Studienarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Germanistik - Ältere Deutsche Literatur, Mediävistik, Note: 1,3, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Philosophisches Institut), Veranstaltung: Einführung in das Mittelhochdeutsche, Sprache: Deutsch, Abstract: Wolfram von Eschenbach: „Den Morgenstrahl“ Den ersten Morgenstrahl beim Lied des Wächters nahm wahr die Herrin, als sie heimlich in den Armen ihres werten Geliebten lag. Dadurch büßte sie all ihr Glück ein. Und deshalb mussten sich ihre klaren Augen aufs Neue mit Tränen füllen. Sie sprach klagend: ,,O weh, Tag! Alles, was lebt, freut sich deiner und verlangt danach, dich zu sehen - nur ich nicht. Was wird aus mir werden? Nun kann nicht länger hier bei mir bleiben mein Geliebter; den jagt dein Licht von mir.“ Der Tag drang mit Macht voll durch die Fenster. Die Liebenden hatten alle Riege vorgeschoben; das half nicht; darüber widerfuhr ihnen Schmerz. Die Geliebte zog den Geliebten fest an sich heran. Ihre Augen benetzten ihrer beider Wangen. Da sprach sie zu ihm: „ Zwei Herzen und einen Leib haben wir, unsere Treue begleitet uns ungetrennt auf allen Wegen. Ich bin all meines Glückes gänzlich beraubt, es sei denn, du kommst zu mir und ich zu dir.“ Der traurige Mann nahm entschlossen Abschied. Ihre hellen glatten Körper kamen zueinander. Da war es ganz Tag. Weinende Augen machen umso süßer der Geliebten Kuss. So verflochten sie ihre Münder, ihre Brust, ihre Arme, ihre blanken Beine. Welcher Maler auch das darzustellen versuchte wie sie da in ihrer Vereinigung lagen, dem wäre allzu viel abgefordert. Obwohl ihr Glück doch die Last der Sorgen tragen musste, gaben sie sich ihrer Liebe vollkommen hin.