Goethe der Naturforscher – die große Biographie Einfühlsam und mit großer Erzählkunst zeichnet Stefan Bollmann ein überraschend neues Bild des Dichterfürsten und entdeckt den Naturforscher und Naturschriftsteller Goethe. Eine glänzend geschriebene Biographie, in deren Zentrum seine lebenslange Naturerfahrung und ihre hohe Aktualität für unsere Zeit stehen. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) war nicht nur als Dichter und Schriftsteller ein Kristallisationspunkt seiner Zeit. Sein umfangreiches literarisches Werk bezeugt eine eingehende Beschäftigung mit Naturforschung und sein Leben ist von einem ununterbrochenen, intensiven Erleben der Natur in allen Erscheinungen tief geprägt und geformt. Souverän erschließt Stefan Bollmann in dieser Biographie dieses lange Zeit vernachlässigte Naturverständnis und vermittelt uns ein überraschend neues Goethebild. Auf einer spannenden Entdeckungsreise durch Goethes Landschaften, seine Texte und Gedanken begleiten wir ihn in Italien, in der Schweiz, beobachten ihn bei seinen Forschungen in Thüringen und im Harz. Wir nehmen teil an seinen geologischen, anatomischen, botanischen und optischen Untersuchungen, werden Zeuge seiner Freundschaft mit Alexander von Humboldt – und verstehen unsere eigene tiefe Sehnsucht nach der Natur neu. Goethe kann uns lehren, unsere Stellung in der Natur neu zu verorten. Eine große Geschichte der Naturwahrnehmung und zugleich ein hochaktuelles Buch, das zeigt, wie Goethes sinnlich anschauliche Erfahrung der Natur auch heute noch Grundlage unserer Humanität und Lebendigkeit sein kann.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Marc Reichwein trifft in Stefan Bollmanns Goethe-Buch vor allem auf pfiffige Zitate. Dass die Philologie den Band geflissentlich übersehen wird, ahnt Reichwein schon. Für ihn aber taugt das Buch trotz fehlender Kurzschließung von geognostischem und literarischem Goethe allemal zur lehrreichen Unterhaltung. Goethe als Naturflüsterer und Sklave naturkundlicher Leidenschaften? Aber gern, findet Reichwein, auch wenn der Autor mit seiner These, Goethe habe in Italien statt Kunst und Ruinen vor allem Blumenkübel und Taschenkrebse besichtigt, schon recht steil ansetzt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2021Emsig und ernstlich
Stefan Bollmanns hat ein kapitales Buch über die Naturforschungen Goethes geschrieben.
Wollte der größte deutsche Dichter vor allem als Naturwissenschaftler anerkannt werden?
VON THOMAS STEINFELD
Am Ende eines langen Lebens hatte Johann Wolfgang Goethe beinahe resigniert. „Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich, im Vaterlande und auch wohl auswärts, als Dichter und lässt mich allenfalls für einen solchen gelten“, schrieb er im Jahr 1817. „Dass ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und ihren organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig und leidenschaftlich im Stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein bekannt noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht worden.“
Etliche solcher Äußerungen sind überliefert, vor allem aus den späten Jahren. Sie gelten der Physiologie und Physik der Farben, an denen er mehr als 40 Jahre gearbeitet hatte, aber auch seinen sonstigen Forschungen zur Natur: der Geologie und der Biologie, der Anatomie, der Meteorologie und etlichen anderen Gebieten der Wissenschaft. Zusammen bilden sie, neben der Literatur und den amtlichen Schriften, den dritten Teil des Lebenswerks. Es ist nicht der geringste, und ihm galt der Stolz ihres Autors, mehr noch als der Dichtung. Anerkennung aber fanden diese Schriften kaum. Manchmal stieß Goethe auf Sympathisanten. Sie blieben Ausnahmen, und noch seltener sah sich Goethe als der Pionier gewürdigt, als der er sich selbst wohl verstand.
Einen unbekannten Goethe wollten schon viele Biographen finden. In jüngerer Zeit häuften sich gar die Lebensgeschichten, die einen bislang verborgenen und endlich offenbarten Geisteshelden versprachen: Wie hielt er es mit den Frauen, insbesondere mit Charlotte von Stein und Christiane Vulpius? War er für ein Todesurteil verantwortlich? Welche Schuld trug er am Unglück seines Sohnes? Diente er als Spion gegen die Freimaurer? Die Biographien wurden um so zahlreicher, wie die Beschäftigung mit den vermeintlich verborgenen Seiten des Dichters zunehmend an die Stelle der Lektüre des Œuvres trat.
