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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Gewichte in der Welt verschieben sich. Der ehemalige Botschafter Deutschlands in Indien plädiert für ein neues Verhältnis zur großen Macht in Südasien und zum "globalen Süden" insgesamt.
Walter Lindner war ein unkonventioneller Diplomat. Viele dürften sich an ihn als den großgewachsenen Mann mit dem Pferdeschwanz erinnern, der als Sprecher seines damaligen Chefs Joseph Fischer die Außenpolitik und später als Sonderbeauftragter der Bundesregierung das Ebolavirus erklärte. Lindner war Botschafter in Nairobi, Leiter des Krisenstabs im Auswärtigen Amt, Staatssekretär und schließlich deutscher Botschafter in Indien. Nach einer außergewöhnlichen Karriere im Dienst des Außenministeriums war er vor etwa eineinhalb Jahren in den Ruhestand gegangen. Jetzt meldet sich Lindner mit einem Buch zurück, in dem er eine Art Bilanz seiner nahezu lebenslangen Beschäftigung mit dem faszinierenden Land am Ganges zieht. Den Subkontinent hatte Lindner erst als Rucksackreisender und später dann als oberster Vertreter Deutschlands kennengelernt.
Indien ist ein Land, von dem viele Deutsche träumen, das ihnen in vielerlei Hinsicht aber fremd ist und sogar Angst macht. In der Gegenwart gehört es zu den Hoffnungsträgern: als aufstrebende Wirtschaftssupermacht, Antreiber digitaler Innovationen und geopolitisches Gegengewicht zu China. "Indien ist in" - so beginnt Lindner sein Buch, das die Marschrichtung der globalen Gewichtsverschiebung mit seinem Titel "Der alte Westen und der neue Süden" andeutet. Lindner zitiert darin schon in den ersten Absätzen einen indischen Minister mit einer selbstbewussten Prognose. "In einigen Jahren wird Indiens Wirtschaft größer sein als Deutschland", sagt dieser. Lindner ergänzt, dass der Inder damit wohl schon sehr bald recht behalten dürfte.
Den Kern des Buchs bildet der unbestreitbar wichtige Appell, Indien und den globalen Süden angesichts der sich verschiebenden Gewichte insgesamt mehr in den Blick zu nehmen. Lindner fordert die deutsche Politik und Öffentlichkeit auf, zu versuchen, diesen Teil der Welt zu verstehen und den dortigen Ländern auf Augenhöhe zu begegnen. "Es geht um Empathie, Neugier und Interesse. Auch um Demut", schreibt der ehemalige Botschafter. Seine Jahrzehnte im Auswärtigen Dienst haben in ihm offensichtlich die Erkenntnis reifen lassen, dass es vielen Deutschen an diesen Eigenschaften mangelt. Als Beispiel führt er einen namenlosen deutschen Abgeordneten an, der während Lindners Zeit als Botschafter in Nairobi bei einem Besuch über nichts anderes reden konnte als die Heimatpolitik. Lindner bezeichnet solche Reisen mit einiger Berechtigung als "verpasste Chancen".
Das ist eine wichtige Kritik, aus der sich Lehren für die Beschäftigung mit allen Ländern Asiens und des globalen Südens ziehen lassen. Allerdings drängt sich im Verlauf des Buchs anstatt der Sachfragen die Persönlichkeit des Ausnahmediplomaten Lindner dann doch sehr stark in den Vordergrund. In Zeiten der digitalen Selbstdarstellung dürfte das für viele auch den Reiz des Buchs und der Person ausmachen. Lindner hat den Typus des Diplomaten als Internet- und Medienstar wahrscheinlich nicht erfunden, aber perfektioniert. Stellvertretend dafür steht die Entscheidung, sich nicht in der üblichen Botschafterlimousine, sondern in einem knallrot lackierten indischen Oldtimer der Traditionsmarke "Ambassador" fahren zu lassen, den Lindner ungenutzt im Hof seiner Botschaft entdeckt hatte. Das Auto mit dem Spitznamen "Auntie Amby" wurde zu einem Markenzeichen und der deutsche Botschafter zu einer Größe in den traditionellen und modernen Medien Indiens.
Die Frage, ob ein Diplomat auf diese und andere Arten Publicity betreiben sollte, hat Lindner für sich klar und deutlich beantwortet. Aus der Riege der Botschafter stach er damit auch in Indien heraus. Sein Auftreten lässt sich aber auch gleichzeitig als symptomatisch für einen neuen Stil in der deutschen Diplomatie lesen, der sich nicht damit begnügt, Länderberichte nach Berlin zu übermitteln, sondern sich der Mittel der digitalen Kommunikation bedient.
