Britannien im 5. Jahrhundert: Nach erbitterten Kriegen zwischen den Volksstämmen der Briten und Angelsachsen ist das Land verwüstet. Axl und Beatrice sind seit vielen Jahren ein Paar. In ihrem Dorf gelten sie als Außenseiter, und man gibt ihnen deutlich zu verstehen, dass sie eine Belastung für die Gemeinschaft sind. Also verlassen sie ihre Heimat, in der Hoffnung, ihren Sohn zu finden, den sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Ihre Reise ist voller überraschender Begegnungen und Gefahren, und bald ahnen sie, dass in ihrem Land eine Veränderung heraufzieht, die alles aus dem Gleichgewicht bringen wird, sogar ihre Beziehung.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Auch wenn in Kazuo Ishiguros Buch "Der begrabene Riese" Ritter, Drachen, Zauberer und Menschenfresser auftauchen, ist dies weitaus mehr als ein Fantasy-Roman, versichert Martin Zähringer. Denn die im England des sechsten Jahrhunderts spielende Erzählung, in der ein altes Ehepaar, der Ritter Gawein und der sächsische Krieger Wistan sich aus unterschiedlichen Motiven auf eine Reise durch ein Land begeben, das von einem beklemmenden Schleier des individuellen und kollektiven Vergessens vernebelt ist, offenbart ein geradezu detektivisches, fesselndes und klug konstruiertes Spiel mit Erzählebenen und Figurenkonstellationen, verspricht der Rezensent. Ishiguro gelingt es, seinen Roman mit der ethischen Fragestellung nach der Notwendigkeit der kollektiven Verdrängung eines historischen Massakers zu unterlegen, lobt der Kritiker, der hier gar Margaret Thatcher imaginiert sieht, die versuche, das "neoliberale Privatisierungsmassaker" vergessen zu machen. Ein brillanter Roman über das Recht auf Erinnerung, urteilt Zähringer.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2015Im Nebel zu wandern
Historisch und phantastisch: In seinem neuen Roman "Der begrabene Riese" sprengt Kazuo Ishiguro alle Gattungsgrenzen / Von Daniel Kehlmann
Manchmal könnte man eine Buchbesprechung kurz halten. Man müsste dann nur darauf hinweisen, dass man über einen bestimmten Roman am besten gar nichts wissen sollte, bevor man ihn liest. In Kazuo Ishiguros "Der begrabene Riese" liegt die Welt unter einem sich allmählich lichtenden Nebel, und ebendas ist auch sein Kompositionsprinzip: Für sich selbst allmählich herauszufinden, was hier eigentlich verhandelt wird, bildet das eigentliche Erlebnis dieser Lektüre. Wer also dem Rezensenten vertraut, sollte die Rezension an dieser Stelle beenden und lieber gleich "Der begrabene Riese" lesen.
Wer aber trotz dieser Warnung unbedingt mehr wissen will, zum Beispiel weil er längst beschlossen hat, dass er ohnehin kein Buch anrühren würde, in dem Drachen und magische Nebel vorkommen, dem kann man natürlich Auskunft geben. Man könnte so jemandem gleich erklären, dass "Der begrabene Riese" ein Ausflug des Autors von "Was vom Tage übrig blieb" und "Alles was wir geben mussten" in das Genre der Fantasyliteratur ist.
Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn "Der begrabene Riese" ist exakt an der Übergangsstelle zwischen historischem und phantastischem Erzählen angesiedelt, im England des sechsten Jahrhunderts. Aus dieser Epoche ist so gut wie nichts bekannt. Nach dem Abzug der Römer verfiel die Zivilisation auf den Britischen Inseln fast vollständig, die größeren Siedlungen wurden zu unbewohnten Ruinenstädten, und für fast dreihundert Jahre liegen so gut wie keine Aufzeichnungen vor - nirgendwo ist der Begriff dark ages so angebracht. Ein Roman, der in dieser Zeit spielt, ist also naturgemäß auf Phantasie angewiesen, und wer sich auf das Weltbild der Menschen der Epoche ernsthaft einlässt, muss von Geistern, Dämonen und archaischen Naturwesen erzählen. In einer von solchen Wesen erfüllten Welt bricht also das alte Ehepaar Axl und Beatrice auf, um ihren Sohn zu finden, der vor Zeiten die kleine Siedlung verlassen hat und nie zurückgekommen ist.
