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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
mit der Tat
Wolfgang Kraushaar erklärt, was der arabische Frühling
und die Occupy-Bewegung gemeinsam haben
In seinen „Studien über die Deutschen“ hat der große Soziologe Norbert Elias auf ein Phänomen hingewiesen, das in den kurzsichtigen politischen Optionen der Gegenwart nahezu vollständig übersehen wird: Dass nämlich Generationenkonflikte ganz ungemein starke Antriebskräfte sozialer Dynamiken bilden, wobei die Blockierung von Sinnerfüllungen und Ambitionen eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Verengung von Aufstiegsmöglichkeiten.
Der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren, man muss sich nur das Lebensalter der Führungseliten 1933 beziehungsweise 1917 ansehen, Generationenprojekte. Immer, wenn Gesellschaften ihren nachrückenden Mitgliedern die Aufstiegskanäle verschließen, kann man nach einer Latenzzeit Aufruhr, Aufstände, Rebellionen, gar Revolutionen beobachten. Und es ist schon spektakulär, dass die Barrosos, Ashtons und Merkels dieser Welt wenig Beunruhigung zeigen angesichts von EU-Mitgliedsländern, in denen die Hälfte einer Alterskohorte ohne Arbeit ist.
Dass es in Spanien, Italien oder Portugal noch nicht zu größeren Aufständen der perspektivlosen Jugend gekommen ist, kann nur verwundern. Vielleicht liegt das ein wenig daran, dass in diesen Ländern die familiären Netzwerke noch Auffangfunktionen haben, wo die staatliche Versorgung radikal versagt. Vielleicht herrscht auch eine Art Schockstarre angesichts der Ereignisse. Aber die Hypothese erscheint kaum gewagt, dass es in einem dieser Länder bald knallt.
In den übrigen, einstweilen scheinbar oder faktisch noch besser dastehenden EU-Ländern wird dasselbe zeitverzögert einsetzen, spätestens dann, wenn die gesellschaftlichen Folgen von Austeritätspolitik bei nicht sinkender Staatsverschuldung auch dort fühlbar werden, wo sich die Rating-Agenturen und Spekulanten vorläufig noch zurückhalten.
Der Gleichmut angesichts dieses historisch gut beschriebenen Sprengpotenzials für gesellschaftliche Normalverhältnisse vermag schon zu irritieren, lässt sich doch seit gut zwei Jahren am Beispiel des arabischen Frühlings gewissermaßen in Echtzeit studieren, was geschieht, wenn sklerotische Systeme ihre jüngeren Gesellschaftsmitglieder zwar gut ausgebildet, dann aber perspektiv- und chancenlos gelassen haben: Sie fegen, nur scheinbar ansatzlos, Regime wie in Tunesien und Ägypten fort. Sie sind bereit, sich auf langdauernde Kämpfe und Bürgerkriege wie in Libyen oder Syrien einzulassen. Sie lassen nicht locker, wenn – wie in Bahrain oder Jemen – die Aufstände regelmäßig niedergeschlagen werden.
Wenn solche Dinge geschehen, kann es einem passieren, dass man als Sozialpsychologe von der Politik gefragt wird, was um Himmels willen denn da los sei und ob man das nicht hätte vorhersehen können. Und wenn man dann antwortet, dass Revolten solcher Art einen demografisch und sozial gut beschreibbaren Vorlauf von fünf bis zehn Jahren haben – dass Gesellschaften mithin zwar lange Zeit stabil aussehen, es konstitutiv aber lange schon nicht mehr sind –, erntet man jenes Erstaunen, dass Politiker immer dann befällt, wenn sie es mit Prozessen zu tun haben, die länger als eine Legislaturperiode dauern. Na so was!
Es ist daher sehr hilfreich, dass Wolfgang Kraushaar, Protestexperte vom Hamburger Institut für Sozialforschung, jetzt eine Chronik der Aufstands- und Protestbewegungen der vergangenen zwei Jahre vorlegt hat. „Der Aufruhr der Ausgebildeten“ heißt dieser sehr informative Überblick, der so disparate Bewegungen wie den arabischen Frühling und Occupy in einem Zusammenhang erörtert: Der gemeinsame Nenner, den Kraushaar ausmacht, ist in der Tat dieser: In allen Fällen hat man es nicht mit Aufständen von armen und bildungsmäßig chancenlosen Personengruppen zu tun, sondern im Gegenteil mit gut ausgebildeten jungen Menschen, deren Qualifikationen in ihren Gesellschaften nicht nachgefragt werden.
In Tunesien lag die Arbeitslosenquote vor der Rebellion bei durchschnittlich etwa 14 Prozent, aber die der unter 30-Jährigen bei 30 und die der jungen Leute mit Hochschulabschluss bei 22 Prozent – und dies sind nur die offiziellen, routiniert geschönten Zahlen der Arbeitsmarktstatistik gewesen. Vergleichbare Bilder zeigen sich in allen nordafrikanischen Ländern, sodass, wie Volker Perthes in seinem Buch „Der Aufstand“ formuliert hat, für sehr viele Mitglieder der jungen Generation gilt, „dass sie eine formal gute Bildung, aber schlechte oder keine Jobs und, anders als die älteren Generationen, auch wenig Chancen haben, legal in Europa oder am Golf Arbeit zu finden. Weil sie über kein oder nur wenig Einkommen verfügen, können sie keine Wohnung mieten. Ohne eigene Wohnung können sie keine Familie gründen.“
Wolfgang Kraushaar arbeitet akribisch heraus, wie die autokratischen Regime standardmäßig auf das Mittel der Repression zurückgreifen, wenn der erste Unmut sich in direkten Protesten manifestiert: Die Repression führt nur dazu, dass das Protestpotenzial systematisch anwächst – denn in solchen Ländern stehen die Bevölkerungen nicht hinter den Regierungen, sondern hinter ihren Familienmitgliedern, besonders dann, wenn sie angegriffen werden.
