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Parallelaktion in Sachen Demokratieförderung: Fabian Link untersucht Entwicklungslinien der westdeutschen Sozialwissenschaft nach 1945
Die Geschichte der Soziologie in Deutschland ist ein relativ gut erforschtes Gebiet. Bereits die von Wolf Lepenies 1981 herausgegebenen vier Bände zur "kognitiven, sozialen und historischen Identität" dieser Disziplin bildeten ein frühes Monument, das nicht nur die Gründerjahre von Simmel und Weber beleuchtete, sondern bis zum Ende der Sechzigerjahre vordrang. Die nationalsozialistischen Jahre wurden rund ein Jahrzehnt später von Carsten Klingemann und anderen beleuchtet. In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Zeit nach 1945 in den Fokus gerückt. Die Zahl an Tagungen, Monographien und Handbüchern über die deutsche Soziologiegeschichte ist im Vergleich mit anderen Fächern beachtlich, wobei der Sprung in die Siebzigerjahre noch bevorsteht.
Wer in diesem Forschungsfeld etwas Substantielles beitragen möchte, braucht eine gute Idee wie der Historiker Fabian Link. In seiner Studie entwickelt er eine Art Parallelaktion zwischen zwei maßgeblichen Strömungen soziologischen Denkens und Forschens, nämlich zum einen des 1951 in Frankfurt wiedereröffneten Instituts für Sozialforschung um die Remigranten Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Friedrich Pollock, zum anderen die Soziologie von Helmut Schelsky und seines Lehrers Arnold Gehlen mit nationalsozialistischen Wurzeln. Link beginnt seine Studie folglich nicht mit der "Stunde null" 1945, sondern bereits 1931, als sich die Frankfurter Sozialphilosophie und die Leipziger Anthropologie konstituierten. Er fragt, wie diese beiden erfolgreichen "Denkkollektive" bei der Neukonstituierung der Sozialwissenschaften in der postnationalsozialistischen Demokratie miteinander auskommen, ja kooperieren konnten, bevor ab den Sechzigerjahren die öffentlich ausgetragenen Konflikte in den Vordergrund rückten, die allerdings vom Autor nur noch angerissen werden.
Link erklärt die Konvergenz der im Ursprung einander feindlichen Soziologien mit der äußeren Konstellation: Die Sozialwissenschaften dienten intentional und objektiv der Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft. Sie produzierten "Demokratisierungswissen". Mit dem demokratischen Neuanfang nach 1945, der auch das akademische Feld selbst betraf, war die deutliche Absetzung vom Nationalsozialismus und das Schweigen über die NS-Vergangenheit verbunden, zumindest in den ersten fünfzehn Jahren der Republik. Link stellt also die "epistemischen Praktiken und Diskurse" der Wissenschaftlergruppen in Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Problemkonstellationen. Die Frage der "Reeducation" der vom Nationalsozialismus geprägten Bevölkerung und die weltpolitische Lage im frühen Kalten Krieg werden somit für die Neuausrichtung der Sozialwissenschaften als mindestens so bedeutend erachtet wie innerwissenschaftliche Diskussionsprozesse, die jedoch gleichwohl ausführlich dargestellt werden, denn die Studie versteht sich als wissenschaftshistorischer Beitrag.
Im Blickpunkt stehen dabei die konkreten Kooperationen, Konkurrenzen und Konflikte zwischen den "Denkkollektiven" um Horkheimer und Schelsky. Link hat dazu umfangreiches und teilweise neues Archivmaterial gesichtet. Ebenso vermittelt die Studie Einblicke in die Forschungspraktiken, insbesondere in die Mühen der Ebene, zum Beispiel die Rolle der Hollerithmaschine beim "Gruppenexperiment". Diese Kapitel über Probleme der Sozialforschung in Frankfurt und Hamburg in den Fünfzigerjahren sind beeindruckend.
Aus dieser als Habilitation entstandenen akribischen und soliden Studie hätte infolge des ungewöhnlichen Zeitrahmens über die "Bruchstelle" 1945 hinweg, den profunden Recherchen und der fachlichen Kompetenz des Autors ein packendes Buch werden können, wenn jemand die Arbeit auf sich genommen hätte, die Darstellung zu entschlacken, die Argumentation hervorzuheben und die Fachsprache abzurüsten. Die Redundanzrate ist aber doch beträchtlich, die Textreferate sind üppig, der Stil von szientifischen Vorgaben geprägt.
Link hat als Leitbegriffe für die Akteursgruppen um Horkheimer und Schelsky "Denkkollektiv" und "Denkstil" gewählt. Während ihr Urheber Ludwik Fleck damit erklären wollte, wie Ideen in der Wissenschaft produziert werden, nämlich nicht im stillen Kämmerlein genialer Denker, sondern in Kooperation und Konflikt unter Menschen, ernennt Link die Soziologengruppen einfach im Vornherein zu Denkkollektiven mit einem Denkstil - und erklärt mit diesem "Ansatz" nichts. Die Begriffe bleiben rein äußerlich, liefern keinen Erkenntnisgewinn. Es würde sich nichts ändern, ließe man sie weg.
Aber der Lesefluss würde sich ohne die Denkkollektivierung und -stilisierung erhöhen. Es klingt seltsam, wenn nicht Akteure, sondern eben Denkkollektive dieses oder jenes tun. Zum Beispiel kommt nicht Horkheimer aus den Vereinigten Staaten zurück, sondern sein Denkkollektiv. Nicht Gehlen beeinflusst Schelsky, sondern dessen Denkstil schreibt sich ein. Die Protagonisten haben nicht Ideen und Ansichten, für die sie eintreten und über die sie streiten, sondern Denkkollektive entwickeln Denkfiguren, die sich überdies in drei Wissensebenen (epistemisch, sozialempirisch, erziehungspolitisch) aufspalten, die wiederum wie in der Mengenlehre Schnittmengen bilden oder auch nicht. Wenn also Adorno dem blitzamerikanisierten Schelsky nicht über den Weg traut, dann heißt es, dass ihre Wissensebenen nicht deckungsgleich sind. "Das war ich nicht, es war mein Denkstil!"
Manche wertvolle Einsicht droht in diesem Textmassiv unterzugehen. Dabei verdeutlicht dieses Buch doch faktenreich, wie kontaminiert das Feld der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik war und wie es gleichwohl zu Kooperationen zwischen Trägern, Mitläufern und Opfern des NS-Regimes auf dem Feld der Soziologie in der Bundesrepublik kommen konnte - ob sie nun einem Denkkollektiv angehörten oder nicht. JÖRG SPÄTER
Fabian Link: "Demokratisierung nach Auschwitz". Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 640 S., geb., 66,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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