Von Frauen wird Tröstung verlangt. Deborah Nelson nähert sich sechs beeindruckenden Denkerinnen, die sich weigerten, die harte Realität im Meer der Gefühle untergehen zu lassen. Diane Arbus, Hannah Arendt, Joan Didion, Mary McCarthy, Susan Sontag und Simone Weil haben heute den Status von Ikonen. Doch während sie wegen ihres Eigensinns und ihrer Stärke mittlerweile als weibliche Identifikationsfiguren gelten, schlugen ihnen lange Zeit massive Anfeindungen entgegen, die bis zu Vorwürfen charakterlicher Deformation reichten. Angeprangert wurde der kalte und unsentimentale Blick, der ihre Werke prägte – für Frauen damals wie heute ein Skandal. Deborah Nelson spürt in ihren konzentrierten Porträts der Künstlerinnen und Denkerinnen systematisch dem Anstößigen ihres Weltzugangs nach. Jenseits von Leidenseinfühlung und ironischer Coolness bildeten sie eine Ethik ohne Tröstung aus, die auch in unseren Zeiten geforderter Identifikation und abgefragter Identität ihren Stachel behält. Deborah Nelson rekonstruiert eine bislang kaum beachtete Gegenströmung zu den etablierten intellektuellen Reaktionsmustern auf die Verheerungen des 20. Jahrhunderts: eine herausfordernde Kultur-, Gefühls- und Geschlechtergeschichte gegen den Strich, die zeigt, wie begrenzt die emotionalen Spielräume für Frauen waren und sind.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sonja Asal erfährt mit der Studie der Literaturwissenschaftlerin Deborah Nelson, wie Autorinnen der "Kälte" wie Hannah Arendt, Mary McCarthy, Simone Weil oder Susan Sontag sich mit der ihnen angedichteten "Gefühllosigkeit" moralisch und ästhetisch der Wirklichkeit stellten. Nelsons detaillierte Auslegungen von Stil und Inhalten der Texte ihrer Protagonistinnen scheinen Asal erhellend etwa insofern, als sie zeigen, wie Stil und Haltung bei den Autorinnen zusammengehören. Dass Nelson, ausgehend von der Kritik, kein "Gruppenporträt" anstrebt, sondern auf Verbindungen und Resonanzen zwischen den Frauen schaut und im übrigen die ästhetische Variationsbreite der von ihnen angewandten Techniken herausarbeitet, gefällt Asal. Eine Fortsetzung der Studie im Hinblick auf Vorbilder und Bezüge dieser Techniken kann sie sich gut vorstellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2022Wo Gefühle nichts zu suchen haben
Deborah Nelson porträtiert sechs Frauen, deren Texte und Bilder Kritiker zu Vokabeln der Kälte greifen ließen
"Erbarmungslos" ist eine der Vokabeln, die die Kritik für die amerikanische Romanautorin Mary McCarthy übrig hatte. Für die Philosophin Simone Weil reservierten die Rezensenten Adjektive wie "kühl" oder "eisig". Und Susan Sontags Stil schließlich galt manchen als "unpersönlich". Zuschreibungen wie diese vereinen die genannten Autorinnen zusammen mit Hannah Arendt, der Journalistin Joan Didion und der Fotografin Diane Arbus zu einer exquisiten kleinen Gruppe der berühmtesten Intellektuellen und Künstlerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Um sie alle, so formuliert es die in Chicago lehrende Literaturwissenschaftlerin Deborah Nelson, entspannen sich an irgendeinem Punkt ihrer Karriere "Skandale der Unsentimentalität".
So, wie um Arendts Bericht "Eichmann in Jerusalem", der ihr von ihrem jahrzehntelangen Freund Gershom Scholem das Verdikt eintrug, es fehle ihr an "Herzenstakt". Die Arendt'sche Herzlosigkeit hatte allerdings Methode. Denn zur gleichen Zeit, in der das Eichmann-Buch erschien, bereitete Arendt auch die Publikation ihrer Vorlesungen "Über die Revolution" vor. Und darin entwickelte sie eine eigene Theorie der Herzlosigkeit. Denn für Arendt hatten Gefühle in der Öffentlichkeit schlechterdings nichts verloren. Sie behinderten allenfalls die nüchterne Beurteilung der Wirklichkeit, und als Wegweiser für das Handeln taugten sie schon gar nicht. Nelson nennt Arendts Überlegungen daher eine "Philosophie der politischen Herzlosigkeit", die nichts mit Scholems Vorwurf eines charakterlichen Mangels zu tun hatte.