Dass es bei all dem um Partizipationschancen umfassender Art geht, zeigt die hohe Beteiligung von Frauen an den sozialen Bewegungen. Nicht zuletzt erweist sich die Mobilisierungskraft der sozialen Medien als ein Beschleuniger für das Anwachsen der protestierenden Mengen. Und über das Wirken der sozialen Medien hinaus lassen sich noch andere Selbstverstärkungsfaktoren ausmachen, die den Aufruhr der Ausgebildeten schnell zur Sache großer Bevölkerungsgruppen werden lassen. Kraushaar weist auch auf den neuen Aspekt hin, dass die sozialen Medien bereits jene Form von Vergemeinschaftung virtuell vorwegnehmen, die dann auf den Straßen und Plätzen zur realen Erfahrung wird: Die virtuelle Gemeinschaft verwandelt sich in den kollektiven Aktionen in eine physische.
So viel zum arabischen Frühling, dessen Analyse ungemein lehrreich ist. Anders steht es mit der Occupy-Bewegung, die weit weniger erfolgreich ist. Zwar lesen sich die schieren Zahlen beeindruckend: Proteste gab es in 911 Städten in 82 Ländern mit Millionen Teilnehmerinnen und Teilnehmern; aber offenbar fehlt diesem Protest trotz des auch hier wieder auftretenden Merkmals des hohen Ausbildungsniveaus der Akteure ein Ziel, das mittelfristig gemeinschaftsbildend sein könnte. Schließlich geht es den jungen Aktivisten nicht um den Sturz von Regimen oder die Abschaffung des Kapitalismus, sondern seltsam unpolitisch um die Kappung von Auswüchsen extrem gestiegener sozialer Ungleichheit.
Auch Kraushaar verzeichnet bei Occupy einen Mangel an klaren Forderungen und vor allem einen Mangel an Adressaten, an die Forderungen gerichtet werden. So wie es natürlich politischer Unfug ist, davon zu sprechen, dass man 99 Prozent der Bevölkerungen repräsentiere, so führt es nicht allzu weit, gern mal „empört“ darüber zu sein, dass es in der Welt und insbesondere in der Finanzwelt gemein und ungerecht zugeht. Anders gesagt: Der Schlüssel für den zumindest kurzfristigen Erfolg der arabischen Rebellionen liegt darin, dass sich hier manifeste Unterdrückungserfahrung gegen manifeste Unterdrücker artikuliert und sich so soziale Macht zu entfalten vermag, während der Occupy-Protest vor allem auf der symbolischen Ebene verbleibt und außer den ja leider anonymen, geradezu metaphysischen „Märkten“ keine Schuldigen benennt, die man bekämpfen könnte (ob mit Erfolg oder ohne).
So ist Kraushaar zuzustimmen, wenn er die Occupy-Bewegung eher für einen Stimmungs-Indikator hält, der die zunehmende Beunruhigung über die Zukunft und das soziale Gefälle auch in den privilegierten Ländern anzeigt. Insgesamt liefert sein Überblick über die disparaten Protestbewegungen eine Art soziale Seismographie der Gegenwart. Die Amplituden, so könnte man sagen, werden kürzer und heftiger, die Unruhe wächst.
HARALD WELZER
WOLFGANG KRAUSHAAR: Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung. Hamburger Edition, Hamburg 2012. 255 Seiten, 12 Euro.
Harald Welzer lehrt Sozialpsychologie in Sankt Gallen sowie Transformationsdesign in Flensburg und ist Direktor der Stiftung „Futur Zwei“.
Jede Revolution und viele
Revolten beginnen mit
einem Generationenkonflikt.
Gut ausgebildete junge Menschen vieler Länder haben keine Aussicht auf einen auskömmlichen Beruf. Sie streben in die Ferne, nicht immer mit frohgemut wehender Mähne. Junge arbeitslose Portugiesen zum Beispiel suchen Arbeit in Afrika; viele junge Leute aus dem Maghreb suchen Arbeit in Europa. Den vielen, die nicht fort können, bleibt nur die Wahl zwischen einem Leben in Armut und der Rebellion. aug
Zeichnung: Hurzlmeier
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Proteste, wohin das Auge blickt - so stellte sich das vergangene Jahr für viele Beobachter dar. Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung, ist darangegangen, dieses weltweite Phänomen zu sichten. Dass er dabei die Aufstände in Nordafrika und Arabien und die Proteste in der westlichen Welt in einen Zusammenhang stellt, ist legitim und wohlbegründet. Als Kern der Akteure macht er gut ausgebildete, mit den sozialen Möglichkeiten moderner Kommunikationsmittel vertraute und vor allem junge Menschen aus. Zweihundertfünfzig Seiten und ein kleines Format sind allerdings etwas wenig für diese Tour d'horizon. Der Vergleich der Proteste in Amerika, Chile, Deutschland, Spanien, Portugal, Tunesien, Ägypten, Israel und China hätte mehr Raum verdient. Die Kürze mag aber auch daher rühren, dass der Autor mehr Platz nicht adäquat hätte füllen können, zeigt doch ein Blick in den Anmerkungsapparat, dass es noch keine umfängliche Forschungsliteratur gibt, sondern Kraushaar sich vor allem auf Medienberichte gestützt hat. Nichtsdestotrotz ist dem Autor ein lesenswerter Überblick über einige der politisch prägenden Ereignisse des vergangenen Jahres gelungen. (Wolfgang Kraushaar: "Der Aufruhr der Ausgebildeten". Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung. Hamburger Edition, Hamburg 2012. 255 S., geb., 12,- [Euro].)
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