Anders verhält es sich nun mit einem kapitalen Werk, das den Naturforscher Goethe einem größeren Publikum vorstellt: Vor allem die elf Bände der „Schriften zur Naturwissenschaft“, die zwischen den Jahren 1947 und 2011 von der Leopoldina, der Deutschen Akademie der Naturforscher, veröffentlicht wurden (es kommen 18 Bände mit Kommentaren hinzu), sind die Grundlage eines Buches, das der Münchner Lektor und Publizist Stefan Bollmann dem „Atem der Welt“ widmet. Darunter versteht er „Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur“. Doch ist der Titel irreführend, glücklicherweise. Denn weit mehr als um eine programmatisch aufgefasste „Erfahrung“, also die Verehrung eines Unmittelbaren, geht es in diesem chronologisch aufgebauten Werk um die Naturforschungen Goethes, von der Naturaliensammlung im elterlichen Haus bis zu den Beobachtungen an Wolken, die Goethe in der Zeit vor seinem Tod betrieb.
Für den aktuellen Zweck komprimiert und in kurzen Abschnitten fasslich aufbereitet, entsteht aus diesem Stoff ein lebendiges Bild einer Forschung, die noch Dilettantismus sein darf und noch nicht Wissenschaft sein muss, jedenfalls im Hinblick auf akademische Routinen und Verkehrsformen. Sie kann sich der Neugier überlassen, wobei zu diesem Antrieb auch bald die Erfüllung wissenschaftlicher Standards gehört, etwa im Aufbau von Experimenten.
Was bei Goethe dabei herauskommt, ist nicht wenig, angefangen bei den Erkundungen der aufgegebenen Bergwerke in Ilmenau und dem Plan zu einem „Roman des Weltalls“, über seine Studien zur Anatomie eines Elefantenschädels oder zur Kultivierung der Puffbohne bis hin zur Beschäftigung mit farbigen Schatten, mit der Photosynthese oder mit Meteorologie. „Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Deutschlands größter Dichter Naturwissenschaftler war“, schreibt Stefan Bollmann, „nicht auch und nicht zufällig, sondern aus innerem Antrieb und aus Überzeugung.“ Ob „man“ so etwas tun wird, sei dahingestellt. In der Sache aber hat Stefan Bollmann recht.
Er rekapituliert diese Geschichte mit Umsicht, Sorgfalt und Eleganz. Angesichts des Umfangs der Bestände, ihrer Komplexität und ihrer Verschiedenartigkeit stellen seine Ausführungen eine außerordentliche Leistung dar, zumal es ihm gelingt, auch entschieden Fachliches in einen fasslichen Zusammenhang zu bringen. Er erwähnt auch, wie sehr Goethe sich um die Wahrnehmung der Kollegen bemühte, wie geschickt ihm manche Gefährten vom Fach, beispielsweise Georg Christoph Lichtenberg, ihre Zweifel mitteilten, oder wie viel ihm die Gespräche etwa mit Alexander von Humboldt bedeuteten. Stefan Bollmann erklärt jedoch nicht, worauf sich Distanz oder Ablehnung gründeten. Um das übliche Gerangel zwischen Gelehrten kann es sich jedenfalls nicht gehandelt haben, dazu ist der Widerstand zu systematisch. Und er macht sich wenig Gedanken darüber, wie es kommt, dass Goethe, sonst in jeder Beziehung ein Mann des Ausgleichs, gegenüber Isaac Newton, seinem selbstgeschaffenen Widersacher in Fragen der Optik und der Farben, zu Formen der Auseinandersetzung übergeht, die den auch zu jener Zeit üblichen Anstand zwischen Kollegen weit hinter sich lassen.
