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Ob Albert Göring oder Alois Musil - in seinen Erzählungen widmet sich Dieter Kühn den Randfiguren der Geschichte und treibt ein Spiel um Fakten und Fiktion.
Norbert Verdonck ist Maler. Mit neumodischen Stillleben überflutet er den Kunstmarkt, der Erfolg indes ist bescheiden. Die große Stunde des Deutschbelgiers schlägt, als er Albert Göring, den Exportleiter der Skoda-Werke, kennenlernt. Dieser interessiert sich nicht nur für seine Bilder, sondern bringt ihn schließlich auf die Idee, Stillleben im Stil der alten Meister zu malen und diese an den Göring-Bruder Hermann zu verkaufen. So füllt sich dessen Kunstsammlung in Carinhall nach und nach mit Bildern von Pieter Claesz, Carel Fabritius und anderen, feinsäuberlich hergestellt von Norbert Verdonck und mit detaillierten Provenienznachweisen versehen.
Anhand dieser Erzählung lässt sich Dieter Kühns Verfahren bei seinen "Gefälschten Geschichten" schön beobachten. Einer Vielzahl an beglaubigten Fakten - die Vita des dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstehenden Albert Göring, die Sammelleidenschaft seines Bruders, die Beschlagnahmung von Kunstwerken in den besetzten Ländern - wird eine fiktive Figur beigesellt, hier der Maler Norbert Verdonck, den es zwar nicht gab, der aber gut erfunden ist. Das Stichwort der Fälschung ist in der Erzählung selbst ständig präsent und dient nicht zuletzt zu selbstreflexiven Volten, so wenn Verdonck seine "echten" Stillleben selbst als Gegenstand einer Fälschung entdecken muss. Der Sinn der Fälschungen ist evident: Es geht um die Täuschung des mächtigen Käufers, um - je nach Perspektive - Bereicherung oder Devisenabfluss und um die Lust an künstlerischer Meisterschaft. Worum geht es aber Dieter Kühn?
Aus der Perspektive Görings gesehen wird auch der Leser an der Nase herumgeführt, kann sich nie sicher sein, wieweit er dem Autor vertrauen kann, wo Faktum aufhört und Fiktion beginnt. Das kann aber nicht alles sein. Geschichte umzuschreiben, sich vom Druck der Faktizität zu befreien mag ein weiteres Motiv sein, das Dieter Kühn schon in ähnlicher Weise in seinem Buch "Ich war Hitlers Schutzengel" umgetrieben hat, aber dafür sind die Gegenstände der meisten Erzählungen hier zu peripher. Man muss schon Spezialist sein oder umfangreiche Recherchen anstellen, um dem Autor im Detail auf die Schliche zu kommen. Und daher ist das Interessantere, wie oft bei Dieter Kühn, weniger das Erfundene als das tatsächlich Geschehene, erlauben seine Figuren, allenfalls Nebendarsteller der Geschichte, einen neuen Blick auf das große Ganze.
Johann Peter Lyser etwa, der Protagonist des ersten Textes, taucht als Randfigur in Biographien E. T. A. Hoffmanns, Robert Schumanns oder Felix Mendelssohn Bartholdys auf. Ihm wird hier eigenes Gewicht zugesprochen, und es ist erstaunlich, mit welchen Geistesgrößen er alles verkehrt hat. Nur berichtet er im Ton eines Aufschneiders darüber, der über sein insgesamt glanzloses Leben hinwegtäuschen soll. Und der Held der Titelerzählung "Den Musil spreng ich in die Luft" ist keineswegs der Romancier Robert Musil, sondern sein weitaus weniger bekannter Cousin Alois Musil, der sich als Orientreisender und Arabist vor dem Ersten Weltkrieg einen Namen machte und bei Kühn als Gegenfigur zu T. E. Lawrence aufgebaut wird.
Seine Geschichte wird eingebettet in einen brieflichen Plotentwurf für einen nationalsozialistischen Propagandafilm. Damit gewinnt Dieter Kühn zwar eine weitere Reflexionsebene hinzu, läuft aber auch Gefahr, die eigentlich interessante Geschichte aus den Augen zu verlieren. Dieser Vorbehalt trifft alle Erzählungen. Stets wählt Kühn eine Kommunikationsform als Schreibanlass - sei es ein Brief oder ein Rechtfertigungsschreiben wie im Fall des der Kollaboration angeklagten Norbert Verdonck -, die er dann häufig noch durch Herausgeberkommentare unterbricht. So mag sich Multiperspektivität einstellen, der vorwiegende Leseeindruck ist aber eher der der Weitschweifigkeit. Dieses Manko weist selbst der letzte Text "Deportation auf dem Fahrrad" auf, eine im Kern anrührende, empörende Geschichte über den Abtransport einer Jüdin kurz vor Kriegsende. Die umständlich entwickelte Idee, dies in einem Film darzustellen, wirkt nicht nur unplausibel, sondern nimmt der Erzählung auch ihre dokumentarische Wucht.
Dass Kühn gleichwohl glänzend zu fabulieren versteht, blitzt in kleinen Details immer wieder auf. Die Reaktion von Lysers Frau auf dessen Untreue etwa - sie stellt Wasser samt Kerze in den Flur mit der schriftlichen Anweisung, sich zu waschen - ist so originell wie komisch. Als einfühlsamer Biograph ist er ohnehin zigfach bewährt, wie jetzt wieder die beträchtlich erweiterte Neuausgabe seiner Biographie über Oswald von Wolkenstein beweist. Wem es bei all den Fälschungen nicht ganz wohl ist, halte sich vorerst hieran.
THOMAS MEISSNER
Dieter Kühn: "Den Musil spreng ich in die Luft". Gefälschte Geschichten?
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 302 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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