»Es gehört zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, mit erstaunlicher Hartnäckigkeit immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind.«
Welche Rolle spielt die Organisation von Arbeitsverhältnissen für die Bestandssicherung eines demokratischen Gemeinwesens? Das ist die Frage, der Axel Honneth in seiner neuen großen Monographie nachgeht, deren Schlüsselbegriffe »gesellschaftliche Arbeit« und »soziale Arbeitsteilung« sind. Seine zentrale These lautet, dass die Teilnahme an der demokratischen Willensbildung an die Voraussetzung einer transparent und fair geregelten Arbeitsteilung gebunden ist.
Honneth begründet zunächst, warum es gerechtfertigt ist, die Arbeitsverhältnisse auf ihre Demokratieverträglichkeit hin zu prüfen. Dann zeichnet er die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seit dem Beginn des Kapitalismus im 19. Jahrhundert nach. Fluchtpunkt dieses mit eindrücklichen literarischen Zeugnissen illustrierten historischen Streifzugs, der unter anderem in die Welt der Landarbeiter, der - zumeist weiblichen - Dienstboten und der ersten Industriearbeiter führt, ist die Vermutung, dass die heutigen Arbeitsverhältnisse zunehmend die Chancen zur aktiven Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung untergraben. Daher wird im letzten Teil des Buches umrissen, an welchen Scharnierstellen eine Politik der Arbeit heute anzusetzen hätte, um den sich abzeichnenden Missständen entgegenzuwirken und zu einer dringend benötigten Neubelebung demokratischer Partizipation beizutragen.
Welche Rolle spielt die Organisation von Arbeitsverhältnissen für die Bestandssicherung eines demokratischen Gemeinwesens? Das ist die Frage, der Axel Honneth in seiner neuen großen Monographie nachgeht, deren Schlüsselbegriffe »gesellschaftliche Arbeit« und »soziale Arbeitsteilung« sind. Seine zentrale These lautet, dass die Teilnahme an der demokratischen Willensbildung an die Voraussetzung einer transparent und fair geregelten Arbeitsteilung gebunden ist.
Honneth begründet zunächst, warum es gerechtfertigt ist, die Arbeitsverhältnisse auf ihre Demokratieverträglichkeit hin zu prüfen. Dann zeichnet er die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seit dem Beginn des Kapitalismus im 19. Jahrhundert nach. Fluchtpunkt dieses mit eindrücklichen literarischen Zeugnissen illustrierten historischen Streifzugs, der unter anderem in die Welt der Landarbeiter, der - zumeist weiblichen - Dienstboten und der ersten Industriearbeiter führt, ist die Vermutung, dass die heutigen Arbeitsverhältnisse zunehmend die Chancen zur aktiven Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung untergraben. Daher wird im letzten Teil des Buches umrissen, an welchen Scharnierstellen eine Politik der Arbeit heute anzusetzen hätte, um den sich abzeichnenden Missständen entgegenzuwirken und zu einer dringend benötigten Neubelebung demokratischer Partizipation beizutragen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Gerald Wagner kann Axel Honneths Sicht auf die arbeitende Klasse nicht goutieren. Dass der Autor heutige Arbeitsverhältnisse so darstellt, als "schufteten" die Menschen "wie bei Engels", kann er selbst einem Philosophen nur schwer durchgehen lassen. Honneth braucht die Fallhöhe, meint Wagner, um seinem Ruf nach Verbesserung der Verhältnisse mehr Gewicht zu geben. Laut Wagner kehrt er dabei allerdings Betriebsräte und Sozialwahlen unzulässigerweise unter den Tisch kehrt. Honneths Versuch, aus seinen Prämissen den vermeintlichen Verfall der demokratischen Rechte der Beschäftigten abzuleiten, findet Wagner daher nicht allzu überzeugend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.05.2023Der Souverän wird entmündigt
Entschieden überfordert: Für Axel Honneth untergraben heutige Arbeitsverhältnisse die Chancen auf Teilnahme an den Prozessen demokratischer Willensbildung
Bei der Bundestagswahl 1972 markierte die Wahlbeteiligung von 91 Prozent einen nie wieder erreichten Höhepunkt. Rund 45 Prozent der Erwerbstätigen arbeiteten in der Industrie, die wöchentliche Arbeitszeit betrug 43 Stunden. Heute sind etwa noch 23 Prozent der Beschäftigten in der Industrie tätig, während rund 75 Prozent in Dienstleistungsberufen arbeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt im Regelfall etwa 38 Stunden, aufgrund der häufigen Teilzeitarbeit liegt sie heute aber nur noch bei durchschnittlich 35 Stunden. Die Wahlbeteiligung lag zuletzt bei etwa 76 Prozent im Bund, bei den Europawahlen lange Zeit unter fünfzig Prozent. Man könnte auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den großen Volksparteien nehmen, um zum Ergebnis zu kommen: Das Interesse an der aktiven Teilnahme bei der politischen Willensbildung ist gering und sinkt weiter.