Fast 60 Jahre liegen zwischen Goethes ersten Naturforschungen und seinen letzten Entwürfen zu einer Witterungslehre. Seine ältesten Arbeiten gehören noch in die „Naturgeschichte“, wie man damals eine von wenigen Laien betriebene Wissenschaft nannte, welcher der Glaube an eine göttliche Ordnung oder die „Kette der Wesen“ zugrunde lag. Ihr widmete man sich durch „Beobachtung“. Als Goethe im Jahr 1832 starb, hatten sich die naturwissenschaftlichen Disziplinen herausgebildet, und das Experiment war allgemein das Mittel zur Erkenntnis geworden. Doch stellt dieser Wandel, anders als Stefan Bollmann meint, nicht nur einen Fortschritt dar.
So zielen die Naturwissenschaften auf das „Gesetz“, auf die möglichst einfache Regel, die einer Vielheit von Erscheinungen zugrunde liegen soll, während die Naturgeschichte ihren Frieden mit dem Vielen machen kann. Wer oder was aber hat verfügt, dass die Wahrheit unbedingt einfach sein muss? In dieser Hinsicht gibt Goethe, etwa in der „Farbenlehre“, die Bindung an die Naturgeschichte nie auf, was nicht nur den Gegensatz zu Newton zumindest zum Teil erklärt, sondern auch dafür sorgt, dass die „Farbenlehre“, entgegen allen Vorurteilen, immer noch Aktualität besitzt – nachzulesen etwa in den Publikationen des Berliner Philosophen Olaf L. Müller, des Wuppertaler Physikers Johannes Grebe-Ellis oder der Forschungsgemeinschaft um den schwedischen Physiker Pehr Sällström.
Diese Literatur aber kommt bei Bollmann nicht vor, wie er auch jüngere Erkenntnisse in der Literaturwissenschaft (Joseph Vogl) oder in der Philosophie (Eckart Förster) ausspart. Statt dessen heißt es knapp, Goethe habe „den Prozess, den er in seiner Farbenlehre gegen Newton und die Folgen anstrengt, verloren“.
Eine „große Biographie“ nennt der Verlag Stefan Bollmanns Buch, aber die Bezeichnung des Genres trifft das Unternehmen ebenso wenig wie das Bild auf dem Cover, für das Tischbeins berühmtes Gemälde „Goethe in der Campagna“ in eine Schnulze verwandelt wurde. Die bekanntesten literarischen Werke kommen zwar vor, zumeist dann, wenn sich die Interessen des Naturforschers darin spiegeln. Auch von den frühen Liebesgeschichten ist ausführlich die Rede. Eine echte Auseinandersetzung mit den dichterischen Arbeiten unterbleibt aber selbst dort, wo die Naturforschung, wie in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ oder in den „Wahlverwandtschaften“, unmittelbar Gegenstand der Literatur wird, in Inhalt und Form.
Es bleibt kein Zweifel, dass Bollmanns Prioritäten woanders liegen, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches, und auch die keineswegs einfache Geschichte des Hofbeamten Goethe und des Staates Sachsen-Weimar wird allenfalls am Rande behandelt. Hieße das Buch „Goethe – Biographie eines Naturforschers“, würde man über solche Schwächen hinweggehen. Der Verlag erhebt aber einen anderen Anspruch. Hinzu kommt, dass Bollmann dem Auseinander von Goethes Naturforschung und den entstehenden Naturwissenschaften die gedankliche Schärfe nimmt, indem er Goethes Arbeiten einer dezidiert modernen, gegenwärtigen Moral des Umgangs mit der Natur unterwirft. Am Ende soll Goethe gewinnen, wider das Spezialistentum, als Vertreter von Ganzheitlichkeit, Ökologie und Sinnlichkeit.
Ein solches Programm ist nicht ohne ein gewisses Maß an Geschichts- und Geistfeindlichkeit zu erfüllen: „Darin liegt eine weitere Aktualität Goethes: dass er die Erforschung der Natur an ihre konkrete Erfahrung bindet, und zwar nicht unter Laborbedingungen, sondern an der frischen Luft.“ Überhaupt biedert der Autor seinen Helden und sich selbst immer wieder den Lesern an, um den Preis einer irreführenden Aktualisierung. Der junge Goethe muss „Waldbäder“ nehmen, um „die seelischen Wunden seiner unglücklichen Liebe ausheilen zu lassen“, während die Helena des „Faust“ zur „Marilyn Monroe der Antike“ erklärt und der alte Goethe zum eigentlichen Erfinder der „Gaia-Theorie“ wird. Bei diesem Dichter und Naturforscher sei sie entstanden, versichert sein Biograph, die „Erfahrung und Wissenschaft vereinende Sicht auf unseren Heimatplaneten als großes, lebendiges Wesen“. Welche Genugtuung für Goethe nachträglich darin liegen muss, „uns“ so gedient zu haben.