Aber ein Nebel liegt auf dem Land, den keine Sonne durchdringt, und er bewirkt Vergessen. Haben die beiden wirklich einen Sohn gehabt? Ganz sicher sind sie nicht. Und wenn ja, wo ist er eigentlich hin? Verschwommen erinnern sie sich, dass etwas passiert ist, aber sie vermögen nicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Verwirrt ziehen sie von Siedlung zu Siedlung, immer in Angst vor jenen Wesen, die nachts die Wälder unsicher machen, und treffen Menschen, die wie sie verwirrt, verloren, ohne Gedächtnis sind. Sie treffen auch einen alten Ritter, der behauptet, Gawain zu heißen, vor Zeiten dem großen Artus gedient zu haben und auf der Suche nach einem Drachen zu sein, der schuld an dem Nebel, dem Vergessen und der Misere ist, die das Land befallen hat.
So weit, so spannend, aber das Grandiose ist, wie Ishiguros Roman alle Gattungsgrenzen sprengt und das, was gerade noch sicher schien, nach und nach fraglich macht. Denn der Ritter, der den Drachen töten will, will womöglich in Wahrheit etwas anderes, und Axl, der einfache Alte, der von großen Dingen nichts weiß, ist womöglich das Gegenteil von dem, was er scheint, und sogar mit dem Drachen, der in einer kurzen Szene wirklich sichtbar wird, verhält es sich offenbar ganz anders. Vor allem aber ist der die Erinnerungen löschende Nebel womöglich nicht der Fluch, als der er zu Beginn erschienen ist. Aber ist es nicht ein Axiom, dass Literatur für die Erinnerung und gegen das Vergessen steht? Wer würde es wagen, diesem Satz zu widersprechen und das Vergessen zu verteidigen?
Nun, Ishiguros Roman wagt es. Sehr spät erst findet der Leser heraus, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Bürgerkrieg stattgefunden hat und dass all die verlorenen Menschen Überlebende sind. Der große Nebel war für sie kein Fluch, er hat ihnen vielmehr das Weiterleben ermöglicht; nur dadurch, dass sie die Schrecken, die sie ihren Nachbarn und diese ihnen angetan haben, völlig vergessen haben, war es ihnen möglich, nebeneinander weiterzuleben. Wird nun, da dieser Nebel sich lichtet, die Wahrheit sie frei machen, oder wird sie vielmehr neue Grausamkeiten, neues Blutvergießen und neue Schrecken bringen? Nietzsches These, dass jede Zivilisation auf verdrängter Barbarei aufbaut, bekommt bei Ishiguro neue Dringlichkeit - der begrabene Riese des Titels ist kein Fabelwesen, sondern eine Metapher für verdrängtes Blutvergießen -, und die Frage, ob eine Gesellschaft Täter lieber verfolgen oder vergessen und weitermachen soll, als wäre nichts geschehen, rückt plötzlich in den Mittelpunkt eines Romans, der doch gerade noch so weit entfernt von unseren Tagen zu spielen schien.
