Und du? Hast du Kinder? - Ja, einen Sohn, in Amerika. Danach Schweigen. Die am Rande einer Podiumsveranstaltung arglos gestellte Frage rührt an ein Lebenstrauma. Von seiner Vaterschaft erfuhr der Altachtundsechziger vor dreißig Jahren per Zufall auf der Tanzfläche. Der Junge namens Eno wuchs in Jamaika auf, später in den USA, Kontakt gab es keinen. Die Mutter, eine Hamburgerin, ging eigene Wege. Und so hatte die Existenz des Sohns den Vater, der als Aktivist und Hippie-Businessman von Familie nicht viel wissen wollte, bisher nie wirklich gekümmert. Doch 2014 lädt ihn eine Stiftung nach New York ein. Eine Chance, mit der verdrängten Geschichte ins Reine zu kommen. Je mehr er in die Stadt eintaucht, an alten und neuen Orten den Spuren des Undergrounds der Siebziger bis zu den Vorzeichen der Präsidentschaft Donald Trumps folgt, umso mehr gewinnt die Frage nach dem nahen fernen, längst erwachsenen Kind an Dringlichkeit. Selbstironisch und mit warmer Lakonie geht Bernd Cailloux auf die Suche nach dem verlorenen Sohn, auf einen USA-Trip in die eigene Vergangenheit und fremde Gegenwart - als New-York-Flaneur zu Fuß, zögerlich im Internet und zuletzt im Flugzeug Richtung Menlo Park, ans westliche Ende der westlichen Welt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2020Der Quasselgreis und sein Sohn
Eno, te absolvo: Bernd Cailloux sucht in den Vereinigten Staaten Erlösung von der Vaterlosigkeit
Häufiger noch als die Frage nach dem Alibi hört man in neueren Fernsehkrimis eine andere: "Haben Sie Kinder?" In der Regel erbleicht der Kommissar an dieser Stelle, beschämt von so viel überwältigender emotionaler Dringlichkeit. Kinderlose gelten heute als verantwortungslose Egoisten, "final abgedriftet" und gescheitert am Sinn des Lebens, "schon fast sowas wie Hitler", wie Bernd Cailloux' Erzähler und Alter Ego ungnädig konstatiert. 1968 war das noch anders; damals fraß die Revolution noch fröhlich ihre Kinder. Nachwuchs störte das revolutionäre Subjekt - vor allem die Väter - bei der politischen Arbeit wie bei der privaten Selbstverwirklichung, und so gab man die lästigen Klein-Bürger frühzeitig im Kinderladen oder bei den Großeltern ab.
Auch Bernd Cailloux, Jahrgang 1945, hatte seine Reproduktion eigentlich nie auf dem Radar: Party und Reisen, Leben und später dann auch Schreiben waren ihm wichtiger. Schon im "Geschäftsjahr 1968/69" (so der Titel seines besten Romans) durch Stroboskop-Anlagen zu unverschämt viel Geld gekommen, genoss er als prädigitaler Start-up-Hippie, libertärer Hedonist und netter Altachtundsechziger die Annehmlichkeiten von Geld, Sex, Drogen und schlauen Welterklärungen. Als Vater musste er sich erst verstehen, als er zufällig von seinem amerikanischen Sohn erfuhr. Ausgerechnet er, der ewige Nachwuchsverweigerer, der jetzt auch schon siebzig verweht ist, "arbeits-, sex- und demnächst haarlos", hat einen Sohn; und dann noch in Amerika, dem hassgeliebten Reich der Finsternis und der Popkultur. Nun hat er einen Roman darüber geschrieben mit dem Titel "Der amerikanische Sohn".
Die Geschichte darin geht so: Als ihm in den siebziger Jahren eine Kneipenbekanntschaft beiläufig ihre Schwangerschaft eröffnete, nahm er das nicht weiter ernst. Schließlich wollte sie das Kind wieder wegmachen und war eh schon auf dem Sprung nach Negril, dem Aussteiger-Hotspot in Jamaika. Dass sie ihre "letzte Gelegenheit, ein intelligentes, weißes Kind zu kriegen", dann doch genutzt hatte, bekam der Leihvater nur noch am Rande mit.
