Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern eine Gesellschaftsform. Als solche ist er darauf angewiesen, sich auch nichtökonomische Ressourcen einzuverleiben und so langfristig seine eigenen Grundlagen zu zerstören. Wie der Ouroboros, die Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist, verschlingt er natürliche Rohstoffe und unbezahlte Betreuungsarbeit. Er enteignet rassifizierte Gruppen und unterminiert die Macht demokratischer Institutionen, auf deren Funktionieren er eigentlich angewiesen ist. Damit erweist er sich als Motor hinter den diversen Krisenphänomenen, mit denen wir heute konfrontiert sind.
In ihrem lang erwarteten neuen Buch zeichnet Nancy Fraser die historische Entwicklung des kapitalistischen Allesfressers über mehrere Epochen hinweg nach. Indem sie den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Krisen analysiert, zeigt sie zugleich auf, wie ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klimawandel, Rassismus, Pflegekrise und demokratische Regression als Symptome desselben Problems zu begreifen weist den Weg zu neuen und starken gegenhegemonialen Allianzen.
In ihrem lang erwarteten neuen Buch zeichnet Nancy Fraser die historische Entwicklung des kapitalistischen Allesfressers über mehrere Epochen hinweg nach. Indem sie den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Krisen analysiert, zeigt sie zugleich auf, wie ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert aussehen könnte. Klimawandel, Rassismus, Pflegekrise und demokratische Regression als Symptome desselben Problems zu begreifen weist den Weg zu neuen und starken gegenhegemonialen Allianzen.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, F, L, I ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Historiker Werner Plumpe hält Nancy Frasers Sicht auf den "Kannibalen-Kapitalismus" für unterkomplex. Dass sich der Kapitalismus sozusagen selbst verzehrt, indem er sich seiner natürlichen und sozialen Grundlagen beraubt, so Frasers These, hält Plumpe zwar für ein nettes Bild, aber für kein realistisches oder logisches. Fraser geht es allerdings auch nicht um Realismus oder den eigentlichen Kern des Kapitalismus, meint Plumpe zu erkennen. Stattdessen möchte die Autorin "irgendwie" die Märkte begrenzen und einen Sozialismus installieren, dessen praktische Seiten sie lieber nicht erörtert, so der Rezensent kritisch. Der Kapitalismus ist nicht für alles verantwortlich, findet Plumpe.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.03.2023Überschüsse gibt es halt einfach
Statt Realismus: Nancy Fraser beschwört den Kapitalismus als selbstzerstörerisches Monster
Mit dem Kapitalismus ist das so eine vertrackte Sache: Geht man heute durch deutsche Bahnhofsbuchhandlungen, so wird man im Rahmen eines mehr oder weniger blühenden kapitalistischen Buchmarktes ein derzeit besonders üppig gedeihendes Gewächs finden, das auf Käuferzuspruch hofft: die Untergangsprognose. Nicht, dass diese Untergangsprognosen neu wären. Sie finden sich seit der Entstehung des Kapitalismus in der nordwesteuropäischen Welt des siebzehnten Jahrhunderts in schöner Regelmäßigkeit und aus einer Vielzahl von Richtungen. War es im siebzehnten Jahrhundert etwa die calvinistische Geistlichkeit, die im Luxus der prosperierenden niederländischen Städte ein untrügliches Vorzeichen göttlichen Zorns sah, so kam später die Kritik am Ramsch, an der sozialen Entwurzelung, an der Zerstörung der herkömmlichen Verbindlichkeiten hinzu, bis Ludwig Klages schließlich im Kapitalismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den ultimativen Zerstörer unserer natürlichen Lebensgrundlagen geißelte.
Die mit dem Namen Karl Marx verbundenen Untergangsprognosen, die seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts en vogue wurden, wichen von diesen Apokalypsen nicht nur deshalb ab, weil sie die Zerstörungen, die der Kapitalismus vermeintlich auslöste, im Grunde begrüßten - man denke nur an den geradezu triumphalen Ton der Fortschrittsbeschreibungen im "Kommunistischen Manifest". Sie sahen im Kapitalismus trotz seiner inneren Widersprüche, an denen er letztlich zugrunde gehen musste, immerhin einen notwendigen Schritt der Weltgeschichte.