Ähnliches wie für Arendt gilt auch für die anderen Protagonistinnen von Nelsons Studie. Zuschreibungen von Kälte und Gefühllosigkeit klingen, schon gar wenn sie gegenüber Frauen geäußert werden, leicht wie moralische Urteile, wenn sie nicht gleich eine Deformation unterstellen. Insofern ist der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel "Denken ohne Trost", der Assoziationen irgendwo zwischen der Trost spendenden Mutter und dem Trost der Philosophie anklingen lässt, nicht ganz glücklich. Demgegenüber zeigt Nelson auf eindrucksvolle Weise, dass es sich bei den spezifischen Formen der Unsentimentalität in allen Fällen um eine bewusst gewählte Option handelte, sich der Realität zu stellen - moralisch in gleicher Weise wie politisch und ästhetisch.
Belegen kann sie das in erhellenden Detailinterpretationen, bei denen sie nie das Gesamtwerk ihrer Protagonistinnen aus den Augen verliert. Vor allem gilt ihre Aufmerksamkeit nicht nur den Inhalten, sondern genauso dem Stil der Autorinnen. Dieser war es nach ihrer Beobachtung, der die Rezensenten am meisten irritierte und zu den Vokabeln der Kälte greifen ließ. Dafür, wie sehr ästhetische Fragen untrennbar mit politischen verbunden waren, wie sehr Stil mit Haltung, verfügten alle der Genannten über ein geschärftes Bewusstsein. Nachzulesen zum Beispiel in der Passage zu Joan Didions Porträt von Joan Baez, die ihr als "Paradebeispiel" für den "überschwänglichen, aber intellektuell leeren Radikalismus der 1960er-Jahre" galt.
Indem Nelson von der Reaktion der Kritik ausgeht, entgeht sie auf elegante Weise dem Zwang zur Systematisierung. Die Analyse folgt ihren Figuren in sechs chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln und beansprucht nicht, so etwas wie ein Gruppenporträt zu zeichnen. Stattdessen entstehen, jenseits persönlicher Beziehungen wie der engen Freundschaft zwischen Arendt und McCarthy, immer wieder direkte Verbindungen oder entfernte Resonanzen. So lässt sich der Weg von Simone Weils 1940 verfasstem Aufsatz über "Die Ilias oder das Poem der Gewalt" über die Übersetzung von Mary McCarthy, die 1945 in der Zeitschrift "Politics" erschien und eine tief greifende Weil-Rezeption im Umkreis der New York Intellectuals auslöste, bis hin zu Susan Sontags Rezension in der "New York Review of Books" knapp zwei Jahrzehnte später verfolgen.
Variationsreich sind die Techniken, mit denen die Autorinnen ihre persönlichen Erfahrungen modulieren. In Arendts konkreter und rhetorisch minimalistischer Ästhetik, findet Nelson, werde die eigene Person in den Hintergrund verwiesen, während Sontag oder Didion ihre eigenen Erfahrungen in ihr Schreiben aufnehmen - allerdings nur, um sie in der Distanzierung davon umso genauer analysieren zu können. Vor wenigen Jahren war etwa Sontags Biograph Benjamin Moser darüber verwundert, dass Sontag in "Krankheit als Metapher" in aller Ausführlichkeit über Krebs schrieb, ihre eigene Erkrankung aber mit keinem einzigen Wort erwähnte. Bei Nelson wird deutlich, welcher Logik dieses Vorgehen gehorcht: Nur wer die Bedeutung von Gefühlen heillos überbewertet, so Sontags Einsicht, wird zu der These kommen, dass nicht artikulierte Emotionen Krebs auslösen können.
Konsequenterweise liest Nelson Sontags Essay als eine "Pathografie", die in der modernen Überbewertung der Gefühle das eigentlich Krankhafte verortet. Den umgekehrten Weg wählte Didion, die in ihrem Essay "Das weiße Album" ihre psychische Verfassung in die Darstellung mit einfließen ließ, um sie desto besser sezieren und als Moment einer gesellschaftlichen Atmosphäre benennen zu können. Wie Nelson anmerkt, war es dieser "ironische Skeptizismus", der Didion, die überzeugte Vertreterin des New Journalism, zu einer Ausnahmeerscheinung ihrer Zunft werden ließ.