Was auch immer die Gründe dafür sein mögen: Zumindest haben die Arbeitsbedingungen in der vor fünfzig Jahren noch dominierenden deutschen Industrie deren Arbeiter nicht davon abgehalten, sich politisch durch Zeitungslektüre zu informieren, unter der Woche auch noch ehrenamtlich für ihre Partei zu arbeiten und am Sonntag schließlich ihre Stimme mehrheitlich Willy Brandt zu geben. Und wie auch immer der deutsche Souverän in Gestalt des Volkes sich 1972 von seiner heutigen Gestalt auch unterschied, er war in den Siebzigerjahren jedenfalls deutlich mehr als heute ein hart arbeitender Souverän. Oder wollte man ernsthaft behaupten, die typischen Arbeitsbedingungen der heutigen Dienstleistungsgesellschaft hätten sich in den vergangenen fünfzig Jahren in einer Weise verändert, die es für die Beschäftigten schwieriger macht, von ihren Rechten als demokratischer Souverän Gebrauch zu machen?
Axel Honneth möchte das. In seinem neuen Buch unternimmt er den Versuch, die heutigen Arbeitsverhältnisse auf ihre "Demokratieverträglichkeit" zu prüfen. Sein ausholender Streifzug beginnt selbstverständlich bei Marx, aber man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass er nicht nur normativ, sondern auch empirisch dort dann auch wieder endet. Honneths "Fluchtpunkt" jedenfalls ist die "Vermutung", dass die heutigen Arbeitsverhältnisse zunehmend die Chancen zur aktiven Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung untergraben.
Gewiss - hinter dieser Vermutung steckt die Sorge eines Philosophieprofessors um den Zustand unserer Arbeitswelt und daraus abgeleitet der Demokratie. Aber es grenzt schon an Arbeiterbeschimpfung, wie Honneth dafür die meisten Beschäftigten in der deutschen Wirtschaft hinstellt. "Tagtäglich" und "über viele Stunden hinweg" gingen die meisten einer bezahlten oder auch unbezahlten Arbeit mit fortschreitender "Mechanisierung und Isolierung" sowie "hochgradig vereinseitigten und auszehrenden" Tätigkeiten nach, die es ihnen aufgrund der damit verbundenen "Unterordnung, Unterwürfigkeit und Überforderung" nahezu unmöglich mache, sich in die Rolle einer autonomen Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung "auch nur hineinzuversetzen".
Diese Unterstellung einer berufsbedingten Unreife der arbeitenden Bevölkerung zur Politik ist so wohlmeinend wie herablassend. Die Mühe, seinen düsteren Streifzug durch die Arbeitswelt anhand aktueller Forschungen zu begründen, macht sich Honneth nur ansatzweise. Wobei seine Herangehensweise darin besteht, aus der Forschung das herauszupicken, was seinen Ausgangspunkt nicht anficht. Zugestanden: Wenn die Arbeit zu zermürbend wäre, um sich Gedanken über Politik zu machen, dann wäre das tatsächlich ein Mangel. Doch bei Honneth ist das ein "absoluter Mangel", dessen Existenz für ihn zweifelsfrei feststeht.