Dann aber wird Cailloux noch einmal mit seiner verdrängten, vergessenen Vaterschaft konfrontiert, und diesmal kann er ihr nicht mehr ausweichen. Als kränkelnder alter Mann will er endlich "seinen Mann stehen", sehen, was von einem übrig bleibt, wenn das Leben in Erinnerungen und "perpetuierende Cluster" der Vergeblichkeit zerfällt. Warum also nicht ein Amerika-Stipendium dazu nutzen, beim amerikanischen Sohn mal unverbindlich vorbeizuschauen? Dieser Eno ist, wie Cailloux googelt, Sportreporter und Bier-Blogger in Menlo Park, Kalifornien. Dass er in einem Interview von seinem tollen "Dad" schwärmt, kühlt die Sehnsucht des Erzeugers nach "Teilhabe" und Versöhnung schon mal empfindlich ab.
Der Erzähler verliert die Suche nach dem verlorenen Sohn dann auch rasch aus den Augen. "Der amerikanische Sohn" - das klingt nach überlebensgroßen, männlich-herben Kinogefühlen, unterlegt mit klagenden Gitarrenakkorden. Aber dies ist kein Roadmovie von Wim Wenders, kein Roman des frühen Peter Handke, sondern eben ein Amerika-Buch von Bernd Cailloux. Das heißt: analytische Schärfe, Erinnerungsseligkeit und schnoddriges Gelaber, trotzige Wurstigkeit und Sündenstolz mit einer Prise Selbstmitleid. Normalerweise hadert Cailloux an einem Berliner Tresen mit dem Niedergang des heroischen Hedonismus und seinem eigenen Verfall. Diesmal ist er in New York, der Kapitale des Kapitalismus, die er schon von Aufenthalten in den Siebzigern kennt, und das gibt ihm Gelegenheit, mit alten Kumpels und Geschäftsfreunden in Erinnerungen zu schwelgen.
"Ein Flaneur aus der Vorzeit, im Mund noch neun eigene Zähne", so streift er durch Chinatown und das gentrifizierte Harlem, spürt in dekadenten Galerien und biodynamischen Frauencafés "Kriechströme der Unsäglichkeit" und wohlige Schauder des Wiedererkennens, wenn er noch eine schummrige Bar mit schweigenden Männern findet. Als alter Hippie-Hipster hat man es im gerontophoben New York nicht leicht. Nicht nur wegen seiner Prostatabeschwerden liebäugelt Cailloux mit dem Gedanken, einen Toilettenführer für New York zu schreiben. Bei der Kulturstiftung, die seinen Aufenthalt alimentiert, stößt er damit auf wenig Gegenliebe, und diese Demütigung nagt weiter an seinem Selbstbewusstsein: "Willst hier als beckettscher Quasselgreis noch ordentlich was loswerden, mit deinem deutsch damischen Underground. Ruhm muss man hier schon von zuhause mitbringen, sonst wird man in New York noch kleiner als in seinem lächerlichen Kiez."
Cailloux gelingen bei seinem "Reality Zapping" schöne Porträts von überdrehten Galeristen und transsexuellen Altlinken mit Heimweh nach Europa, aber er versinkt auch immer tiefer in "hierarchielos mäandernden Verästelungsroutinen" und weitschweifiger Nabelschau. Ja, auch er hat als Kind gern Cowboy und Indianer gespielt und sieht jetzt das freie Schweifen der Phantasie bedroht durch Blackfacing-Verbote, ökologische Vernunft, betreutes Denken, Mansplaining- und Me-Too-Verdacht. So arbeitet sich Cailloux klagend, höhnend und schlau "herumsoziologisierend" immer näher heran an das unumgängliche Treffen mit seinem Sohn. Nach so viel Reisefeuilletons, Erinnerungen und Betrachtungen über Kinderkriegen und Vaterschaft damals und heute geht am Ende alles überraschend kurz und schmerzlos über die Bühne.