Die Zerstörung war schon in Ordnung, sie war nur nicht das letzte Wort, das idealerweise die Arbeiterschaft sprechen würde, wenn sie nicht auf das ohnehin bevorstehende Ende des Kapitalismus wartete, sondern es durch die sozialistische Revolution aktiv herbeiführte und die Menschheit endlich befreite. All diese Prognosen sind nicht eingetroffen. Trotz aller Krisen hat die kapitalistische Ordnung bis heute überlebt. Doch jetzt, so der Tenor der gegenwärtigen Untergangsprophezeiungen, wird alles anders.
Nancy Frasers aktuelle Prophezeiung kann den im Kern positiven Ton der marxschen Kapitalismuskonzeption angesichts der Krisen unserer Zeit nicht mehr teilen. War für Marx der Kapitalismus ein widersprüchlicher, ungerechter, aber notwendiger Durchgangsschritt in eine bessere Welt, ist Nancy Fraser ganz der negativen Dialektik der älteren Frankfurter Schule verpflichtet, die den naiven Glauben an den "Fortschritt der Produktivkräfte" ad acta gelegt hatte. Die Moderne konnte eben auch in die Barbarei führen, der sogenannte technische Fortschritt beförderte das womöglich.
Phantastische Handlungsmacht
Die marxsche Kapitalismuskritik, die insbesondere auf die unterstellte Widersprüchlichkeit der Warenproduktion, den sozialen Skandal der Ausbeutung und auf die sinkende Profitabilität des Akkumulationsregimes gesetzt hatte, sieht Fraser daher als zwar richtig, aber unzureichend an, denn sie würde alle Voraussetzungen, derer der Kapitalismus für seine Funktionsfähigkeit bedarf und die gerade nicht seiner Form der Warenwirtschaft unterlägen, vernachlässigen. Stattdessen plädiert sie für eine Erweiterung von Marx mit Braudel und Wallerstein in Richtung einer Konzeption, die den Kapitalismus gerade als Parasiten seiner nicht kapitalistischen, also keine Wertform annehmenden Voraussetzungen be-greift; das Konzept der Ausbeutung in der Warenwirtschaft müsse durch den Tatbestand des Raubes erweitert werden, den die Warenwirtschaft an ihrer Umwelt vollzieht, die sie gerade deshalb ausraubt, weil die Umwelt nicht den Regeln der Warenwirtschaft unterliegt.
Kapitalismus ist bei Fraser insofern nicht nur Warenproduktion und Ausbeutung, sondern auch Raub und Plünderung gerade dort, wo keine regulären Geschäfte gemacht werden, sondern die blanke Gewalt herrscht; und die sei ein Wesensmerkmal. So werden alle auf der Welt zu beobachtenden Widersprüche, Probleme, Skandale und offenkundigen Ungerechtigkeiten Folgen und Resultate der kapitalistischen Landnahme, von der Sklaverei über den Rassismus zur Unterdrückung der Frau, von der Aushöhlung der Demokratie und der Zerstörung der Partizipationschancen bis hin zur Covid-Pandemie und ihren Folgen.
Damit wird auch klar, was Nancy Fraser unter kannibalischem Kapitalismus versteht, nämlich eine Form der Warenproduktion, die ihre eigenen natürlichen, sozialen und historischen Voraussetzungen zerstören muss. Es ist ein vampirartiges Gesellschaftssystem, ebenso wie der Vampir stets das frische Blut braucht, das ihm und seinesgleichen gerade fehlt, muss der Kapitalismus stets neben seinen Geschäften rauben. Und das "routinemäßig".
Das Kernargument des Buches, dass der Kapitalismus "regelmäßig die Grundlagen seiner Existenz auffresse", ist zwar nicht logisch: Selbst der Kapitalismus kann sich nicht regelmäßig selbst ruinieren. Aber auf eine realistische Sicht der Dinge kommt es gar nicht an. Es geht vielmehr um eine Art Beschwörung des Kapitalismus als eines zugleich mächtigen und fragilen, autodestruktiven Monsters. Dazu muss "dem" Kapitalismus eine geradezu phantastische Handlungsfähigkeit zugesprochen werden. Das steuernde Zentrum des Kapitalismus/Neoliberalismus, von dem Nancy Fraser offenkundig ausgeht, ohne uns allerdings mit ihm genauer bekannt zu machen, ist bei ihr übermächtig, skrupellos, allwissend, listig, brutal - und dumm.