Er widmete sich der Anatomie
eines Elefantenschädels oder der
Kultivierung der Puffbohne
Am Ende soll Goethe gewinnen,
wider das Spezialistentum,
als Vertreter von Ganzheitlichkeit
„Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich (...) als Dichter und lässt mich allenfalls für einen solchen gelten.“ – Zeitgenössischer Stich mit Goethe (r.) und dem damals berühmtesten Naturforscher der Welt, Alexander von Humboldt (2.v.r). Links sitzt Schiller, daneben Alexanders Bruder Wilhelm.
Foto: dpa
Stefan Bollmann: Der Atem der Welt
– Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur. Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2021.
650 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Stefan Bollmanns hat ein kapitales Buch über die Naturforschungen Goethes geschrieben.
Wollte der größte deutsche Dichter vor allem als Naturwissenschaftler anerkannt werden?
VON THOMAS STEINFELD
Am Ende eines langen Lebens hatte Johann Wolfgang Goethe beinahe resigniert. „Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich, im Vaterlande und auch wohl auswärts, als Dichter und lässt mich allenfalls für einen solchen gelten“, schrieb er im Jahr 1817. „Dass ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und ihren organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig und leidenschaftlich im Stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein bekannt noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht worden.“
Etliche solcher Äußerungen sind überliefert, vor allem aus den späten Jahren. Sie gelten der Physiologie und Physik der Farben, an denen er mehr als 40 Jahre gearbeitet hatte, aber auch seinen sonstigen Forschungen zur Natur: der Geologie und der Biologie, der Anatomie, der Meteorologie und etlichen anderen Gebieten der Wissenschaft. Zusammen bilden sie, neben der Literatur und den amtlichen Schriften, den dritten Teil des Lebenswerks. Es ist nicht der geringste, und ihm galt der Stolz ihres Autors, mehr noch als der Dichtung. Anerkennung aber fanden diese Schriften kaum. Manchmal stieß Goethe auf Sympathisanten. Sie blieben Ausnahmen, und noch seltener sah sich Goethe als der Pionier gewürdigt, als der er sich selbst wohl verstand.
Einen unbekannten Goethe wollten schon viele Biographen finden. In jüngerer Zeit häuften sich gar die Lebensgeschichten, die einen bislang verborgenen und endlich offenbarten Geisteshelden versprachen: Wie hielt er es mit den Frauen, insbesondere mit Charlotte von Stein und Christiane Vulpius? War er für ein Todesurteil verantwortlich? Welche Schuld trug er am Unglück seines Sohnes? Diente er als Spion gegen die Freimaurer? Die Biographien wurden um so zahlreicher, wie die Beschäftigung mit den vermeintlich verborgenen Seiten des Dichters zunehmend an die Stelle der Lektüre des Œuvres trat.
Anders verhält es sich nun mit einem kapitalen Werk, das den Naturforscher Goethe einem größeren Publikum vorstellt: Vor allem die elf Bände der „Schriften zur Naturwissenschaft“, die zwischen den Jahren 1947 und 2011 von der Leopoldina, der Deutschen Akademie der Naturforscher, veröffentlicht wurden (es kommen 18 Bände mit Kommentaren hinzu), sind die Grundlage eines Buches, das der Münchner Lektor und Publizist Stefan Bollmann dem „Atem der Welt“ widmet. Darunter versteht er „Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur“. Doch ist der Titel irreführend, glücklicherweise. Denn weit mehr als um eine programmatisch aufgefasste „Erfahrung“, also die Verehrung eines Unmittelbaren, geht es in diesem chronologisch aufgebauten Werk um die Naturforschungen Goethes, von der Naturaliensammlung im elterlichen Haus bis zu den Beobachtungen an Wolken, die Goethe in der Zeit vor seinem Tod betrieb.
Für den aktuellen Zweck komprimiert und in kurzen Abschnitten fasslich aufbereitet, entsteht aus diesem Stoff ein lebendiges Bild einer Forschung, die noch Dilettantismus sein darf und noch nicht Wissenschaft sein muss, jedenfalls im Hinblick auf akademische Routinen und Verkehrsformen. Sie kann sich der Neugier überlassen, wobei zu diesem Antrieb auch bald die Erfüllung wissenschaftlicher Standards gehört, etwa im Aufbau von Experimenten.
