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Begabt ist der Junge gewiss, den "kleinen Mozart" nennen sie ihn in dem Städtchen. Doch jetzt sitzt er im Gefängnis – zu Unrecht? Schicht für Schicht steigen wir in die Tiefen seiner Erinnerung. Mit geradezu qualvoller Raffinesse enthüllt Evelyn Grill, wie aus einem Jungen, der ohne Freunde und ohne Mutter bei seinen Großeltern aufwuchs, der von seinem Opa, dem Schuldirektor, einer Autorität im Ort, aufgezogen und gefördert, gehätschelt und erniedrigt wurde, ein Verdächtiger, vielleicht ein Mörder wurde. Denn die Oma ist tot, erschlagen mit einer Hacke, und der Opa, der war im Wirtshaus, als…mehr

Produktbeschreibung
Begabt ist der Junge gewiss, den "kleinen Mozart" nennen sie ihn in dem Städtchen. Doch jetzt sitzt er im Gefängnis – zu Unrecht? Schicht für Schicht steigen wir in die Tiefen seiner Erinnerung. Mit geradezu qualvoller Raffinesse enthüllt Evelyn Grill, wie aus einem Jungen, der ohne Freunde und ohne Mutter bei seinen Großeltern aufwuchs, der von seinem Opa, dem Schuldirektor, einer Autorität im Ort, aufgezogen und gefördert, gehätschelt und erniedrigt wurde, ein Verdächtiger, vielleicht ein Mörder wurde. Denn die Oma ist tot, erschlagen mit einer Hacke, und der Opa, der war im Wirtshaus, als es geschah. Meisterlich zieht Evelyn Grill die Fäden dieses grausamen Romans über die alltägliche Gemeinheit und die Sehnsucht nach Anerkennung.
Autorenporträt
Evelyn Grill, geboren 1942 in Garsten, Oberösterreich, lebt als freie Schriftstellerin in Freiburg im Breisgau, seit 2017 wieder in Linz. 2017 erhielt sie den OÖ-Landeskulturpreis für Literatur. Bei Residenz erschienen: "Vanitas oder Hofstätters Begierden" (2005, nominiert für den Deutschen Buchpreis), "Der Sammler" (2006, mit dem Otto-Stoessl-Preis ausgezeichnet), "Wilma" (Neuauflage 2007), "Das römische Licht" (2008), "Das Antwerpener Testament" (2011), "Der Sohn des Knochenzählers"(2013) und zuletzt "Der Begabte" (2019).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2019

Der Cantus firmus lautet: Die Oma muss weg
Dieses Wolferl ist gefährlich: Evelyn Grill erstellt ein Gruselkabinett der oberösterreichischen Provinz

Verschlüsselt, geheimnisvoll, schräg und abgründig komisch - das ist die Rezeptur, nach der die österreichische Schriftstellerin Evelyn Grill ihre Romane zusammenmischt. Überraschungen und unerhörte Begebenheiten sind dabei die Gewürze. Die Autorin, die viele Jahre mit ihrem Ehemann, dem Rilke-Forscher Joachim W. Storck in Freiburg im Breisgau lebte, ist nach dessen Tod seit zwei Jahren wieder zurück in ihre oberösterreichische Heimat gegangen. Die kuschlige badische Vorzeigestadt konnte den rebellischen Geist der Schriftstellerin wohl nicht länger halten, sie braucht offenbar einen rauheren Wind, um ihren Ton zu finden und zu halten.

Absichtsvoll ist dem neuen Roman "Der Begabte" ein Zitat von Georg Christoph Lichtenberg vorangestellt: "Die Menschen können nicht sagen, wie sich eine Sache zugetragen, nur wie sie meinen, daß sie sich zugetragen hätte." Um was für eine "Sache" es sich aber im Roman handelt, bleibt dem Leser zunächst verborgen. Ein junger Mann von neunzehneinhalb Jahren sitzt in einer kargen Gefängniszelle, warum, das schält sich erst langsam im Laufe der Erzählung heraus. Er fühlt sich einsam und von aller Welt im Stich gelassen. Sein Großvater, ein angesehener Schuldirektor in einer Kleinstadt nahe bei Linz, hat ihn immer als den kleinen Mozart gerühmt, so begnadet konnte schon das Kind Klavier und in der Kirche die Orgel spielen. "Wolferl" wurde er dementsprechend anerkennend genannt. Aus ihm sollte ein großer Star werden, dem alle Welt zujubelt. Der Jugendliche versteht die Welt nicht mehr, er versteht auch seinen geliebten Großvater nicht mehr, der sich von ihm abgewandt hat.