Warenproduktion bleibt außen vor
Da mag der eine oder andere an Donald Trump denken, doch der hat es seinerzeit nicht einmal geschafft, sich gegen Twitter durchzusetzen, geschweige denn die Welt seinem Willen zu unterwerfen. Bei genauerem Hinsehen verschwindet daher der ach so handlungsfähige Kapitalismus auch sehr schnell. Sich mit den realen Akteuren der kapitalistischen Welt zu befassen und diese differenziert zu beurteilen, darauf verzichtet Nancy Fraser wohlweislich, da es anderenfalls schwergefallen wäre, ihre Vorstellungen aufrechtzuerhalten.
Auch vom eigentlichen Kern des Kapitalismus, der Warenproduktion, ist in dem Buch eigentlich nicht die Rede. Wie sich die Warenproduktion im Kapitalismus, wie sich Preise, Mengen und Einkommen entwickelten, welchen Beitrag der Kapitalismus zum Wachstum der Bevölkerung und deren Versorgung geleistet hat, ob die Tatsache, dass vor dem Kapitalismus weniger als eine, heute hingegen fast acht Milliarden Menschen leben, und davon bemerkenswerterweise ein schrumpfender Teil in Armut, all das interessiert Nancy Fraser nicht, da es nicht in ihre Vorstellung des Schurken passt. Für sie ist materielle Fülle einfach vorhanden, ein "Überschuss", mit dem man nur anders umgehen sollte als bisher. Ob nicht der "Überschuss" davon abhängt, wie wir produzieren und tauschen, ob es nicht also der Kapitalismus ist, der ihn erst möglich macht, ist eine Frage, die ein Blick in die wirtschaftshistorische Literatur leicht hätte beantworten können.
Dieser Blick hätte auch das unzutreffende Gerede von der überaus blutigen "ursprünglichen Akkumulation", von der schon Joseph Schumpeter wusste, dass es schlicht nicht zutrifft, vermeiden helfen. Aber die Realität interessiert bei Fraser so wenig wie in ihrer Beschreibung des "Sozialismus" als Alternative, die einfach zu schön ist, um wahr zu sein: Alles wird gut, wenn wir den Kapitalismus endlich hinter uns haben. Wie es im Sozialismus weitergeht? Klar wird das nicht. Nancy Fraser redet zwar von Märkten, die sie irgendwie begrenzen will; auch von Sorge, von Teilhabe und Gleichheit ist die Rede, ohne dass sie deren praktische Seiten ernsthaft erörterte.
Man kann der kapitalistischen Welt alles empirisch feststellbare und unbestreitbare Elend anlasten und dann, wie Nancy Fraser, die vermeintlich Marginalisierten zum Kampf gegen sie aufrufen, aber man sollte wenigstens einige Gedanken darauf verschwenden, wie denn die materiellen Bedürfnisse jener befreiten Milliarden Menschen zu decken sein werden, die auch nach dem Ende des Kapitalismus täglich leben müssen. Diesen Zwängen genügt der Kapitalismus zugegebenermaßen nicht sonderlich gut, aber, und das ist historisch gravierend, besser als alle bisher getesteten Alternativen, die übrigens auch nicht unbedingt menschenfreundlicher waren.
Und diese Art der Wirtschaft ist eben auch nicht automatisch für alles verantwortlich, selbst wenn man das noch so oft wiederholt. Sie hat ihre Stärken und ihre Schwächen, und sie ist historisch überaus wandlungsfähig. Das ist keine Überlebensgarantie, verlangt aber doch nach einer komplexeren Sicht, als sie Nancy Fraser hat. WERNER PLUMPE
Nancy Fraser: "Der Allesfresser". Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 282 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Statt Realismus: Nancy Fraser beschwört den Kapitalismus als selbstzerstörerisches Monster
Mit dem Kapitalismus ist das so eine vertrackte Sache: Geht man heute durch deutsche Bahnhofsbuchhandlungen, so wird man im Rahmen eines mehr oder weniger blühenden kapitalistischen Buchmarktes ein derzeit besonders üppig gedeihendes Gewächs finden, das auf Käuferzuspruch hofft: die Untergangsprognose. Nicht, dass diese Untergangsprognosen neu wären. Sie finden sich seit der Entstehung des Kapitalismus in der nordwesteuropäischen Welt des siebzehnten Jahrhunderts in schöner Regelmäßigkeit und aus einer Vielzahl von Richtungen. War es im siebzehnten Jahrhundert etwa die calvinistische Geistlichkeit, die im Luxus der prosperierenden niederländischen Städte ein untrügliches Vorzeichen göttlichen Zorns sah, so kam später die Kritik am Ramsch, an der sozialen Entwurzelung, an der Zerstörung der herkömmlichen Verbindlichkeiten hinzu, bis Ludwig Klages schließlich im Kapitalismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den ultimativen Zerstörer unserer natürlichen Lebensgrundlagen geißelte.