Honneth ist Philosoph. Das ertüchtigt ihn, hinter der sichtbaren Oberfläche der Verhältnisse das "Eigentliche" und die wahre "Substanz" der Verhältnisse zu erkennen. Gewiss, bemerkt er anerkennend, die Reallöhne seien gestiegen, die Arbeitszeiten gesunken und der sozialrechtliche Status der Lohnabhängigen habe sich verbessert. Aber: Die "eigentliche Substanz" der Arbeitserfahrung sei doch "überwiegend dieselbe", die Arbeit eine "Gegenwelt zur politischen Demokratie" geblieben. Also ein Ort, an dem "systematisch jene Fähigkeiten und Vermögen verlernt" würden, die draußen in der Demokratie eigentlich normativ gefordert seien.
Und was ist mit den Betriebsratswahlen? Den Personalräten, den Sozialwahlen oder den Wahlen zu den Frauenbeauftragten? Alles wohl ohne "Substanz".
Es ist Axel Honneth zugutezuhalten, dass er die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit auf die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse lenken möchte - und damit weg von den dominierenden Kämpfen der Identitätspolitik. Er bräuchte diese Verhältnisse aber nicht so darzustellen, als schufteten die meisten noch so wie bei Engels die arbeitenden Klassen in England. Er entmündigt den Souverän damit in seiner Theorie mehr, als es die herrschenden Verhältnisse in der Wirtschaft je könnten. Honneth will in seiner Theorie Wirtschaft und Demokratie wieder zusammendenken. Sein Buch wirft aber die Frage auf, wie man Philosophie und empirische Sozialforschung zusammendenken sollte. Der eigene normative Ausgangspunkt als Sozialphilosoph sollte nicht dazu führen, dass man zu viel Empirie einfach ignoriert. Leider ist das Buch in großen Teilen von diesem Verfahren geprägt. GERALD WAGNER
Axel Honneth: "Der
arbeitende Souverän".
Eine normative Theorie der Arbeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 350 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Entschieden überfordert: Für Axel Honneth untergraben heutige Arbeitsverhältnisse die Chancen auf Teilnahme an den Prozessen demokratischer Willensbildung
Bei der Bundestagswahl 1972 markierte die Wahlbeteiligung von 91 Prozent einen nie wieder erreichten Höhepunkt. Rund 45 Prozent der Erwerbstätigen arbeiteten in der Industrie, die wöchentliche Arbeitszeit betrug 43 Stunden. Heute sind etwa noch 23 Prozent der Beschäftigten in der Industrie tätig, während rund 75 Prozent in Dienstleistungsberufen arbeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit beträgt im Regelfall etwa 38 Stunden, aufgrund der häufigen Teilzeitarbeit liegt sie heute aber nur noch bei durchschnittlich 35 Stunden. Die Wahlbeteiligung lag zuletzt bei etwa 76 Prozent im Bund, bei den Europawahlen lange Zeit unter fünfzig Prozent. Man könnte auch die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den großen Volksparteien nehmen, um zum Ergebnis zu kommen: Das Interesse an der aktiven Teilnahme bei der politischen Willensbildung ist gering und sinkt weiter.
Was auch immer die Gründe dafür sein mögen: Zumindest haben die Arbeitsbedingungen in der vor fünfzig Jahren noch dominierenden deutschen Industrie deren Arbeiter nicht davon abgehalten, sich politisch durch Zeitungslektüre zu informieren, unter der Woche auch noch ehrenamtlich für ihre Partei zu arbeiten und am Sonntag schließlich ihre Stimme mehrheitlich Willy Brandt zu geben. Und wie auch immer der deutsche Souverän in Gestalt des Volkes sich 1972 von seiner heutigen Gestalt auch unterschied, er war in den Siebzigerjahren jedenfalls deutlich mehr als heute ein hart arbeitender Souverän. Oder wollte man ernsthaft behaupten, die typischen Arbeitsbedingungen der heutigen Dienstleistungsgesellschaft hätten sich in den vergangenen fünfzig Jahren in einer Weise verändert, die es für die Beschäftigten schwieriger macht, von ihren Rechten als demokratischer Souverän Gebrauch zu machen?