Was Vater und Sohn dabei bereden, bleibt offen und spielt letztlich auch keine Rolle mehr. Cailloux kann gut und gern über den Anteil Amerikas an der Menschwerdung und subkulturellen Sozialisation eines deutschen Flüchtlings- und Scheidungskinds plaudern. Aber das Geheimnis der Vaterschaft entzieht sich den Begriffen und Gefühlen eines zahnlosen alten Flaneurs.
MARTIN HALTER
Bernd Cailloux:
"Der amerikanische Sohn". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eno, te absolvo: Bernd Cailloux sucht in den Vereinigten Staaten Erlösung von der Vaterlosigkeit
Häufiger noch als die Frage nach dem Alibi hört man in neueren Fernsehkrimis eine andere: "Haben Sie Kinder?" In der Regel erbleicht der Kommissar an dieser Stelle, beschämt von so viel überwältigender emotionaler Dringlichkeit. Kinderlose gelten heute als verantwortungslose Egoisten, "final abgedriftet" und gescheitert am Sinn des Lebens, "schon fast sowas wie Hitler", wie Bernd Cailloux' Erzähler und Alter Ego ungnädig konstatiert. 1968 war das noch anders; damals fraß die Revolution noch fröhlich ihre Kinder. Nachwuchs störte das revolutionäre Subjekt - vor allem die Väter - bei der politischen Arbeit wie bei der privaten Selbstverwirklichung, und so gab man die lästigen Klein-Bürger frühzeitig im Kinderladen oder bei den Großeltern ab.
Auch Bernd Cailloux, Jahrgang 1945, hatte seine Reproduktion eigentlich nie auf dem Radar: Party und Reisen, Leben und später dann auch Schreiben waren ihm wichtiger. Schon im "Geschäftsjahr 1968/69" (so der Titel seines besten Romans) durch Stroboskop-Anlagen zu unverschämt viel Geld gekommen, genoss er als prädigitaler Start-up-Hippie, libertärer Hedonist und netter Altachtundsechziger die Annehmlichkeiten von Geld, Sex, Drogen und schlauen Welterklärungen. Als Vater musste er sich erst verstehen, als er zufällig von seinem amerikanischen Sohn erfuhr. Ausgerechnet er, der ewige Nachwuchsverweigerer, der jetzt auch schon siebzig verweht ist, "arbeits-, sex- und demnächst haarlos", hat einen Sohn; und dann noch in Amerika, dem hassgeliebten Reich der Finsternis und der Popkultur. Nun hat er einen Roman darüber geschrieben mit dem Titel "Der amerikanische Sohn".
Die Geschichte darin geht so: Als ihm in den siebziger Jahren eine Kneipenbekanntschaft beiläufig ihre Schwangerschaft eröffnete, nahm er das nicht weiter ernst. Schließlich wollte sie das Kind wieder wegmachen und war eh schon auf dem Sprung nach Negril, dem Aussteiger-Hotspot in Jamaika. Dass sie ihre "letzte Gelegenheit, ein intelligentes, weißes Kind zu kriegen", dann doch genutzt hatte, bekam der Leihvater nur noch am Rande mit.
Dann aber wird Cailloux noch einmal mit seiner verdrängten, vergessenen Vaterschaft konfrontiert, und diesmal kann er ihr nicht mehr ausweichen. Als kränkelnder alter Mann will er endlich "seinen Mann stehen", sehen, was von einem übrig bleibt, wenn das Leben in Erinnerungen und "perpetuierende Cluster" der Vergeblichkeit zerfällt. Warum also nicht ein Amerika-Stipendium dazu nutzen, beim amerikanischen Sohn mal unverbindlich vorbeizuschauen? Dieser Eno ist, wie Cailloux googelt, Sportreporter und Bier-Blogger in Menlo Park, Kalifornien. Dass er in einem Interview von seinem tollen "Dad" schwärmt, kühlt die Sehnsucht des Erzeugers nach "Teilhabe" und Versöhnung schon mal empfindlich ab.