Was bei Goethe dabei herauskommt, ist nicht wenig, angefangen bei den Erkundungen der aufgegebenen Bergwerke in Ilmenau und dem Plan zu einem „Roman des Weltalls“, über seine Studien zur Anatomie eines Elefantenschädels oder zur Kultivierung der Puffbohne bis hin zur Beschäftigung mit farbigen Schatten, mit der Photosynthese oder mit Meteorologie. „Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Deutschlands größter Dichter Naturwissenschaftler war“, schreibt Stefan Bollmann, „nicht auch und nicht zufällig, sondern aus innerem Antrieb und aus Überzeugung.“ Ob „man“ so etwas tun wird, sei dahingestellt. In der Sache aber hat Stefan Bollmann recht.
Er rekapituliert diese Geschichte mit Umsicht, Sorgfalt und Eleganz. Angesichts des Umfangs der Bestände, ihrer Komplexität und ihrer Verschiedenartigkeit stellen seine Ausführungen eine außerordentliche Leistung dar, zumal es ihm gelingt, auch entschieden Fachliches in einen fasslichen Zusammenhang zu bringen. Er erwähnt auch, wie sehr Goethe sich um die Wahrnehmung der Kollegen bemühte, wie geschickt ihm manche Gefährten vom Fach, beispielsweise Georg Christoph Lichtenberg, ihre Zweifel mitteilten, oder wie viel ihm die Gespräche etwa mit Alexander von Humboldt bedeuteten. Stefan Bollmann erklärt jedoch nicht, worauf sich Distanz oder Ablehnung gründeten. Um das übliche Gerangel zwischen Gelehrten kann es sich jedenfalls nicht gehandelt haben, dazu ist der Widerstand zu systematisch. Und er macht sich wenig Gedanken darüber, wie es kommt, dass Goethe, sonst in jeder Beziehung ein Mann des Ausgleichs, gegenüber Isaac Newton, seinem selbstgeschaffenen Widersacher in Fragen der Optik und der Farben, zu Formen der Auseinandersetzung übergeht, die den auch zu jener Zeit üblichen Anstand zwischen Kollegen weit hinter sich lassen.
Fast 60 Jahre liegen zwischen Goethes ersten Naturforschungen und seinen letzten Entwürfen zu einer Witterungslehre. Seine ältesten Arbeiten gehören noch in die „Naturgeschichte“, wie man damals eine von wenigen Laien betriebene Wissenschaft nannte, welcher der Glaube an eine göttliche Ordnung oder die „Kette der Wesen“ zugrunde lag. Ihr widmete man sich durch „Beobachtung“. Als Goethe im Jahr 1832 starb, hatten sich die naturwissenschaftlichen Disziplinen herausgebildet, und das Experiment war allgemein das Mittel zur Erkenntnis geworden. Doch stellt dieser Wandel, anders als Stefan Bollmann meint, nicht nur einen Fortschritt dar.
So zielen die Naturwissenschaften auf das „Gesetz“, auf die möglichst einfache Regel, die einer Vielheit von Erscheinungen zugrunde liegen soll, während die Naturgeschichte ihren Frieden mit dem Vielen machen kann. Wer oder was aber hat verfügt, dass die Wahrheit unbedingt einfach sein muss? In dieser Hinsicht gibt Goethe, etwa in der „Farbenlehre“, die Bindung an die Naturgeschichte nie auf, was nicht nur den Gegensatz zu Newton zumindest zum Teil erklärt, sondern auch dafür sorgt, dass die „Farbenlehre“, entgegen allen Vorurteilen, immer noch Aktualität besitzt – nachzulesen etwa in den Publikationen des Berliner Philosophen Olaf L. Müller, des Wuppertaler Physikers Johannes Grebe-Ellis oder der Forschungsgemeinschaft um den schwedischen Physiker Pehr Sällström.
Diese Literatur aber kommt bei Bollmann nicht vor, wie er auch jüngere Erkenntnisse in der Literaturwissenschaft (Joseph Vogl) oder in der Philosophie (Eckart Förster) ausspart. Statt dessen heißt es knapp, Goethe habe „den Prozess, den er in seiner Farbenlehre gegen Newton und die Folgen anstrengt, verloren“.
