln, und die wichtigste Regel einer parlamentarischen Verfassung besagt, dass der Versuch der Mehrheitsbildung gemacht werden muss, unabhängig von individuellen Bündnisabsichten. Man mag sich über den Trick empören, dass Björn Höckes AfD-Fraktion einen Strohmann nominierte, um im dritten Wahlgang scheinbar überraschend Kemmerich wählen zu können. Aber bei funktionaler Betrachtung wird man nicht umhinkönnen, Höckes Taktik als systemkonform zu beschreiben: Die AfD tat das, was die parlamentarische Verfassung von den Fraktionen erwartet - sie organisierte eine Mehrheit für eine Regierung in ihrem Sinne. Ein Symptom einer Krise der parlamentarischen Regierungsweise ist es dagegen, dass CDU und - wenn man Kemmerich glaubt, dass er nicht an einen Sieg glaubte - FDP die von ihnen verloren gegebene Abstimmung über den Regierungschef als Gelegenheit für Symbolpolitik nutzten: Um ein Zeichen zu setzen für die Mitte, sammelten sich Mohrings Leute hinter Kemmerich.
Ausführlich stellt Debes als Vorgeschichte der Krise von 2019/20 die Krise von 2014 dar, als der knappe Wahlausgang und der Einzug der AfD in den Landtag schon einmal eine langwierige Regierungsbildung bedingten. Der Rückgriff ist hilfreich für die Einordnung des 5. Februars 2020, weil man Gründe erhält, den Zäsurcharakter dieses Tages zu modifizieren. Instrumente wie Minderheits- und Expertenregierung, die Kemmerich und Höcke, aber auch Ramelow zu verschiedenen Zeitpunkten ins Spiel brachten, waren schon 2014 in den Raum gestellt worden. Es ist das Verdienst des Buches von Debes, ein moralisch und geschichtspolitisch schnell und einfach zu beurteilendes Ereignis geduldig aus der parlamentarischen Praxis herzuleiten. Der Wehrhaftigkeit der Demokratie ist am besten gedient, wenn sie ihr eigenes Funktionieren versteht. PATRICK BAHNERS
Martin Debes: "Demokratie unter Schock". Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte.
Klartext Verlag, Essen 2021. 248 S., br., 18,95 Euro.
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