Das literarische und essayistische Œuvre des Schriftstellers, Intellektuellen und Diplomaten Jiří Gruša (1938-2011) lässt sich dezidiert als ein Werk von europäischem Format beschreiben. Dies gilt in einem doppelten Sinn: im Hinblick auf seine ästhetische Qualität wie auch hinsichtlich seiner zukunftsweisenden transnationalen Diktion und Dimension. Das Werk des 1938 in Pardubice geborenen, 1981 ausgebürgerten und 2011 in Deutschland verstorbenen Autors umfasst ein heterogenes Werk, das in zwei Sprachen - Deutsch und Tschechisch - verfasst ist und das mehrere Kontexte aufweist: einen tschechischen, einen deutschen, einen österreichischen und einen europäischen. Die kritische Sichtung vieler unpublizierter Texte sowie die lektorierte Neuausgabe seiner Romane und seiner Lyrik bilden das Zentrum der Klagenfurter Werkausgabe, die Sabine Gruša zusammen mit einer Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Tschechien, Österreich und Deutschland unter Leitung von Hans Dieter Zimmermann und Dalibor Dobiaš initiiert hat. Dabei geht es nicht nur um die unbestreitbare Tatsache, dass seine Romane, Gedichte, Vorträge und Aufsätze Teil eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses vor und nach der Wende von 1989 sind, und auch nicht nur um die Sicherung eines hervorragenden literarischen Werkes, sondern um die maßgeblichen Impulse, die von Grušas wegweisendem transnationalen und nationalitätskritischen Denken ausgehen und die mit einem bestimmten Habitus verbunden verbunden sind, den man als "europäisch" bezeichnen kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit viel Lob bespricht Rezensent Hans-Peter Riese die beiden ersten Bände der Werkausgabe Jiri Grusas, die von dem Bohemisten Hans Dieter Zimmermann und dem Literaturwissenschaftler Dalibor Dobias herausgegeben wurden. Als wissenschaftlich exzellent und literarisch bedeutsam würdigt der Kritiker die Werke und widmet sich gebannt zunächst der Lektüre von Grusas Roman "Der 16. Fragebogen", der von der in kommunistischen Systemen üblichen Fragebogen-Methode erzählt: Grusa lässt seinen Protagonisten die im Bogen gestellten existentiellen Fragen hintersinnig und ironisch beantworten, informiert der Kritiker, der in der Hauptfigur das Porträt einer ganzen Generation erkennt. In diesem Buch, das Grusa ins Gefängnis und in die Emigration brachte, lernt der Rezensent insbesondere die intellektuelle Seite des tschechischen Autors kennen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH