Die letzte anderthalbe Lebensdekade Leopold von Rankes zählt zu den von der Forschung am eklatantesten vernachlässigten Phasen seines Schaffens. Der "Alte Ranke" ergänzt die bisherige Ranke-Forschung fundamental und wendet sich an Interessenten, die sich mit der Disziplingeschichte beschäftigen und für die es ein Faszinosum ist, auch das (nicht unproblematische) Ende einer glanzvollen akademischen Karriere nachzuvollziehen. In 12 Kapiteln und einem Epilog zeichnet Duchhardt gekonnt das Bild des alternden und an seinem Ruf arbeitenden Rankes nach, der mit seinen "Sämtlichen Werken" und der "Weltgeschichte" noch einmal in den Fokus des ganz großen Publikums gelangte. Aber Ranke war in dieser letzten Schaffensperiode nicht nur Wissenschaftler, sondern auch: ein homo politicus, Produktiver, Kranker, Eitler, ein Priester seiner Anliegen. Heinz Duchhardt gelingt es, einen wichtigen Baustein zu einer allgemeinen, weit über Rankes Biografie hinausweisenden "politischen Geschichtsschreibung im Kaiserreich" vorzulegen. Ein großer Lesegenuss und eine hintergründige Studie über den Wissenschaftsbetrieb des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2023Die Nemesis der Hektik
Gremienarbeiter, Höfling, Chaot: Heinz Duchhardts Aktenforschung zu Leopold von Ranke
Wo die Mikropolitik wissenschaftlicher Patronage sich in der Kulisse einer monarchischen Staatsverfassung entfaltet, werden die rechtlichen Rahmenbedingungen einen kommunikativen Habitus der euphemistischen Geschmeidigkeit begünstigen. Auch wer Empfehlungsschreiben für die Augen eines republikanischen Staatssekretärs produziert, mag aber Gelegenheit finden, als Textbaustein das einfache Bild zu verwenden, mit dem Karl Gustav Homeyer 1853 sein Urteil umschrieb, dass Leopold Rankes "Neun Bücher Preußischer Geschichte" nicht genug Neues enthielten, um für den vom preußischen König gestifteten Verdun-Preis in die engste Wahl kommen zu können: In Bezug auf die innere Verwaltung Preußens habe der Verfasser der künftigen Forschung noch eine "reiche Ernte übrig gelassen".
Friedrich Wilhelm IV. hatte den Preis 1843 gestiftet, als, wie es eine Denkschrift von Historikern, Rechtshistorikern und Germanisten festhielt, "grade tausend Jahre seit dem Schluss des Vertrages abgelaufen" waren, "durch welchen die Teilung der unter Karl dem Großen vereinigten Länder vollbracht wurde". Die Teilung war in dieser gelehrten Vision einer nationalen Tiefenerinnerung eine positiv besetzte Denkfigur, das Rückgängigmachen des Vereinigungswerkes des Gründers des karolingischen Kaiserreiches galt als die Bedingung der Möglichkeit einer selbständigen deutschen Geschichtsentwicklung. Die Verfasser der Eingabe ahnten nicht, dass der Ortsname Verdun ein Dreivierteljahrhundert später zur blutbehafteten Chiffre für die Unentwirrbarkeit der deutschen und französischen Schicksale werden sollte. Ausgelobt wurde der alle fünf Jahre verliehene Preis für die beste Neuerscheinung "im Bereiche der Deutschen Geschichte".
Heinz Duchhardt druckt in einer Fußnote seiner Studie über Rankes Anteil an den ersten sechs Preisverleihungen bis 1873 den einschlägigen Teil der Denkschrift komplett ab, als ein "aus sehr verschiedenen Gründen bemerkenswertes Dokument". Die Verfasser ergehen sich in teleologischen Betrachtungen über die Folgen des Vertrags, über Glück und Unglück oder Natürliches und Unnatürliches in der Nationswerdung, bis hin zum ungerührten retrospektiven Appell an Nothilfe von oben: Das zwischen französischem und deutschem Reich störende Mittelreich "räumte die Vorsehung bald aus dem Weg", indem sie die Linie Kaiser Lothars aussterben ließ. Bemerkenswert ist im Kontrast zu diesen weitschweifigen Spekulationen, dass die Denkschrift über den Bereich der deutschen Geschichte als Forschungsfeld gar nichts sagt.
Sachlich hatte der Rechtshistoriker Homeyer, seit 1827 Ordinarius in Berlin, also einen unbegrenzten Spielraum, als er 1853 sein negatives Votum über Rankes Preußische Geschichte begründete. Im sozialen Binnenraum des Berliner Gremienwesens musste er seine Schritte allerdings mit äußerster Vorsicht wählen. Die Auswahl des Preisträgers, formal geregelt als Vorschlag an den König, oblag einer achtköpfigen Kommission aus Professoren der Universität und Mitgliedern der Akademie, die aus ihrer Mitte zunächst einen Sekretär und einen Dreierausschuss zu wählen hatte, der eine Vorschlagsliste erstellte. Ranke war 1848 der Sekretär gewesen und wurde 1853 erneut in die Kommission berufen, aus der er sich aber zurückziehen musste, als er als Kandidat ins Spiel gebracht wurde, ebenso wie Georg Heinrich Pertz, der Biograph des Freiherrn vom Stein, und Jacob Grimm mit seiner "Geschichte der deutschen Sprache". Aus den Akten ergibt sich, dass der Überraschungssieger von 1853, kein Professor, sondern ein General, Eduard von Höpfner, ein Kompromisskandidat war: Die Einigung auf die vier Bände über den "Krieg von 1806 und 1807" überwand das Patt zwischen Pertz und Ranke.
Aus dem trockenen Ton, mit dem Duchhardt das Ereignismusterhafte, über System- und Epochenwechsel hinweg Typische solcher wissenschaftsbürokratischer Vorgänge andeutet, ist seine Berufserfahrung herauszuhören; er war Direktor des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz und stand der Dachorganisation der deutschen geisteswissenschaftlichen Institute vor. Die Stiftung des Verdun-Preises traf zusammen mit der Begründung des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Nachrichten aus dem Umfeld Friedrich Wilhelms IV., "dass er an ein ganzes Paket von Fördermaßnahmen zugunsten der Geisteswissenschaften denke, hatten bei den Vertretern dieser Fächer in der Universität und in der Akademie für eine gewaltige Hektik gesorgt". Sie sahen sich veranlasst, "frühzeitig Flagge zu zeigen und konstruktive Vorschläge zu machen", denn "vielen war klar, dass sich solche Situationen nur einmal im Leben ergeben!".
Ohne Bezug von Fördergeldern legt Duchhardt mit der Aufsatzsammlung und einer biographischen Arbeit über Ranke nach dem Ende der Berliner Lehrtätigkeit jetzt in kurzer Zeit schon sein zweites und drittes Ranke-Buch im Berliner Vergangenheitsverlag vor, der sogar eine eigene Schriftenreihe für die Ranke-Forschung auflegt, die in ihrer quasi amtlichen, von den auf Ranke zurückgehenden Großinstitutionen der Zunft verwalteten Form immer wieder Abbrüche erlebt hat. Den Befund, den Duchhardt aus Homeyers Gutachten über die "Neun Bücher" referiert, "nicht zur Sache gehörende Einschübe aufzuweisen" und "die Literaturbenutzung nicht wirklich überprüfbar zu machen", findet er in seiner Sichtung des Spätwerks, das sozusagen gegenläufig zur deutschen Einigung immer preußischer wurde, vielfach bestätigt.
Duchhardt ist durchgehend kritisch, auch zur Persönlichkeit Rankes, der die Vorsehung in seine Angelegenheiten durchgreifen sah, wenn ihn Fürstlichkeiten an seinen runden Geburtstagen mit Orden überhäuften. An Rankes Werk fasziniert Duchhardt das Praktische und sogar Technische: wie er als Witwer und Emeritus trotz seiner Erblindung seinen Ausstoß noch einmal steigerte und im unbeschreiblichen Chaos seines Arbeitszimmers sogar eine "Weltgeschichte" zustande brachte, mit einem "Team" privater Assistenten und durch "Zeitdruck als System". Heinz Duchhardt gratulieren an seinem heutigen achtzigsten Geburtstag außer den Fachkollegen auch Geschichtsfreunde, die sein Interesse daran teilen, wie Geschichte ohne jede Mithilfe der Vorsehung im einfachsten handwerklichen Sinne gemacht wird. PATRICK BAHNERS
Heinz Duchhardt:
"Ranke-Studien".
Neue Aspekte der Ranke-Forschung, Bd. 1.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2023. 188 S., br., 20,- Euro.
Heinz Duchhardt: "Der Alte Ranke". Politische Geschichtsschreibung im Kaiserreich.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2023. 400 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gremienarbeiter, Höfling, Chaot: Heinz Duchhardts Aktenforschung zu Leopold von Ranke
Wo die Mikropolitik wissenschaftlicher Patronage sich in der Kulisse einer monarchischen Staatsverfassung entfaltet, werden die rechtlichen Rahmenbedingungen einen kommunikativen Habitus der euphemistischen Geschmeidigkeit begünstigen. Auch wer Empfehlungsschreiben für die Augen eines republikanischen Staatssekretärs produziert, mag aber Gelegenheit finden, als Textbaustein das einfache Bild zu verwenden, mit dem Karl Gustav Homeyer 1853 sein Urteil umschrieb, dass Leopold Rankes "Neun Bücher Preußischer Geschichte" nicht genug Neues enthielten, um für den vom preußischen König gestifteten Verdun-Preis in die engste Wahl kommen zu können: In Bezug auf die innere Verwaltung Preußens habe der Verfasser der künftigen Forschung noch eine "reiche Ernte übrig gelassen".
Friedrich Wilhelm IV. hatte den Preis 1843 gestiftet, als, wie es eine Denkschrift von Historikern, Rechtshistorikern und Germanisten festhielt, "grade tausend Jahre seit dem Schluss des Vertrages abgelaufen" waren, "durch welchen die Teilung der unter Karl dem Großen vereinigten Länder vollbracht wurde". Die Teilung war in dieser gelehrten Vision einer nationalen Tiefenerinnerung eine positiv besetzte Denkfigur, das Rückgängigmachen des Vereinigungswerkes des Gründers des karolingischen Kaiserreiches galt als die Bedingung der Möglichkeit einer selbständigen deutschen Geschichtsentwicklung. Die Verfasser der Eingabe ahnten nicht, dass der Ortsname Verdun ein Dreivierteljahrhundert später zur blutbehafteten Chiffre für die Unentwirrbarkeit der deutschen und französischen Schicksale werden sollte. Ausgelobt wurde der alle fünf Jahre verliehene Preis für die beste Neuerscheinung "im Bereiche der Deutschen Geschichte".
Heinz Duchhardt druckt in einer Fußnote seiner Studie über Rankes Anteil an den ersten sechs Preisverleihungen bis 1873 den einschlägigen Teil der Denkschrift komplett ab, als ein "aus sehr verschiedenen Gründen bemerkenswertes Dokument". Die Verfasser ergehen sich in teleologischen Betrachtungen über die Folgen des Vertrags, über Glück und Unglück oder Natürliches und Unnatürliches in der Nationswerdung, bis hin zum ungerührten retrospektiven Appell an Nothilfe von oben: Das zwischen französischem und deutschem Reich störende Mittelreich "räumte die Vorsehung bald aus dem Weg", indem sie die Linie Kaiser Lothars aussterben ließ. Bemerkenswert ist im Kontrast zu diesen weitschweifigen Spekulationen, dass die Denkschrift über den Bereich der deutschen Geschichte als Forschungsfeld gar nichts sagt.