In langen inneren, quälenden Monologen wird aus einer Geschichte, die einst voller Hoffnungen war, ein Horrorszenario. Allein in der Zelle, abgeschnitten von seinem Sehnsuchtsort, dem Klavier, grübelt der junge Mann vor sich hin. Er will etwas verstehen, das sich seiner Logik entzieht und sein Gedächtnis nicht auflösen kann. Warum ist er im Gefängnis, was wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor? Schon auf der ersten Seite erfährt man, "seine Oma lebt ja nicht mehr". Da ahnt die Lesende: Mit dieser Oma stimmt etwas nicht.

In kleinen Schritten, behutsam und poetisch umsponnen, verwandelt sich das kleinbürgerliche Lebensidyll einer am Ort hochgeschätzten Familie in eine grausame Mordgeschichte. Die Fassade bröckelt, was nach außen so wohlanständig wirkt, entpuppt sich im Inneren als ein wachsendes Hassverhältnis zwischen den Großeltern, bei denen der Begabte aufwächst. Der Großvater ist ein zwiespältiger Charakter, die Bürgerlichkeit in Person, so der erste Eindruck. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein gewalttätiger Machtmensch. Der Opa kann die Schimpfreden seiner Frau nicht mehr ertragen und erklärt mit Bestimmtheit: "Die Oma muss weg." Wolferl ahnt nicht, was er damit meint.

Der alte Mann hat einen Plan, er bereitet brutal und mit raffinierten Verführungskünsten seinen ahnungslosen Enkel mit infamen Mordübungen, zum Beispiel an einem Eichhörnchen, zu seinem willfährigen Mordwerkzeug vor. Der Junge soll lernen, Blut zu sehen und alle Hemmungen vor dem Töten zu überwinden. Nachdem die Tat klug eingefädelt ist, vollbringt der Enkel den Auftragsmord. Der Opa hat sich ein sicheres Alibi verschafft, er zecht in der Wirtschaft mit seinen Stammtischbrüdern. Dann dreht der Alte den Spieß um und lässt seinen Enkel gnadenlos fallen.

Diese Wahnsinnstat wird von Evelyn Grill ohne Pathos, ohne Sentimentalität aus den Erinnerungen des Wolferl in der Gefängniszelle langsam ans Licht geholt. Es bedarf keiner Psychologie oder Seelenerkundung, es herrscht eine Atmosphäre der emotionalen Kälte. Immer atemraubender legt sich die Schlinge um den Hals des Delinquenten, der nur sehr langsam begreift, was geschehen ist. Wie mit einem feinen Seziermesser legt die Autorin Schicht für Schicht eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen frei. Es geht nicht um Schuld und Sühne, auch nicht um Verbrechen und Strafe, es gibt keinen aufklärenden Richter, sondern der Gefangene ringt mit seiner Kindheit, die so behütet schien und in der Katastrophe endet.

Evelyn Grill gelingt eine äußerste Eindringlichkeit des Erzählens. Beim Lesen verdichtet sich eine gruselige Stimmung, denn es wird immer offensichtlicher, dass nichts das einstige Klaviergenie retten kann. Gerechtigkeit ist keine Kategorie. Hier herrschen andere Gesetze, die im Dunklen bleiben. Wie im Staccato wiederholen sich Worte und Sätze, hämmern die Realität zu einer rauhen Oberfläche. Der Fluch des Großvaters, "die Oma muss weg", wird immer dringlicher zum Leitmotiv einer Geschichte, die so zukunftsträchtig begann, weil der Knabe als Wunderkind seine Umgebung und auch den strengen Großvater verzauberte. Nun bleibt von diesem Zauber nichts, menschliche Regungen gefrieren zu Eis.

Eine letzte menschliche Aufwallung bleibt am Ende des Romans. Den Anwalt, der den Untersuchungshäftling in der Zelle besucht, fleht der einstige kleine Mozart an: "Es geht mir nur um das Klavier, sonst werde ich verrückt." Der Anwalt zeigt Gefühl, legt seinen Arm um den jungen Mann und sagt: "Wir schaffen das" - diese Geste löst beim Begabten Zuversicht aus, "daß er ein Klavier bekommt". Ende des Romans.

Man mag denken, eine krasse, überzogene Geschichte. Keineswegs. Vor sieben Jahren passierte im Innviertel genau ein solcher aufsehenerregender Mord, den Evelyn Grill dann recherchiert und nun in Literatur umgesetzt hat. Der Großvater wurde damals zu achtzehn Jahren Haft verurteilt, sein Enkel erhielt eine Strafe von zwölf Jahren.

LERKE VON SAALFELD

Evelyn Grill: "Der Begabte". Roman.

Residenz Verlag, Wien 2019. 147 S., geb., 20,- [Euro].

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