Axel Honneth möchte das. In seinem neuen Buch unternimmt er den Versuch, die heutigen Arbeitsverhältnisse auf ihre "Demokratieverträglichkeit" zu prüfen. Sein ausholender Streifzug beginnt selbstverständlich bei Marx, aber man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass er nicht nur normativ, sondern auch empirisch dort dann auch wieder endet. Honneths "Fluchtpunkt" jedenfalls ist die "Vermutung", dass die heutigen Arbeitsverhältnisse zunehmend die Chancen zur aktiven Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung untergraben.
Gewiss - hinter dieser Vermutung steckt die Sorge eines Philosophieprofessors um den Zustand unserer Arbeitswelt und daraus abgeleitet der Demokratie. Aber es grenzt schon an Arbeiterbeschimpfung, wie Honneth dafür die meisten Beschäftigten in der deutschen Wirtschaft hinstellt. "Tagtäglich" und "über viele Stunden hinweg" gingen die meisten einer bezahlten oder auch unbezahlten Arbeit mit fortschreitender "Mechanisierung und Isolierung" sowie "hochgradig vereinseitigten und auszehrenden" Tätigkeiten nach, die es ihnen aufgrund der damit verbundenen "Unterordnung, Unterwürfigkeit und Überforderung" nahezu unmöglich mache, sich in die Rolle einer autonomen Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung "auch nur hineinzuversetzen".
Diese Unterstellung einer berufsbedingten Unreife der arbeitenden Bevölkerung zur Politik ist so wohlmeinend wie herablassend. Die Mühe, seinen düsteren Streifzug durch die Arbeitswelt anhand aktueller Forschungen zu begründen, macht sich Honneth nur ansatzweise. Wobei seine Herangehensweise darin besteht, aus der Forschung das herauszupicken, was seinen Ausgangspunkt nicht anficht. Zugestanden: Wenn die Arbeit zu zermürbend wäre, um sich Gedanken über Politik zu machen, dann wäre das tatsächlich ein Mangel. Doch bei Honneth ist das ein "absoluter Mangel", dessen Existenz für ihn zweifelsfrei feststeht.
Honneth ist Philosoph. Das ertüchtigt ihn, hinter der sichtbaren Oberfläche der Verhältnisse das "Eigentliche" und die wahre "Substanz" der Verhältnisse zu erkennen. Gewiss, bemerkt er anerkennend, die Reallöhne seien gestiegen, die Arbeitszeiten gesunken und der sozialrechtliche Status der Lohnabhängigen habe sich verbessert. Aber: Die "eigentliche Substanz" der Arbeitserfahrung sei doch "überwiegend dieselbe", die Arbeit eine "Gegenwelt zur politischen Demokratie" geblieben. Also ein Ort, an dem "systematisch jene Fähigkeiten und Vermögen verlernt" würden, die draußen in der Demokratie eigentlich normativ gefordert seien.
Und was ist mit den Betriebsratswahlen? Den Personalräten, den Sozialwahlen oder den Wahlen zu den Frauenbeauftragten? Alles wohl ohne "Substanz".
Es ist Axel Honneth zugutezuhalten, dass er die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit auf die Verbesserung der Arbeitsverhältnisse lenken möchte - und damit weg von den dominierenden Kämpfen der Identitätspolitik. Er bräuchte diese Verhältnisse aber nicht so darzustellen, als schufteten die meisten noch so wie bei Engels die arbeitenden Klassen in England. Er entmündigt den Souverän damit in seiner Theorie mehr, als es die herrschenden Verhältnisse in der Wirtschaft je könnten. Honneth will in seiner Theorie Wirtschaft und Demokratie wieder zusammendenken. Sein Buch wirft aber die Frage auf, wie man Philosophie und empirische Sozialforschung zusammendenken sollte. Der eigene normative Ausgangspunkt als Sozialphilosoph sollte nicht dazu führen, dass man zu viel Empirie einfach ignoriert. Leider ist das Buch in großen Teilen von diesem Verfahren geprägt. GERALD WAGNER
Axel Honneth: "Der
arbeitende Souverän".
Eine normative Theorie der Arbeit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 350 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Axel Honneths Buch ... bietet beste Grundlagen für einen beherzten Streit über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft.« Claus Leggewie taz am wochenende 20230407