Sachlich hatte der Rechtshistoriker Homeyer, seit 1827 Ordinarius in Berlin, also einen unbegrenzten Spielraum, als er 1853 sein negatives Votum über Rankes Preußische Geschichte begründete. Im sozialen Binnenraum des Berliner Gremienwesens musste er seine Schritte allerdings mit äußerster Vorsicht wählen. Die Auswahl des Preisträgers, formal geregelt als Vorschlag an den König, oblag einer achtköpfigen Kommission aus Professoren der Universität und Mitgliedern der Akademie, die aus ihrer Mitte zunächst einen Sekretär und einen Dreierausschuss zu wählen hatte, der eine Vorschlagsliste erstellte. Ranke war 1848 der Sekretär gewesen und wurde 1853 erneut in die Kommission berufen, aus der er sich aber zurückziehen musste, als er als Kandidat ins Spiel gebracht wurde, ebenso wie Georg Heinrich Pertz, der Biograph des Freiherrn vom Stein, und Jacob Grimm mit seiner "Geschichte der deutschen Sprache". Aus den Akten ergibt sich, dass der Überraschungssieger von 1853, kein Professor, sondern ein General, Eduard von Höpfner, ein Kompromisskandidat war: Die Einigung auf die vier Bände über den "Krieg von 1806 und 1807" überwand das Patt zwischen Pertz und Ranke.
Aus dem trockenen Ton, mit dem Duchhardt das Ereignismusterhafte, über System- und Epochenwechsel hinweg Typische solcher wissenschaftsbürokratischer Vorgänge andeutet, ist seine Berufserfahrung herauszuhören; er war Direktor des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz und stand der Dachorganisation der deutschen geisteswissenschaftlichen Institute vor. Die Stiftung des Verdun-Preises traf zusammen mit der Begründung des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Nachrichten aus dem Umfeld Friedrich Wilhelms IV., "dass er an ein ganzes Paket von Fördermaßnahmen zugunsten der Geisteswissenschaften denke, hatten bei den Vertretern dieser Fächer in der Universität und in der Akademie für eine gewaltige Hektik gesorgt". Sie sahen sich veranlasst, "frühzeitig Flagge zu zeigen und konstruktive Vorschläge zu machen", denn "vielen war klar, dass sich solche Situationen nur einmal im Leben ergeben!".
Ohne Bezug von Fördergeldern legt Duchhardt mit der Aufsatzsammlung und einer biographischen Arbeit über Ranke nach dem Ende der Berliner Lehrtätigkeit jetzt in kurzer Zeit schon sein zweites und drittes Ranke-Buch im Berliner Vergangenheitsverlag vor, der sogar eine eigene Schriftenreihe für die Ranke-Forschung auflegt, die in ihrer quasi amtlichen, von den auf Ranke zurückgehenden Großinstitutionen der Zunft verwalteten Form immer wieder Abbrüche erlebt hat. Den Befund, den Duchhardt aus Homeyers Gutachten über die "Neun Bücher" referiert, "nicht zur Sache gehörende Einschübe aufzuweisen" und "die Literaturbenutzung nicht wirklich überprüfbar zu machen", findet er in seiner Sichtung des Spätwerks, das sozusagen gegenläufig zur deutschen Einigung immer preußischer wurde, vielfach bestätigt.
Duchhardt ist durchgehend kritisch, auch zur Persönlichkeit Rankes, der die Vorsehung in seine Angelegenheiten durchgreifen sah, wenn ihn Fürstlichkeiten an seinen runden Geburtstagen mit Orden überhäuften. An Rankes Werk fasziniert Duchhardt das Praktische und sogar Technische: wie er als Witwer und Emeritus trotz seiner Erblindung seinen Ausstoß noch einmal steigerte und im unbeschreiblichen Chaos seines Arbeitszimmers sogar eine "Weltgeschichte" zustande brachte, mit einem "Team" privater Assistenten und durch "Zeitdruck als System". Heinz Duchhardt gratulieren an seinem heutigen achtzigsten Geburtstag außer den Fachkollegen auch Geschichtsfreunde, die sein Interesse daran teilen, wie Geschichte ohne jede Mithilfe der Vorsehung im einfachsten handwerklichen Sinne gemacht wird. PATRICK BAHNERS
Heinz Duchhardt:
"Ranke-Studien".
Neue Aspekte der Ranke-Forschung, Bd. 1.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2023. 188 S., br., 20,- Euro.
Heinz Duchhardt: "Der Alte Ranke". Politische Geschichtsschreibung im Kaiserreich.
Vergangenheitsverlag, Berlin 2023. 400 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main