Eine „große Biographie“ nennt der Verlag Stefan Bollmanns Buch, aber die Bezeichnung des Genres trifft das Unternehmen ebenso wenig wie das Bild auf dem Cover, für das Tischbeins berühmtes Gemälde „Goethe in der Campagna“ in eine Schnulze verwandelt wurde. Die bekanntesten literarischen Werke kommen zwar vor, zumeist dann, wenn sich die Interessen des Naturforschers darin spiegeln. Auch von den frühen Liebesgeschichten ist ausführlich die Rede. Eine echte Auseinandersetzung mit den dichterischen Arbeiten unterbleibt aber selbst dort, wo die Naturforschung, wie in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ oder in den „Wahlverwandtschaften“, unmittelbar Gegenstand der Literatur wird, in Inhalt und Form.
Es bleibt kein Zweifel, dass Bollmanns Prioritäten woanders liegen, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches, und auch die keineswegs einfache Geschichte des Hofbeamten Goethe und des Staates Sachsen-Weimar wird allenfalls am Rande behandelt. Hieße das Buch „Goethe – Biographie eines Naturforschers“, würde man über solche Schwächen hinweggehen. Der Verlag erhebt aber einen anderen Anspruch. Hinzu kommt, dass Bollmann dem Auseinander von Goethes Naturforschung und den entstehenden Naturwissenschaften die gedankliche Schärfe nimmt, indem er Goethes Arbeiten einer dezidiert modernen, gegenwärtigen Moral des Umgangs mit der Natur unterwirft. Am Ende soll Goethe gewinnen, wider das Spezialistentum, als Vertreter von Ganzheitlichkeit, Ökologie und Sinnlichkeit.
Ein solches Programm ist nicht ohne ein gewisses Maß an Geschichts- und Geistfeindlichkeit zu erfüllen: „Darin liegt eine weitere Aktualität Goethes: dass er die Erforschung der Natur an ihre konkrete Erfahrung bindet, und zwar nicht unter Laborbedingungen, sondern an der frischen Luft.“ Überhaupt biedert der Autor seinen Helden und sich selbst immer wieder den Lesern an, um den Preis einer irreführenden Aktualisierung. Der junge Goethe muss „Waldbäder“ nehmen, um „die seelischen Wunden seiner unglücklichen Liebe ausheilen zu lassen“, während die Helena des „Faust“ zur „Marilyn Monroe der Antike“ erklärt und der alte Goethe zum eigentlichen Erfinder der „Gaia-Theorie“ wird. Bei diesem Dichter und Naturforscher sei sie entstanden, versichert sein Biograph, die „Erfahrung und Wissenschaft vereinende Sicht auf unseren Heimatplaneten als großes, lebendiges Wesen“. Welche Genugtuung für Goethe nachträglich darin liegen muss, „uns“ so gedient zu haben.
Er widmete sich der Anatomie
eines Elefantenschädels oder der
Kultivierung der Puffbohne
Am Ende soll Goethe gewinnen,
wider das Spezialistentum,
als Vertreter von Ganzheitlichkeit
„Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich (...) als Dichter und lässt mich allenfalls für einen solchen gelten.“ – Zeitgenössischer Stich mit Goethe (r.) und dem damals berühmtesten Naturforscher der Welt, Alexander von Humboldt (2.v.r). Links sitzt Schiller, daneben Alexanders Bruder Wilhelm.
Foto: dpa
Stefan Bollmann: Der Atem der Welt
– Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur. Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart 2021.
650 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Ein lebendiges Bild einer Forschung, die noch Dilettantismus sein darf und noch nicht Wissenschaft sein muss, jedenfalls im Hinblick auf akademische Routinen und Verkehrsformen. [...] [Bollmann] rekapituliert diese Geschichte mit Umsicht, Sorgfalt und Eleganz. Angesichts des Umfangs der Bestände, ihrer Komplexität und ihrer Verschiedenartigkeit stellen seine Ausführungen eine außerordentliche Leistung dar, zumal es ihm gelingt, auch entschieden Fachliches in einen fasslichen Zusammenhang zu bringen.« Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 12. April 2021 Thomas Steinfeld Süddeutsche Zeitung 20210412