Aber "Der begrabene Riese" ist keine Allegorie - im Gegenteil, der Roman ist reich, vieldeutig und so rätselhaft wie ein Traum, und seine Figuren sind keine Marionetten, sondern psychologisch komplex und widersprüchlich. Das gilt besonders für den Ritter Gawain, zunächst scheinbar ein Wiedergänger des Ritters von der traurigen Gestalt, in Wahrheit aber der klarste Geist von allen. Am meisten aber gilt es für die beiden Alten, Axl und Beatrice, die nach einem Leben in tiefster Verbundenheit herausfinden müssen, dass auch ihre Erinnerung sie womöglich getäuscht hat und dass nicht nur der Staat, sondern auch die Liebe nach ständigem Vergessen und immer neuen Lügen über die Vergangenheit verlangt. Aber sobald die beiden, und mit ihnen der Leser, das begriffen haben, sind sie auch schon im letzten Kapitel und in der seltsamsten und schönsten Todesszene angelangt, die es in der Weltliteratur der letzten Jahre gegeben hat. Ja, verlangt das Klischee denn nicht auch, dass Liebe stärker sein muss als der Tod? Bei Ishiguro ist das umgekehrt, und der simple Umstand, dass jeder Charons Boot allein besteigen muss, führt zu einer Schlussszene, auf die man wohl ausnahmsweise und in aller Vorsicht das überbeanspruchte Wort "unvergesslich" anwenden kann.
Leider kann man aber auch getrost voraussagen, dass so manche Leser, die dieses Meisterwerk schätzen könnten, einen Bogen darum machen werden, weil sie nun einmal beschlossen haben, dass sogenannte Fantasy unter ihrer Würde ist. Sei's drum, es ist ihr eigener Verlust. Sie werden nie erfahren, was sie versäumen, und "Der begrabene Riese" wird, wie schon einst "Der Herr der Ringe", als Geheimtipp auf die Bestsellerlisten verschwinden.
Kazuo Ishiguro: "Der begrabene Riese". Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2015. 416 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Historisch und phantastisch: In seinem neuen Roman "Der begrabene Riese" sprengt Kazuo Ishiguro alle Gattungsgrenzen / Von Daniel Kehlmann
Manchmal könnte man eine Buchbesprechung kurz halten. Man müsste dann nur darauf hinweisen, dass man über einen bestimmten Roman am besten gar nichts wissen sollte, bevor man ihn liest. In Kazuo Ishiguros "Der begrabene Riese" liegt die Welt unter einem sich allmählich lichtenden Nebel, und ebendas ist auch sein Kompositionsprinzip: Für sich selbst allmählich herauszufinden, was hier eigentlich verhandelt wird, bildet das eigentliche Erlebnis dieser Lektüre. Wer also dem Rezensenten vertraut, sollte die Rezension an dieser Stelle beenden und lieber gleich "Der begrabene Riese" lesen.
Wer aber trotz dieser Warnung unbedingt mehr wissen will, zum Beispiel weil er längst beschlossen hat, dass er ohnehin kein Buch anrühren würde, in dem Drachen und magische Nebel vorkommen, dem kann man natürlich Auskunft geben. Man könnte so jemandem gleich erklären, dass "Der begrabene Riese" ein Ausflug des Autors von "Was vom Tage übrig blieb" und "Alles was wir geben mussten" in das Genre der Fantasyliteratur ist.
Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn "Der begrabene Riese" ist exakt an der Übergangsstelle zwischen historischem und phantastischem Erzählen angesiedelt, im England des sechsten Jahrhunderts. Aus dieser Epoche ist so gut wie nichts bekannt. Nach dem Abzug der Römer verfiel die Zivilisation auf den Britischen Inseln fast vollständig, die größeren Siedlungen wurden zu unbewohnten Ruinenstädten, und für fast dreihundert Jahre liegen so gut wie keine Aufzeichnungen vor - nirgendwo ist der Begriff dark ages so angebracht. Ein Roman, der in dieser Zeit spielt, ist also naturgemäß auf Phantasie angewiesen, und wer sich auf das Weltbild der Menschen der Epoche ernsthaft einlässt, muss von Geistern, Dämonen und archaischen Naturwesen erzählen. In einer von solchen Wesen erfüllten Welt bricht also das alte Ehepaar Axl und Beatrice auf, um ihren Sohn zu finden, der vor Zeiten die kleine Siedlung verlassen hat und nie zurückgekommen ist.
