Sixten Brauns vollkommen normales Managerleben implodiert, als in Taiwan ein Wal explodiert, und Sixten von irgendeinem Teil des Wal-Innenlebens k.o. geschlagen wird. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, stürzt er mit dem nächstbesten Flugzeug ab - und überlebt abermals. Aber nicht ohne zwischendurch die große Liebe erlebt zu haben. Und so kommt er Jahre später - Sixten hat sich längst vom Manager zum Bademeister gewandelt - zu einem Kind, das auf gar keinen Fall sein eigenes sein kann, es dann aber doch plötzlich ist ... Ein frisch verwaister Junge namens Simon. Ein Junge, der nicht spricht, außer in seiner eigenen, nur ihm selbst verständlichen Sprache. Ein Junge, der sich dann als ganz ungewöhnlich talentiert in ganz ungewöhnlichen Bereichen erweist: Er kann klettern wie eine Gemse und zeichnen wie Leonardo da Vinci. Auch liegt es an Simon, dass sich so manche Gerade in Sixtens Leben zum Kreis schließt ...
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»Neben aller schelmenhaften Komik erweist sich Heinrich Steinfest als sehr scharfsinnig in seiner Art die Welt zu erzählen - denn das tut er, auf eine an Murakami erinnernde Weise. Ein herausragendes Buch, in dem man sich so wohl fühlt, dass man sich fast wünscht, es möge niemals enden.« L'Indépendant (FR) 20150511
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2014Wale platzen in der Stadt
Selja Ahava und Heinrich Steinfest feiern das Leben
Die Wahrscheinlichkeit, in der Stadt einem Wal zu begegnen, ist fern norwegischer Kühltheken nicht sonderlich groß. Strenggenommen ist sie sogar kleiner als die Wahrscheinlichkeit, in wenigen Wochen auf zwei Bücher zu stoßen, in deren Schlüsselszenen ein Wal in die Stadt kommt. Beide erinnern zudem in arbeitsseligen Zeiten an das Glück, sich mit Kindern umgeben zu dürfen. Im Zentrum von Selja Ahavas originellem, aber etwas arg mädchenhaft-poetisch erzähltem Roman steht die verwirrte Anna. Sie lebt in einem Heim "voller alter Frauen", "aus deren Geschichten keiner schlau" wird, und begegnet ihrem Schöpfer, einem Gott auf Strümpfen und mit Kippen im Umhang.
Anna geht mehr durch den Kopf, als sie in den Listen ihres Notizbuchs zu sortieren vermag: die Vierzigjährige, die tot im Schnee lag, doch wie eine in Embyrohaltung Schlafende schien; die Insel mit der Erle, die nach Jahrzehnten plötzlich einzuknicken beschloss; das Leben mit dem Dokumentarfilmer Antti, der sich (wie Eva Hornung in "Dog Boy") für einen russischen Hundejungen interessierte und früh starb. "So viele Menschen, die gar keine Kinder wollen und doch welche bekommen", sagte sie einmal zu ihm, "wieso kriegen wir nicht wenigstens eines?" Anttis Antwort: "Tja." Und da saß Anna dann, "auf einer Veranda im August, die neununddreißigjährige Anna, jeden Abend einen Tag älter".
Das ist der entscheidende Part einer Erzählung, die so fragmentiert daherkommt wie Annas Gedächtnis und immer trauriger wird, ohne dabei schwermütig zu werden. Je weiter die 45 kleinen, mit spitzem Bleistift gezeichneten Kapitel fortschreiten, umso erschrockener merken wir: Annas Gehirn zerfraß der Gedanke an die Kinder, die sie niemals bekam. Die sechs Knirpse, die im Schrank leben und mit Anna durch London ziehen, gibt es allein in ihrem Kopf. Selja Ahavas Roman ist damit nicht nur Protokoll einer fortschreitenden Demenz, bei der die Leere wie zum Trost von phantastischen Einfällen geflutet wird, nicht bloß Liebesgeschichte: "Am schwersten war die Art, wie Antti in Anna starb." Er lässt sich als alarmgelbes Post-it für die Debatte um die modernen Lebensentwürfe verstehen. Erklärt sich doch Anna zur Seelenverwandten des Wals, der aus unerklärlichen Gründen vom natürlichen Weg abkam und in die Themse geriet, ohne dass ihm wieder jemand zurück ins Meer helfen könnte.
