Warum sind rechte und rechtsextreme Bewegungen in Krisenzeiten so erfolgreich? Mit welchen Strategien überzeugen sie die Mehrheit davon, dass die Verteidigung der eigenen Privilegien wichtiger ist als Solidarität oder Verzicht? Über die politischen Aktivitäten rechter Gruppierungen ist viel geschrieben worden – ergänzend dazu untersucht der Sozialwissenschaftler Daniel Mullis, für welche Botschaften die gesellschaftliche Mitte empfänglich ist. In zahlreichen Gesprächen arbeitet er die bundesdeutsche Befindlichkeit unserer Gegenwart heraus. Er fragt aber auch danach, wie progressive Politik in unsicheren Zeiten gelingen kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Moritz Klein empfiehlt das Buch des Konfliktforschers Daniel Mullis. Der Autor legt laut Klein einen erfrischend anderen Blick auf den "Rechtsruck" und seine Ursachen vor, indem er auf die vielbeschworene "Mitte" der Gesellschaft schaut, Stadtteilfeldforschung betreibt und zu dem Schluss kommt, dass sich die "Mitte" ins Postdemokratische verschiebt. Was genau da geschieht, zeigt Mullis anhand der Krisen des letzten Jahrzehnts. Dass Krisen für den Autor keine Ausnahmezustände sind, sondern die Offenlegung von Brüchen, scheint Klein einzuleuchten. Mullis Analysen dieser Brüche und seine Lösungsvorschläge liest der Rezensent mit großem Gewinn.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2024Politische Apathie
im Wohnzimmer
Wie konnte die AfD so erfolgreich werden?
Daniel Mullis analysiert die deutsche Befindlichkeit.
Ohne erhobenen Zeigefinger schreibe er, ohne Anklage, betont Daniel Mullis gleich zu Beginn. Und tatsächlich legt der Humangeograf am Leibniz-Institut in Frankfurt am Main in seinem Sachbuch „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“ einen überwiegend dünkelfreien, akademischen Ton an den Tag. Der gebürtige Schweizer Mullis urteilt nicht, sondern erklärt empirisch fundiert, warum Menschen rechts von der Union wählen.
Der Untertitel seines Buchs lautet „Die Regression der Mitte“, das ist auch einer seiner zentralen Befunde: Die gesellschaftliche Mitte würde sich progressiven Vorstellungen zunehmend verwehren, sich rückentwickeln. Das politische Spektrum bleibe bei dieser Regression zwar erhalten, aber rücke insgesamt nach rechts. Um zu dieser These zu kommen, führte Mullis repräsentative Interviews mit etwa 50 Menschen im Raum Frankfurt am Main und Leipzig.
Zuerst blickt das Buch aber auf die Krisen der vergangenen Jahre. Mullis zeichnet den Aufstieg der AfD nach, wie sie 2013 im Lichte der Finanzhilfen für die südeuropäischen Länder in der Eurokrise als politische Kraft rechts außen entstand. Grundlage für ihren Erfolg war später aber nicht ihr Euroskeptizismus, sondern bekanntlich ihr Agitieren gegen Geflüchtete. Der Autor blickt zurück auf die Willkommenskultur in der Flüchtlingskrise, wie die gute Stimmung bald in Teilen der Bevölkerung umschlug, wie rassistische Ressentiments aktiviert wurden. Die Konflikte um Migration, so legt er dar, verschoben die politische Kultur nach rechts. Die AfD etablierte sich. Die Union verschärfte infolgedessen in Migrationsfragen ebenfalls ihren Ton. Als Wendepunkt, an dem die Willkommenskultur endgültig in Feindseligkeit umschlug, beschreibt Mullis die Silvesternacht 2015 in Köln, wo es zu sexuellen Übergriffen auf Frauen kam, vor allem seitens nordafrikanischer Migranten. Das alles waren Beschleunigungsfaktoren für den Aufstieg der AfD.
Mit der Corona-Pandemie folgte die nächste Krise, es formierten sich Proteste gegen die Schutzmaßnahmen. Unter den Pandemieleugnern gewann die AfD besonders Zuspruch, sie konnte sich endgültig als Anti-Establishment-Partei profilieren und mobilisieren. Autor Mullis blickt abschließend noch auf den „Epochenbruch“: ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und steigende Inflation. Sein Fazit: zu viele Krisen, zu wenig Zeit für die Menschen, diese emotional zu verarbeiten.