Bei Lindner wirkte dies auch nie bemüht. Schließlich umgab den passionierten Musiker immer eher die Aura eines Frank Zappa als eines Olaf Scholz. Davon abgesehen lässt sich aber auch fragen, ob dieser Stil mehr der Entwicklung des persönlichen Profils als der Fortentwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Indien und Deutschland diente. Letzterem waren in Lindners Amtszeit schon aus anderen Gründen Grenzen gesetzt, da sie in die auch für Diplomatie schwierige Covid-Pandemie gefallen war.
In Neu Delhi heißt es jedenfalls, dass von vielen dort noch immer in großer Bewunderung über den deutschen Paradiesvogel unter den Diplomaten gesprochen werde. Trotz der teilweise schwierigen Rahmenbedingungen hat es auch in Lindners Amtszeit Zeichen der Annäherung gegeben. Als Meilenstein lässt sich der Besuch der "Bayern" anführen, der erste einer deutschen Fregatte in Indien seit zwei Jahrzehnten. Die Stippvisite war ein Zeichen der verstärkten Hinwendung Deutschlands zum Indopazifik. Allerdings berichtet Lindner auch, wie der Fregattenbesuch im Heimatland der "Bayern" erst mit mäßigem Interesse verfolgt und dann durch eine Randbegebenheit aus den Nachrichten verdrängt wurde.
Der ebenfalls nach Indien angereiste Inspekteur der Marine "monologisierte" Lindner zufolge in Neu Delhi über "Respekt" für Wladimir Putin. Wie sich später herausstellte, bereitete der russische Präsident da schon seinen Einmarsch in die Ukraine vor. Die Affäre führt zum Rücktritt des Inspekteurs.
Für Lindner ist der Fregattenbesuch damit eine weitere verpasste Chance, weil er nicht genutzt wurde, um der Indopazifik-Region ein echtes Interesse entgegenzubringen. Diese Haltung führt Lindner zufolge dazu, dass es in Deutschland noch immer viele "blinde Stellen" im Umgang mit den Ländern des globalen Südens gebe. Den eigenen Ansprüchen, das Land erst einmal verstehen zu wollen, bevor man sich ein Urteil erlaubt, wird Lindner in seinem Buch selbst in der Tat gerecht. Die persönlichen Anekdoten, Erfahrungen und Beobachtungen zu verschiedenen Themenschwerpunkten geben zwar kein umfassendes Bild Indiens, aber Einblicke, die vor allem für Neulinge in der Beschäftigung mit dem für viele verwirrenden Subkontinent von Interesse sein dürften. Lindner schreibt über die Kluft zwischen Arm und Reich, die Spiritualität, Sprachenvielfalt und Umwelt Indiens.
Die vielen Probleme Indiens blendet er nicht aus, spricht sich aber dagegen aus, diese mit erhobenem Zeigefinger anzusprechen. Er widmet sich Themen wie Kinder- und Frauenrechten oder den häufig noch schlimmen Arbeitsbedingungen in Indien. Auch die Gefahren für die indische Demokratie, die von den Hindunationalisten unter Ministerpräsident Narendra Modi ausgehen, erwähnt Lindner.
Bezüglich dieser Fragen hätte die Analyse noch etwas mehr in die Breite und auch in die Tiefe gehen können. Die Realitäten einer zunehmenden Ausgrenzung von Muslimen und Christen, einer Opposition, der immer stärker die Luft abgedreht wird, und die Instrumentalisierung staatlicher Institutionen für die innenpolitische Auseinandersetzung erscheinen bei Lindner als einige Themen von vielen. Sie sind aber nicht nur für die zukünftige Entwicklung Indiens zentral, sondern auch für die Frage, ob Indien in der Tat der "Wertepartner" im Indopazifik ist, den sich die Deutschen wünschen. Es hätte auch seinem Ziel gedient, den Deutschen Indien etwas näherzubringen, wenn sie etwas mehr darüber erfahren würden, wie ein unkonventioneller Diplomat wie Lindner den Balanceakt zwischen respektvollem Dialog und notwendiger Kritik in seiner Amtszeit versucht hat. TILL FÄHNDERS
Walter J. Lindner mit Heike Wolter: Der alte Westen und der neue Süden. Was wir von Indien lernen sollten, bevor es zu spät ist.
Ullstein Verlag, Berlin 2024. 320 S., 24,99 Euro.
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