Aber ein Nebel liegt auf dem Land, den keine Sonne durchdringt, und er bewirkt Vergessen. Haben die beiden wirklich einen Sohn gehabt? Ganz sicher sind sie nicht. Und wenn ja, wo ist er eigentlich hin? Verschwommen erinnern sie sich, dass etwas passiert ist, aber sie vermögen nicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Verwirrt ziehen sie von Siedlung zu Siedlung, immer in Angst vor jenen Wesen, die nachts die Wälder unsicher machen, und treffen Menschen, die wie sie verwirrt, verloren, ohne Gedächtnis sind. Sie treffen auch einen alten Ritter, der behauptet, Gawain zu heißen, vor Zeiten dem großen Artus gedient zu haben und auf der Suche nach einem Drachen zu sein, der schuld an dem Nebel, dem Vergessen und der Misere ist, die das Land befallen hat.
So weit, so spannend, aber das Grandiose ist, wie Ishiguros Roman alle Gattungsgrenzen sprengt und das, was gerade noch sicher schien, nach und nach fraglich macht. Denn der Ritter, der den Drachen töten will, will womöglich in Wahrheit etwas anderes, und Axl, der einfache Alte, der von großen Dingen nichts weiß, ist womöglich das Gegenteil von dem, was er scheint, und sogar mit dem Drachen, der in einer kurzen Szene wirklich sichtbar wird, verhält es sich offenbar ganz anders. Vor allem aber ist der die Erinnerungen löschende Nebel womöglich nicht der Fluch, als der er zu Beginn erschienen ist. Aber ist es nicht ein Axiom, dass Literatur für die Erinnerung und gegen das Vergessen steht? Wer würde es wagen, diesem Satz zu widersprechen und das Vergessen zu verteidigen?
Nun, Ishiguros Roman wagt es. Sehr spät erst findet der Leser heraus, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Bürgerkrieg stattgefunden hat und dass all die verlorenen Menschen Überlebende sind. Der große Nebel war für sie kein Fluch, er hat ihnen vielmehr das Weiterleben ermöglicht; nur dadurch, dass sie die Schrecken, die sie ihren Nachbarn und diese ihnen angetan haben, völlig vergessen haben, war es ihnen möglich, nebeneinander weiterzuleben. Wird nun, da dieser Nebel sich lichtet, die Wahrheit sie frei machen, oder wird sie vielmehr neue Grausamkeiten, neues Blutvergießen und neue Schrecken bringen? Nietzsches These, dass jede Zivilisation auf verdrängter Barbarei aufbaut, bekommt bei Ishiguro neue Dringlichkeit - der begrabene Riese des Titels ist kein Fabelwesen, sondern eine Metapher für verdrängtes Blutvergießen -, und die Frage, ob eine Gesellschaft Täter lieber verfolgen oder vergessen und weitermachen soll, als wäre nichts geschehen, rückt plötzlich in den Mittelpunkt eines Romans, der doch gerade noch so weit entfernt von unseren Tagen zu spielen schien.
Aber "Der begrabene Riese" ist keine Allegorie - im Gegenteil, der Roman ist reich, vieldeutig und so rätselhaft wie ein Traum, und seine Figuren sind keine Marionetten, sondern psychologisch komplex und widersprüchlich. Das gilt besonders für den Ritter Gawain, zunächst scheinbar ein Wiedergänger des Ritters von der traurigen Gestalt, in Wahrheit aber der klarste Geist von allen. Am meisten aber gilt es für die beiden Alten, Axl und Beatrice, die nach einem Leben in tiefster Verbundenheit herausfinden müssen, dass auch ihre Erinnerung sie womöglich getäuscht hat und dass nicht nur der Staat, sondern auch die Liebe nach ständigem Vergessen und immer neuen Lügen über die Vergangenheit verlangt. Aber sobald die beiden, und mit ihnen der Leser, das begriffen haben, sind sie auch schon im letzten Kapitel und in der seltsamsten und schönsten Todesszene angelangt, die es in der Weltliteratur der letzten Jahre gegeben hat. Ja, verlangt das Klischee denn nicht auch, dass Liebe stärker sein muss als der Tod? Bei Ishiguro ist das umgekehrt, und der simple Umstand, dass jeder Charons Boot allein besteigen muss, führt zu einer Schlussszene, auf die man wohl ausnahmsweise und in aller Vorsicht das überbeanspruchte Wort "unvergesslich" anwenden kann.
