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Frieder Günther untersucht die bundesdeutsche Staatsrechtslehre
Es ist mythologisch nicht ganz korrekt, aber doch ein sprechendes Bild: Chronos verschlingt seine Kinder. Der forteilenden Zeit folgt die Historisierung auf dem Fuß. Früher oder später wird alles Geschichte. Seit Jahrzehnten schon ist die frühe Bundesrepublik Gegenstand umfassender historischer Studien geworden. Die Geschichte der Rechtswissenschaft hinkt etwas hinterher; sie war lange mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, und sie ist es noch. Nun erwacht aber über dessen subkutanes Fortwirken nach 1945 das Interesse an der Wissenschaftsgeschichte der frühen bundesrepublikanischen Jahre. Die Fragen werden drängender, zumal in der Nachwirkung der Wiedervereinigung und im Kontext der Erosion des klassischen Nationalstaats: Welches Bild vom "Staat" ist uns - verpackt in dogmatische Figuren und Metaphern - aus dem neunzehnten Jahrhundert überliefert worden, welche Bedeutung hat der in den zwanziger Jahren heiß diskutierte Methodenstreit, und was haben die Staatsrechtslehrer zur Zeit des "Wirtschaftswunders" daraus gemacht?
Frieder Günther, Historiker aus der Tübinger Schule von Anselm Doering-Manteuffel, hat hierzu ein aufregendes und anregendes Buch geschrieben. Er hat sich in den staatsrechtlichen Stoff eingelesen, hat Akten und Briefwechsel befragt und auf diese Weise ein kommunikatives Netzwerk mit zwei Schwerpunkten rekonstruiert. Es sind dies der öffentlich in Göttingen wirkende Rudolf Smend (1882 bis 1975) und der von Plettenberg aus im Hintergrund präsente Carl Schmitt (1888 bis 1985). Um Smend bildete sich ein berühmt gewordenes Seminar mit Peter von Oertzen, Horst Ehmke, Wilhelm Hennis, Konrad Hesse und anderen. Dort sah man Staat und Gesellschaft eher als dialektisch aufeinander bezogene und sich durchdringende Größen, rückte die Verfassung ins Zentrum und öffnete sich anglo-amerikanischen Einflüssen. Der Gesamtduktus war eher prozedural und integrativ. Schmitt wirkte aus seinem "Exil" Plettenberg gleichermaßen auf einen großen Schüler- und Sympathisantenkreis, dem etwa Werner Weber, Ernst Forsthoff sowie die Jüngeren Joseph H. Kaiser, Roman Schnur, Helmut Quaritsch und Ernst-Wolfgang Böckenförde angehörten, ganz abgesehen von den ausländischen "Schmittianern" (siehe dazu auch Jan-Werner Müller, "A Dangerous Mind. Carl Schmitt in Post-War European Thought", Yale University Press 2003). Dort zog man die Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft schärfer, kritisierte Pluralismus, Verbandswesen und Parteienstaat, um den Staat als neutrale, der Gesellschaft übergeordnete und entscheidungsfähige Macht zu erhalten. Weniger Integration als vielmehr Grenzziehung und Dezision waren angesagt. In den Zeitschriften "Archiv des öffentlichen Rechts" und, seit 1962, "Der Staat" stellte sich die Spannung zwischen Lagern exemplarisch dar.
Natürlich weiß Frieder Günther, daß das facettenreiche Bild von zwei Jahrzehnten Wissenschaftsgeschichte nicht ohne Rest auf die beiden "Lager" reduziert werden kann. Viele ganz unabhängige Personen und Werke lassen sich nicht so einordnen, aber er sieht richtig, wie sich unter demokratischen Prämissen ein neues Muster durchsetzte, das die Frontlinien der Weimarer Auseinandersetzungen nur noch verwischt erkennen ließ. Stand damals die Opposition gegen den traditionellen staatsrechtlichen Positivismus im Vordergrund, ging es nun um die Selbstfindung eines 1949 geschaffenen Teilstaates, der sich als das Ganze verstand, es ging um die großen Streitigkeiten der Bundesrepublik (Wiederbewaffnung, Reichskonkordat, KPD-Verbot, Fernseh-GmbH, Notstand), um die theoretische Einarbeitung des Verbandswesens und der Parteien sowie um eine neue Positionierung der Kirchen. Gerade das Staatskirchenrecht, das bei Günther nur gestreift wird, könnte ein Testfall für die unterschiedlichen Denkstile sein, etwa die katholische, schärfer konturierte Linie von Paul Mikat und Ernst Friesenhahn über Böckenförde und Isensee, daneben die evangelische, weicher gezeichnete von Rudolf Smend und Konrad Hesse, Ulrich Scheuner und Axel von Campenhausen. Aber auch hier gehen bei näherem Zusehen die Linien ineinander über, etwa bei wichtigen Autoren wie Martin Heckel einerseits, Alexander Hollerbach andererseits.
Die fesselnde und durch viele Briefzitate manchmal schmerzliche Deutlichkeit gewinnende Darstellung hört leider um 1970 auf. Man wüßte gerne, wie das Fach auf die immer noch als Phantomschmerz spürbare Zäsur von 1968 reagierte und wie sich nun die Neuorientierung der letzten dreißig Jahre bündeln läßt. Auch das parallel sich ausdifferenzierende Verwaltungsrecht mit seinen nur ähnlichen, aber nicht identischen Verlaufskurven wäre historisch sehr ergiebig, wie Günther in knappen Seitenkapiteln zeigt. Schließlich: Wie werden seit einer Generation Europäisierung und Globalisierung verarbeitet? Aber man darf fairerweise von einem Buch nicht mehr verlangen, als sein Autor sich selbst vorgenommen hat. Vielleicht weil Frieder Günther nicht selbst Staatsrechtslehrer ist, konnte er seinen Gegenstand unbefangen und deutlich wahrnehmen und dessen Vielfalt auf ein lesbares Maß reduzieren. Außerdem ist er jung genug, die meisten der hier besprochenen Akteure schon geschichtlich zu sehen. Sein Buch hat eine wertvolle Grundlage für die voranschreitende Historisierung gelegt, eine Historisierung, die nicht etwa "Entsorgung" bedeutet, sondern unvoreingenommene Analyse und damit auch Aneignung.
MICHAEL STOLLEIS
Frieder Günther: "Denken vom Staat her". Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970. R. Oldenbourg Verlag, München 2004. 364 S., geb., 69,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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