Den Wal in London gab es dabei wirklich. Das gilt auch für den Speckriesen, der im Januar 2004 an der Küste Taiwans verendete, auf einen Laster geladen wurde und unappetitlich in der Stadt explodierte. Dem Jungmanager Sixten Braun, dem das Walgedärm ins Gesicht klatscht, verhilft das Blutbad in Heinrich Steinfests Roman "Der Allesforscher" zu erinnerungswürdigem Sex mit einer Ärztin aus Deutschland. Was wiederum einen Flugzeugabsturz, eine leidenschaftslose Ehe in Köln und einen Jobwechsel später (die "zum Businessman verwandelte Lackdose" wird Bademeister, weil Sixten mit Menschen statt Gespenstern arbeiten will) dazu führt, dass Sixten ein kleiner Kerl vorgestellt wird. Er ist sieben und spricht eine Sprache, die kein Dolmetscher der Welt zu verstehen vermag.
Simon ist nicht Sixtens Sohn; die Augenform deutet eher auf einen Asiaten als Vater. Aber er bewegt Sixten, wie er so dasteht und dreinschaut, und eine Erinnerung an Simons Mutter, die Hirnforscherin, eine Art Aufforderung zum Liebesbeweis in Abwesenheit, ist das Rätselkind auch. Also wird der Gedanke, Kinder könnten einen "in die Klapsmühle befördern", beiseitegeschoben und das Kind adoptiert. Und Simon bedankt sich, indem er Sixten bereichert: "Sein Lächeln war eine kleine, feine Schlagzeile, etwas wie: Sparzinsen steigen wieder."
Heinrich Steinfest, geschätzt als Autor abgedrehter Krimigrotesken, erzählt hier eine befreiende Geschichte, in der ein Mann das Leben zu umarmen lernt und sich alles fügt wie nach einem göttlichen Plan - derart turboplaudernd, übersprudelnd und liebevoll, dass man sie gar nicht aus der Hand legen mag. In der Sprache mag es hier und da Unwuchten geben, weil Steinfest recht mündlich erzählt. Aber auch das gehört zum unangreifbaren Reiz eines Buches, das den Flachwitz nicht scheut und doch entwaffnend klug und wach ist und einfach losfegt. Bis wir eine Familiengeschichte kennen, in der neben dem autistischen "Allesforscher" Simon auch KAI-G7@ ihren Platz hat, eine Gesichtscreme, die kinderlose Frauen plötzlich Kinder kriegen lässt. Sie ist überflüssig, wo es lichte Bücher über das Geschenk des Lebens gibt wie dieses.
MATTHIAS HANNEMANN
Heinrich Steinfest: "Der Allesforscher". Roman. Piper Verlag, München 2014. 398 S., geb., 19,99 [Euro].
Selja Ahava: "Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm". Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mareverlag, Hamburg 2014. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Selja Ahava und Heinrich Steinfest feiern das Leben
Die Wahrscheinlichkeit, in der Stadt einem Wal zu begegnen, ist fern norwegischer Kühltheken nicht sonderlich groß. Strenggenommen ist sie sogar kleiner als die Wahrscheinlichkeit, in wenigen Wochen auf zwei Bücher zu stoßen, in deren Schlüsselszenen ein Wal in die Stadt kommt. Beide erinnern zudem in arbeitsseligen Zeiten an das Glück, sich mit Kindern umgeben zu dürfen. Im Zentrum von Selja Ahavas originellem, aber etwas arg mädchenhaft-poetisch erzähltem Roman steht die verwirrte Anna. Sie lebt in einem Heim "voller alter Frauen", "aus deren Geschichten keiner schlau" wird, und begegnet ihrem Schöpfer, einem Gott auf Strümpfen und mit Kippen im Umhang.
Anna geht mehr durch den Kopf, als sie in den Listen ihres Notizbuchs zu sortieren vermag: die Vierzigjährige, die tot im Schnee lag, doch wie eine in Embyrohaltung Schlafende schien; die Insel mit der Erle, die nach Jahrzehnten plötzlich einzuknicken beschloss; das Leben mit dem Dokumentarfilmer Antti, der sich (wie Eva Hornung in "Dog Boy") für einen russischen Hundejungen interessierte und früh starb. "So viele Menschen, die gar keine Kinder wollen und doch welche bekommen", sagte sie einmal zu ihm, "wieso kriegen wir nicht wenigstens eines?" Anttis Antwort: "Tja." Und da saß Anna dann, "auf einer Veranda im August, die neununddreißigjährige Anna, jeden Abend einen Tag älter".