Nelson skizziert historische Bezüge knapp und verzichtet weitgehend darauf, mögliche ästhetische Vorbilder zu benennen. An einer Stelle erwähnt sie Arendts Vorliebe für die "modernistische Tradition" und weist pauschal darauf hin, dass "das Selbstbild der Moderne als einer zusehends schmerzbefreiten Welt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in sich zusammenbrach". Hier möchte man sich eine Fortsetzung der Studie wünschen, die konkretere Bezüge auf die Konjunktur der Kälte-Metaphorik bei den Avantgarden in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausformuliert. Dann würde vielleicht noch deutlicher, mit welcher Eindringlichkeit es den porträtierten Frauen nicht nur darum ging, ihrer Gegenwart standzuhalten, sondern vielmehr darum, die Optionen für Mitgefühl und Engagement nicht preiszugeben. SONJA ASAL
Deborah Nelson: "Denken ohne Trost". Arbus, Arendt, Didion, McCarthy, Sontag, Weil.
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 240 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deborah Nelson porträtiert sechs Frauen, deren Texte und Bilder Kritiker zu Vokabeln der Kälte greifen ließen
"Erbarmungslos" ist eine der Vokabeln, die die Kritik für die amerikanische Romanautorin Mary McCarthy übrig hatte. Für die Philosophin Simone Weil reservierten die Rezensenten Adjektive wie "kühl" oder "eisig". Und Susan Sontags Stil schließlich galt manchen als "unpersönlich". Zuschreibungen wie diese vereinen die genannten Autorinnen zusammen mit Hannah Arendt, der Journalistin Joan Didion und der Fotografin Diane Arbus zu einer exquisiten kleinen Gruppe der berühmtesten Intellektuellen und Künstlerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Um sie alle, so formuliert es die in Chicago lehrende Literaturwissenschaftlerin Deborah Nelson, entspannen sich an irgendeinem Punkt ihrer Karriere "Skandale der Unsentimentalität".
So, wie um Arendts Bericht "Eichmann in Jerusalem", der ihr von ihrem jahrzehntelangen Freund Gershom Scholem das Verdikt eintrug, es fehle ihr an "Herzenstakt". Die Arendt'sche Herzlosigkeit hatte allerdings Methode. Denn zur gleichen Zeit, in der das Eichmann-Buch erschien, bereitete Arendt auch die Publikation ihrer Vorlesungen "Über die Revolution" vor. Und darin entwickelte sie eine eigene Theorie der Herzlosigkeit. Denn für Arendt hatten Gefühle in der Öffentlichkeit schlechterdings nichts verloren. Sie behinderten allenfalls die nüchterne Beurteilung der Wirklichkeit, und als Wegweiser für das Handeln taugten sie schon gar nicht. Nelson nennt Arendts Überlegungen daher eine "Philosophie der politischen Herzlosigkeit", die nichts mit Scholems Vorwurf eines charakterlichen Mangels zu tun hatte.
Ähnliches wie für Arendt gilt auch für die anderen Protagonistinnen von Nelsons Studie. Zuschreibungen von Kälte und Gefühllosigkeit klingen, schon gar wenn sie gegenüber Frauen geäußert werden, leicht wie moralische Urteile, wenn sie nicht gleich eine Deformation unterstellen. Insofern ist der für die deutsche Ausgabe gewählte Titel "Denken ohne Trost", der Assoziationen irgendwo zwischen der Trost spendenden Mutter und dem Trost der Philosophie anklingen lässt, nicht ganz glücklich. Demgegenüber zeigt Nelson auf eindrucksvolle Weise, dass es sich bei den spezifischen Formen der Unsentimentalität in allen Fällen um eine bewusst gewählte Option handelte, sich der Realität zu stellen - moralisch in gleicher Weise wie politisch und ästhetisch.