Das sieht man auch anhand der Gespräche in den Wohnzimmern mit den „besorgten Bürgern“, aus denen er anschließend zitiert. In Frankfurt am Main und in Leipzig, also sowohl einer west- als auch einer ostdeutschen Stadt, wählte er Bewohner in Stadtteilen, wo die AfD bereits erfolgreich war, aus. Alter, Geschlecht und politische Einstellung waren gemischt. Mullis stellt etwa den 40-jährigen Herrn Oppermann aus Leipzig vor, umreißt grob, welche Krisen er erlebt hat, wie die Wende sein Leben bestimmt hat. Oder Frau und Herrn Böhm, Mitte 70 und aus Frankfurt. Für sie prägend vor allem die Isolation während Corona, die wachsende Armut im Viertel, das Gefühl, dass es anders als in ihrer Jugend nicht mehr ständig aufwärtsgehe. Anhand dieser und mehrerer anderer schemenhaft umrissenen Personen formiert sich die Erzählung eines kollektiven Aufstiegs in der Nachkriegszeit und das gemeinsame Empfinden der Gesprächspartner, dass Gegenwart und Zukunft weniger rosig aussehen. Der Grundtenor hier: Früher war vieles besser.
Es eint die meisten ein großes Misstrauen gegen Parteien, gegen „die da oben“. Sie würden zwar fast alle wählen gehen, aber sie kritisieren gleichzeitig, damit nichts bewirken zu können. So mancher wünscht sich eine Art starken Führer, als Vorbild dient sogar China. Sich engagieren oder protestieren wollen die wenigstens, eine politische Apathie habe sich breitgemacht in der bundesdeutschen Mitte, so Mullis. Auch davon profitieren die Rechtsextremen.
Als Beispiel kommt die Alternative für Deutschland wählende Frau Köhler zu Wort, sie ist wütend: Man könne nicht mehr sagen, was man denke. Muslimische Männer lehnt sie ab, in der Pandemie habe sie endgültig das Vertrauen in den Staat verloren. Überhaupt sind oft die Ausländer schuld, sogar wenn in der Straße Parkplätze fehlen. Rassismus zieht sich durch fast alle Interviews.
Von einem erhobenen Zeigefinger ist auch an diesen Buchstellen nichts zu spüren, wenngleich Mullis durchaus bewertet. Besonders problematisch betrachtet er, dass sich die Menschen, mit denen er gesprochen hat, abwenden von politischer Partizipation, weil sie Mitmachen als sinnlos erachten. Die Probleme würden sich aber ja erst recht nicht lösen, wenn weggeschaut werde, schreibt er. Hoffnungsvoll stimmen den Sozialwissenschaftler die Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang des Jahres.
Mullis hat dem „besorgten Bürger“ sorgsam zugehört. Aber trotz aller Nähe, um die sich der Autor bemüht, wünscht man sich als Leser, die Menschen besser kennenzulernen, mehr über sie zu erfahren, bei den Gesprächen wirklich dabei zu sein. Hier liegt auch die Schwäche des Buchs: Es ist an vielen Stellen zu theoretisch, mehr eine wissenschaftliche Arbeit als eine kurzweilige Lektüre. Wer sich allerdings durch die 300 Seiten kämpft, wird mit einer tiefgehenden Analyse des Rechtsrucks und schonungslosen Befunden aus Deutschlands Wohnzimmern belohnt.
LEILA AL-SERORI
Die Kölner Silvesternacht
wird bei vielen Befragten
als Wendepunkt gesehen
Daniel Mullis:
Der Aufstieg der Rechten
in Krisenzeiten.
Die Regression der Mitte. Reclam-Verlag,
Ditzingen 2024.
336 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
im Wohnzimmer
Wie konnte die AfD so erfolgreich werden?
Daniel Mullis analysiert die deutsche Befindlichkeit.
Ohne erhobenen Zeigefinger schreibe er, ohne Anklage, betont Daniel Mullis gleich zu Beginn. Und tatsächlich legt der Humangeograf am Leibniz-Institut in Frankfurt am Main in seinem Sachbuch „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“ einen überwiegend dünkelfreien, akademischen Ton an den Tag. Der gebürtige Schweizer Mullis urteilt nicht, sondern erklärt empirisch fundiert, warum Menschen rechts von der Union wählen.
Der Untertitel seines Buchs lautet „Die Regression der Mitte“, das ist auch einer seiner zentralen Befunde: Die gesellschaftliche Mitte würde sich progressiven Vorstellungen zunehmend verwehren, sich rückentwickeln. Das politische Spektrum bleibe bei dieser Regression zwar erhalten, aber rücke insgesamt nach rechts. Um zu dieser These zu kommen, führte Mullis repräsentative Interviews mit etwa 50 Menschen im Raum Frankfurt am Main und Leipzig.
Zuerst blickt das Buch aber auf die Krisen der vergangenen Jahre. Mullis zeichnet den Aufstieg der AfD nach, wie sie 2013 im Lichte der Finanzhilfen für die südeuropäischen Länder in der Eurokrise als politische Kraft rechts außen entstand. Grundlage für ihren Erfolg war später aber nicht ihr Euroskeptizismus, sondern bekanntlich ihr Agitieren gegen Geflüchtete. Der Autor blickt zurück auf die Willkommenskultur in der Flüchtlingskrise, wie die gute Stimmung bald in Teilen der Bevölkerung umschlug, wie rassistische Ressentiments aktiviert wurden. Die Konflikte um Migration, so legt er dar, verschoben die politische Kultur nach rechts. Die AfD etablierte sich. Die Union verschärfte infolgedessen in Migrationsfragen ebenfalls ihren Ton. Als Wendepunkt, an dem die Willkommenskultur endgültig in Feindseligkeit umschlug, beschreibt Mullis die Silvesternacht 2015 in Köln, wo es zu sexuellen Übergriffen auf Frauen kam, vor allem seitens nordafrikanischer Migranten. Das alles waren Beschleunigungsfaktoren für den Aufstieg der AfD.