Der Erzähler verliert die Suche nach dem verlorenen Sohn dann auch rasch aus den Augen. "Der amerikanische Sohn" - das klingt nach überlebensgroßen, männlich-herben Kinogefühlen, unterlegt mit klagenden Gitarrenakkorden. Aber dies ist kein Roadmovie von Wim Wenders, kein Roman des frühen Peter Handke, sondern eben ein Amerika-Buch von Bernd Cailloux. Das heißt: analytische Schärfe, Erinnerungsseligkeit und schnoddriges Gelaber, trotzige Wurstigkeit und Sündenstolz mit einer Prise Selbstmitleid. Normalerweise hadert Cailloux an einem Berliner Tresen mit dem Niedergang des heroischen Hedonismus und seinem eigenen Verfall. Diesmal ist er in New York, der Kapitale des Kapitalismus, die er schon von Aufenthalten in den Siebzigern kennt, und das gibt ihm Gelegenheit, mit alten Kumpels und Geschäftsfreunden in Erinnerungen zu schwelgen.
"Ein Flaneur aus der Vorzeit, im Mund noch neun eigene Zähne", so streift er durch Chinatown und das gentrifizierte Harlem, spürt in dekadenten Galerien und biodynamischen Frauencafés "Kriechströme der Unsäglichkeit" und wohlige Schauder des Wiedererkennens, wenn er noch eine schummrige Bar mit schweigenden Männern findet. Als alter Hippie-Hipster hat man es im gerontophoben New York nicht leicht. Nicht nur wegen seiner Prostatabeschwerden liebäugelt Cailloux mit dem Gedanken, einen Toilettenführer für New York zu schreiben. Bei der Kulturstiftung, die seinen Aufenthalt alimentiert, stößt er damit auf wenig Gegenliebe, und diese Demütigung nagt weiter an seinem Selbstbewusstsein: "Willst hier als beckettscher Quasselgreis noch ordentlich was loswerden, mit deinem deutsch damischen Underground. Ruhm muss man hier schon von zuhause mitbringen, sonst wird man in New York noch kleiner als in seinem lächerlichen Kiez."
Cailloux gelingen bei seinem "Reality Zapping" schöne Porträts von überdrehten Galeristen und transsexuellen Altlinken mit Heimweh nach Europa, aber er versinkt auch immer tiefer in "hierarchielos mäandernden Verästelungsroutinen" und weitschweifiger Nabelschau. Ja, auch er hat als Kind gern Cowboy und Indianer gespielt und sieht jetzt das freie Schweifen der Phantasie bedroht durch Blackfacing-Verbote, ökologische Vernunft, betreutes Denken, Mansplaining- und Me-Too-Verdacht. So arbeitet sich Cailloux klagend, höhnend und schlau "herumsoziologisierend" immer näher heran an das unumgängliche Treffen mit seinem Sohn. Nach so viel Reisefeuilletons, Erinnerungen und Betrachtungen über Kinderkriegen und Vaterschaft damals und heute geht am Ende alles überraschend kurz und schmerzlos über die Bühne.
Was Vater und Sohn dabei bereden, bleibt offen und spielt letztlich auch keine Rolle mehr. Cailloux kann gut und gern über den Anteil Amerikas an der Menschwerdung und subkulturellen Sozialisation eines deutschen Flüchtlings- und Scheidungskinds plaudern. Aber das Geheimnis der Vaterschaft entzieht sich den Begriffen und Gefühlen eines zahnlosen alten Flaneurs.
MARTIN HALTER
Bernd Cailloux:
"Der amerikanische Sohn". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Martin Halter folgt Bernd Cailloux auf der Suche nach seinem verlorenen Sohn. Dass die Vater-Sohn-Story eigentlich nebensächlich ist, und der Autor nur gern mal statt am Berliner Tresen in New York Nabelschau betreiben, übers Ende des Hedonismus, das Altern und schwindendes Selbstbewusstsein soziologisieren möchte, geht Halter irgendwann auch auf. Nicht schlimm, findet er. Nur wer ein Roadmovie wie von Wenders erwartet, wird enttäuscht sein, warnt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Autor Bernd Cailloux schafft es, in einer Sprache, die frei von Wehmut und Pathos ist, auf der Suche nach seinem Sohn sich selbst auf die Spur zu kommen.« stern 20200702