Belegen kann sie das in erhellenden Detailinterpretationen, bei denen sie nie das Gesamtwerk ihrer Protagonistinnen aus den Augen verliert. Vor allem gilt ihre Aufmerksamkeit nicht nur den Inhalten, sondern genauso dem Stil der Autorinnen. Dieser war es nach ihrer Beobachtung, der die Rezensenten am meisten irritierte und zu den Vokabeln der Kälte greifen ließ. Dafür, wie sehr ästhetische Fragen untrennbar mit politischen verbunden waren, wie sehr Stil mit Haltung, verfügten alle der Genannten über ein geschärftes Bewusstsein. Nachzulesen zum Beispiel in der Passage zu Joan Didions Porträt von Joan Baez, die ihr als "Paradebeispiel" für den "überschwänglichen, aber intellektuell leeren Radikalismus der 1960er-Jahre" galt.
Indem Nelson von der Reaktion der Kritik ausgeht, entgeht sie auf elegante Weise dem Zwang zur Systematisierung. Die Analyse folgt ihren Figuren in sechs chronologisch aufeinander folgenden Kapiteln und beansprucht nicht, so etwas wie ein Gruppenporträt zu zeichnen. Stattdessen entstehen, jenseits persönlicher Beziehungen wie der engen Freundschaft zwischen Arendt und McCarthy, immer wieder direkte Verbindungen oder entfernte Resonanzen. So lässt sich der Weg von Simone Weils 1940 verfasstem Aufsatz über "Die Ilias oder das Poem der Gewalt" über die Übersetzung von Mary McCarthy, die 1945 in der Zeitschrift "Politics" erschien und eine tief greifende Weil-Rezeption im Umkreis der New York Intellectuals auslöste, bis hin zu Susan Sontags Rezension in der "New York Review of Books" knapp zwei Jahrzehnte später verfolgen.
Variationsreich sind die Techniken, mit denen die Autorinnen ihre persönlichen Erfahrungen modulieren. In Arendts konkreter und rhetorisch minimalistischer Ästhetik, findet Nelson, werde die eigene Person in den Hintergrund verwiesen, während Sontag oder Didion ihre eigenen Erfahrungen in ihr Schreiben aufnehmen - allerdings nur, um sie in der Distanzierung davon umso genauer analysieren zu können. Vor wenigen Jahren war etwa Sontags Biograph Benjamin Moser darüber verwundert, dass Sontag in "Krankheit als Metapher" in aller Ausführlichkeit über Krebs schrieb, ihre eigene Erkrankung aber mit keinem einzigen Wort erwähnte. Bei Nelson wird deutlich, welcher Logik dieses Vorgehen gehorcht: Nur wer die Bedeutung von Gefühlen heillos überbewertet, so Sontags Einsicht, wird zu der These kommen, dass nicht artikulierte Emotionen Krebs auslösen können.
Konsequenterweise liest Nelson Sontags Essay als eine "Pathografie", die in der modernen Überbewertung der Gefühle das eigentlich Krankhafte verortet. Den umgekehrten Weg wählte Didion, die in ihrem Essay "Das weiße Album" ihre psychische Verfassung in die Darstellung mit einfließen ließ, um sie desto besser sezieren und als Moment einer gesellschaftlichen Atmosphäre benennen zu können. Wie Nelson anmerkt, war es dieser "ironische Skeptizismus", der Didion, die überzeugte Vertreterin des New Journalism, zu einer Ausnahmeerscheinung ihrer Zunft werden ließ.
Nelson skizziert historische Bezüge knapp und verzichtet weitgehend darauf, mögliche ästhetische Vorbilder zu benennen. An einer Stelle erwähnt sie Arendts Vorliebe für die "modernistische Tradition" und weist pauschal darauf hin, dass "das Selbstbild der Moderne als einer zusehends schmerzbefreiten Welt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in sich zusammenbrach". Hier möchte man sich eine Fortsetzung der Studie wünschen, die konkretere Bezüge auf die Konjunktur der Kälte-Metaphorik bei den Avantgarden in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ausformuliert. Dann würde vielleicht noch deutlicher, mit welcher Eindringlichkeit es den porträtierten Frauen nicht nur darum ging, ihrer Gegenwart standzuhalten, sondern vielmehr darum, die Optionen für Mitgefühl und Engagement nicht preiszugeben. SONJA ASAL
Deborah Nelson: "Denken ohne Trost". Arbus, Arendt, Didion, McCarthy, Sontag, Weil.
Aus dem Englischen von Birthe Mühlhoff. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2022. 240 S., br., 22,- Euro.
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