Mit der Corona-Pandemie folgte die nächste Krise, es formierten sich Proteste gegen die Schutzmaßnahmen. Unter den Pandemieleugnern gewann die AfD besonders Zuspruch, sie konnte sich endgültig als Anti-Establishment-Partei profilieren und mobilisieren. Autor Mullis blickt abschließend noch auf den „Epochenbruch“: ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und steigende Inflation. Sein Fazit: zu viele Krisen, zu wenig Zeit für die Menschen, diese emotional zu verarbeiten.
Das sieht man auch anhand der Gespräche in den Wohnzimmern mit den „besorgten Bürgern“, aus denen er anschließend zitiert. In Frankfurt am Main und in Leipzig, also sowohl einer west- als auch einer ostdeutschen Stadt, wählte er Bewohner in Stadtteilen, wo die AfD bereits erfolgreich war, aus. Alter, Geschlecht und politische Einstellung waren gemischt. Mullis stellt etwa den 40-jährigen Herrn Oppermann aus Leipzig vor, umreißt grob, welche Krisen er erlebt hat, wie die Wende sein Leben bestimmt hat. Oder Frau und Herrn Böhm, Mitte 70 und aus Frankfurt. Für sie prägend vor allem die Isolation während Corona, die wachsende Armut im Viertel, das Gefühl, dass es anders als in ihrer Jugend nicht mehr ständig aufwärtsgehe. Anhand dieser und mehrerer anderer schemenhaft umrissenen Personen formiert sich die Erzählung eines kollektiven Aufstiegs in der Nachkriegszeit und das gemeinsame Empfinden der Gesprächspartner, dass Gegenwart und Zukunft weniger rosig aussehen. Der Grundtenor hier: Früher war vieles besser.
Es eint die meisten ein großes Misstrauen gegen Parteien, gegen „die da oben“. Sie würden zwar fast alle wählen gehen, aber sie kritisieren gleichzeitig, damit nichts bewirken zu können. So mancher wünscht sich eine Art starken Führer, als Vorbild dient sogar China. Sich engagieren oder protestieren wollen die wenigstens, eine politische Apathie habe sich breitgemacht in der bundesdeutschen Mitte, so Mullis. Auch davon profitieren die Rechtsextremen.
Als Beispiel kommt die Alternative für Deutschland wählende Frau Köhler zu Wort, sie ist wütend: Man könne nicht mehr sagen, was man denke. Muslimische Männer lehnt sie ab, in der Pandemie habe sie endgültig das Vertrauen in den Staat verloren. Überhaupt sind oft die Ausländer schuld, sogar wenn in der Straße Parkplätze fehlen. Rassismus zieht sich durch fast alle Interviews.
Von einem erhobenen Zeigefinger ist auch an diesen Buchstellen nichts zu spüren, wenngleich Mullis durchaus bewertet. Besonders problematisch betrachtet er, dass sich die Menschen, mit denen er gesprochen hat, abwenden von politischer Partizipation, weil sie Mitmachen als sinnlos erachten. Die Probleme würden sich aber ja erst recht nicht lösen, wenn weggeschaut werde, schreibt er. Hoffnungsvoll stimmen den Sozialwissenschaftler die Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus Anfang des Jahres.
Mullis hat dem „besorgten Bürger“ sorgsam zugehört. Aber trotz aller Nähe, um die sich der Autor bemüht, wünscht man sich als Leser, die Menschen besser kennenzulernen, mehr über sie zu erfahren, bei den Gesprächen wirklich dabei zu sein. Hier liegt auch die Schwäche des Buchs: Es ist an vielen Stellen zu theoretisch, mehr eine wissenschaftliche Arbeit als eine kurzweilige Lektüre. Wer sich allerdings durch die 300 Seiten kämpft, wird mit einer tiefgehenden Analyse des Rechtsrucks und schonungslosen Befunden aus Deutschlands Wohnzimmern belohnt.
LEILA AL-SERORI
Die Kölner Silvesternacht
wird bei vielen Befragten
als Wendepunkt gesehen
Daniel Mullis:
Der Aufstieg der Rechten
in Krisenzeiten.
Die Regression der Mitte. Reclam-Verlag,
Ditzingen 2024.
336 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
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»Eine fundierte Analyse des deutschen Gefühlshaushalts.« Jury Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Deutschlandfunk Kultur und DIE ZEIT