Das ist der entscheidende Part einer Erzählung, die so fragmentiert daherkommt wie Annas Gedächtnis und immer trauriger wird, ohne dabei schwermütig zu werden. Je weiter die 45 kleinen, mit spitzem Bleistift gezeichneten Kapitel fortschreiten, umso erschrockener merken wir: Annas Gehirn zerfraß der Gedanke an die Kinder, die sie niemals bekam. Die sechs Knirpse, die im Schrank leben und mit Anna durch London ziehen, gibt es allein in ihrem Kopf. Selja Ahavas Roman ist damit nicht nur Protokoll einer fortschreitenden Demenz, bei der die Leere wie zum Trost von phantastischen Einfällen geflutet wird, nicht bloß Liebesgeschichte: "Am schwersten war die Art, wie Antti in Anna starb." Er lässt sich als alarmgelbes Post-it für die Debatte um die modernen Lebensentwürfe verstehen. Erklärt sich doch Anna zur Seelenverwandten des Wals, der aus unerklärlichen Gründen vom natürlichen Weg abkam und in die Themse geriet, ohne dass ihm wieder jemand zurück ins Meer helfen könnte.
Den Wal in London gab es dabei wirklich. Das gilt auch für den Speckriesen, der im Januar 2004 an der Küste Taiwans verendete, auf einen Laster geladen wurde und unappetitlich in der Stadt explodierte. Dem Jungmanager Sixten Braun, dem das Walgedärm ins Gesicht klatscht, verhilft das Blutbad in Heinrich Steinfests Roman "Der Allesforscher" zu erinnerungswürdigem Sex mit einer Ärztin aus Deutschland. Was wiederum einen Flugzeugabsturz, eine leidenschaftslose Ehe in Köln und einen Jobwechsel später (die "zum Businessman verwandelte Lackdose" wird Bademeister, weil Sixten mit Menschen statt Gespenstern arbeiten will) dazu führt, dass Sixten ein kleiner Kerl vorgestellt wird. Er ist sieben und spricht eine Sprache, die kein Dolmetscher der Welt zu verstehen vermag.
Simon ist nicht Sixtens Sohn; die Augenform deutet eher auf einen Asiaten als Vater. Aber er bewegt Sixten, wie er so dasteht und dreinschaut, und eine Erinnerung an Simons Mutter, die Hirnforscherin, eine Art Aufforderung zum Liebesbeweis in Abwesenheit, ist das Rätselkind auch. Also wird der Gedanke, Kinder könnten einen "in die Klapsmühle befördern", beiseitegeschoben und das Kind adoptiert. Und Simon bedankt sich, indem er Sixten bereichert: "Sein Lächeln war eine kleine, feine Schlagzeile, etwas wie: Sparzinsen steigen wieder."
Heinrich Steinfest, geschätzt als Autor abgedrehter Krimigrotesken, erzählt hier eine befreiende Geschichte, in der ein Mann das Leben zu umarmen lernt und sich alles fügt wie nach einem göttlichen Plan - derart turboplaudernd, übersprudelnd und liebevoll, dass man sie gar nicht aus der Hand legen mag. In der Sprache mag es hier und da Unwuchten geben, weil Steinfest recht mündlich erzählt. Aber auch das gehört zum unangreifbaren Reiz eines Buches, das den Flachwitz nicht scheut und doch entwaffnend klug und wach ist und einfach losfegt. Bis wir eine Familiengeschichte kennen, in der neben dem autistischen "Allesforscher" Simon auch KAI-G7@ ihren Platz hat, eine Gesichtscreme, die kinderlose Frauen plötzlich Kinder kriegen lässt. Sie ist überflüssig, wo es lichte Bücher über das Geschenk des Lebens gibt wie dieses.
MATTHIAS HANNEMANN
Heinrich Steinfest: "Der Allesforscher". Roman. Piper Verlag, München 2014. 398 S., geb., 19,99 [Euro].
Selja Ahava: "Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm". Roman. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Mareverlag, Hamburg 2014. 224 S., geb., 20,- [Euro].
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