Die mit dem Namen Karl Marx verbundenen Untergangsprognosen, die seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts en vogue wurden, wichen von diesen Apokalypsen nicht nur deshalb ab, weil sie die Zerstörungen, die der Kapitalismus vermeintlich auslöste, im Grunde begrüßten - man denke nur an den geradezu triumphalen Ton der Fortschrittsbeschreibungen im "Kommunistischen Manifest". Sie sahen im Kapitalismus trotz seiner inneren Widersprüche, an denen er letztlich zugrunde gehen musste, immerhin einen notwendigen Schritt der Weltgeschichte.
Die Zerstörung war schon in Ordnung, sie war nur nicht das letzte Wort, das idealerweise die Arbeiterschaft sprechen würde, wenn sie nicht auf das ohnehin bevorstehende Ende des Kapitalismus wartete, sondern es durch die sozialistische Revolution aktiv herbeiführte und die Menschheit endlich befreite. All diese Prognosen sind nicht eingetroffen. Trotz aller Krisen hat die kapitalistische Ordnung bis heute überlebt. Doch jetzt, so der Tenor der gegenwärtigen Untergangsprophezeiungen, wird alles anders.
Nancy Frasers aktuelle Prophezeiung kann den im Kern positiven Ton der marxschen Kapitalismuskonzeption angesichts der Krisen unserer Zeit nicht mehr teilen. War für Marx der Kapitalismus ein widersprüchlicher, ungerechter, aber notwendiger Durchgangsschritt in eine bessere Welt, ist Nancy Fraser ganz der negativen Dialektik der älteren Frankfurter Schule verpflichtet, die den naiven Glauben an den "Fortschritt der Produktivkräfte" ad acta gelegt hatte. Die Moderne konnte eben auch in die Barbarei führen, der sogenannte technische Fortschritt beförderte das womöglich.
Phantastische Handlungsmacht
Die marxsche Kapitalismuskritik, die insbesondere auf die unterstellte Widersprüchlichkeit der Warenproduktion, den sozialen Skandal der Ausbeutung und auf die sinkende Profitabilität des Akkumulationsregimes gesetzt hatte, sieht Fraser daher als zwar richtig, aber unzureichend an, denn sie würde alle Voraussetzungen, derer der Kapitalismus für seine Funktionsfähigkeit bedarf und die gerade nicht seiner Form der Warenwirtschaft unterlägen, vernachlässigen. Stattdessen plädiert sie für eine Erweiterung von Marx mit Braudel und Wallerstein in Richtung einer Konzeption, die den Kapitalismus gerade als Parasiten seiner nicht kapitalistischen, also keine Wertform annehmenden Voraussetzungen be-greift; das Konzept der Ausbeutung in der Warenwirtschaft müsse durch den Tatbestand des Raubes erweitert werden, den die Warenwirtschaft an ihrer Umwelt vollzieht, die sie gerade deshalb ausraubt, weil die Umwelt nicht den Regeln der Warenwirtschaft unterliegt.
Kapitalismus ist bei Fraser insofern nicht nur Warenproduktion und Ausbeutung, sondern auch Raub und Plünderung gerade dort, wo keine regulären Geschäfte gemacht werden, sondern die blanke Gewalt herrscht; und die sei ein Wesensmerkmal. So werden alle auf der Welt zu beobachtenden Widersprüche, Probleme, Skandale und offenkundigen Ungerechtigkeiten Folgen und Resultate der kapitalistischen Landnahme, von der Sklaverei über den Rassismus zur Unterdrückung der Frau, von der Aushöhlung der Demokratie und der Zerstörung der Partizipationschancen bis hin zur Covid-Pandemie und ihren Folgen.
Damit wird auch klar, was Nancy Fraser unter kannibalischem Kapitalismus versteht, nämlich eine Form der Warenproduktion, die ihre eigenen natürlichen, sozialen und historischen Voraussetzungen zerstören muss. Es ist ein vampirartiges Gesellschaftssystem, ebenso wie der Vampir stets das frische Blut braucht, das ihm und seinesgleichen gerade fehlt, muss der Kapitalismus stets neben seinen Geschäften rauben. Und das "routinemäßig".
Das Kernargument des Buches, dass der Kapitalismus "regelmäßig die Grundlagen seiner Existenz auffresse", ist zwar nicht logisch: Selbst der Kapitalismus kann sich nicht regelmäßig selbst ruinieren. Aber auf eine realistische Sicht der Dinge kommt es gar nicht an. Es geht vielmehr um eine Art Beschwörung des Kapitalismus als eines zugleich mächtigen und fragilen, autodestruktiven Monsters. Dazu muss "dem" Kapitalismus eine geradezu phantastische Handlungsfähigkeit zugesprochen werden. Das steuernde Zentrum des Kapitalismus/Neoliberalismus, von dem Nancy Fraser offenkundig ausgeht, ohne uns allerdings mit ihm genauer bekannt zu machen, ist bei ihr übermächtig, skrupellos, allwissend, listig, brutal - und dumm.
Warenproduktion bleibt außen vor
Da mag der eine oder andere an Donald Trump denken, doch der hat es seinerzeit nicht einmal geschafft, sich gegen Twitter durchzusetzen, geschweige denn die Welt seinem Willen zu unterwerfen. Bei genauerem Hinsehen verschwindet daher der ach so handlungsfähige Kapitalismus auch sehr schnell. Sich mit den realen Akteuren der kapitalistischen Welt zu befassen und diese differenziert zu beurteilen, darauf verzichtet Nancy Fraser wohlweislich, da es anderenfalls schwergefallen wäre, ihre Vorstellungen aufrechtzuerhalten.
Auch vom eigentlichen Kern des Kapitalismus, der Warenproduktion, ist in dem Buch eigentlich nicht die Rede. Wie sich die Warenproduktion im Kapitalismus, wie sich Preise, Mengen und Einkommen entwickelten, welchen Beitrag der Kapitalismus zum Wachstum der Bevölkerung und deren Versorgung geleistet hat, ob die Tatsache, dass vor dem Kapitalismus weniger als eine, heute hingegen fast acht Milliarden Menschen leben, und davon bemerkenswerterweise ein schrumpfender Teil in Armut, all das interessiert Nancy Fraser nicht, da es nicht in ihre Vorstellung des Schurken passt. Für sie ist materielle Fülle einfach vorhanden, ein "Überschuss", mit dem man nur anders umgehen sollte als bisher. Ob nicht der "Überschuss" davon abhängt, wie wir produzieren und tauschen, ob es nicht also der Kapitalismus ist, der ihn erst möglich macht, ist eine Frage, die ein Blick in die wirtschaftshistorische Literatur leicht hätte beantworten können.
Dieser Blick hätte auch das unzutreffende Gerede von der überaus blutigen "ursprünglichen Akkumulation", von der schon Joseph Schumpeter wusste, dass es schlicht nicht zutrifft, vermeiden helfen. Aber die Realität interessiert bei Fraser so wenig wie in ihrer Beschreibung des "Sozialismus" als Alternative, die einfach zu schön ist, um wahr zu sein: Alles wird gut, wenn wir den Kapitalismus endlich hinter uns haben. Wie es im Sozialismus weitergeht? Klar wird das nicht. Nancy Fraser redet zwar von Märkten, die sie irgendwie begrenzen will; auch von Sorge, von Teilhabe und Gleichheit ist die Rede, ohne dass sie deren praktische Seiten ernsthaft erörterte.
Man kann der kapitalistischen Welt alles empirisch feststellbare und unbestreitbare Elend anlasten und dann, wie Nancy Fraser, die vermeintlich Marginalisierten zum Kampf gegen sie aufrufen, aber man sollte wenigstens einige Gedanken darauf verschwenden, wie denn die materiellen Bedürfnisse jener befreiten Milliarden Menschen zu decken sein werden, die auch nach dem Ende des Kapitalismus täglich leben müssen. Diesen Zwängen genügt der Kapitalismus zugegebenermaßen nicht sonderlich gut, aber, und das ist historisch gravierend, besser als alle bisher getesteten Alternativen, die übrigens auch nicht unbedingt menschenfreundlicher waren.
Und diese Art der Wirtschaft ist eben auch nicht automatisch für alles verantwortlich, selbst wenn man das noch so oft wiederholt. Sie hat ihre Stärken und ihre Schwächen, und sie ist historisch überaus wandlungsfähig. Das ist keine Überlebensgarantie, verlangt aber doch nach einer komplexeren Sicht, als sie Nancy Fraser hat. WERNER PLUMPE
Nancy Fraser: "Der Allesfresser". Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 282 S., br., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»[Fraser] zu folgen, macht Freude.« Urs Hafner NZZ am Sonntag 20230725