Leider kann man aber auch getrost voraussagen, dass so manche Leser, die dieses Meisterwerk schätzen könnten, einen Bogen darum machen werden, weil sie nun einmal beschlossen haben, dass sogenannte Fantasy unter ihrer Würde ist. Sei's drum, es ist ihr eigener Verlust. Sie werden nie erfahren, was sie versäumen, und "Der begrabene Riese" wird, wie schon einst "Der Herr der Ringe", als Geheimtipp auf die Bestsellerlisten verschwinden.
Kazuo Ishiguro: "Der begrabene Riese". Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2015. 416 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2015Der Atem des Vergessens
In seinem Roman „Der begrabene Riese“ begibt sich Kazuo Ishiguro in die mittelalterliche Welt
keltischer Ritter, Prinzessinnen und Drachen – und kehrt mit einem eigenständigen Stück Literatur zurück
VON BURKHARD MÜLLER
Das Land, in dem wir zu Hause sind und das wir so gut zu kennen meinen, hat nicht immer so ausgesehen wie heute. „Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde“, so lautet der erste Satz dieses Buchs, „hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes unbestelltes Land, hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor.“ Aus dem Heimeligen springt unversehens das Unheimliche hervor; und ehe er noch weiß, was jetzt gleich anheben wird, fühlt sich der Leser in dieser Vorzeit schon gefangen. Das Holde und das Schreckliche fließen wie einst in der Kindheit untrennbar zusammen.
So ist das immer in den Büchern von Kazuo Ishiguro, der 1954 in Nagasaki geboren wurde und im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie von Japan nach England kam: Als ob etwas Grauenhaftes, das über Hilflose herfiel, sich im Blick des Erzählers zu einer gedämpften Trauer ermäßigt und nur manchmal in die Tiefe aufreißt wie der Nachthimmel hinter den Wolken. So war es in seinem fünften Roman, „Als wir Waisen waren“, worin ein nunmehr erwachsener Brite in China während des Kriegs mit Japan nach seinen lang verschollenen Eltern sucht, und mehr im noch im sechsten, „Alles, was wir geben mussten“ – da erweist sich ein typisch englisches Internat als Anstalt, in dem die Jugendlichen, wie sie nur allmählich begreifen, Klone sind, gezüchtet einzig als Organbanken.
Nun also liegt der siebte Roman des inzwischen sechzigjährigen Ishiguro vor, der einhellig zu den bedeutendsten lebenden Autoren englischer Sprache gezählt wird: „Der begrabene Riese“. Trotz seiner märchenhaften Züge lässt er sich mit einiger Gewissheit in der Zeit des keltisch-sächsischen Konflikts verorten, ein zwischen den Epochen schwebendes 5. oder 6. Jahrhundert. Lang schon sind die Römer aus England abgezogen und mit ihnen aller Sinn für historischen Zusammenhang; ihre noch erkennbaren Straßen und eingestürzten Landhäuser fallen heim an die Sage. König Artus ist bereits tot, aber lebt fort in der Erinnerung – das heißt, soweit sich überhaupt noch jemand erinnern kann. Denn eben damit, dass sich offenbar niemand mehr die schlichtesten, nächsten Fakten ins Gedächtnis zu rufen vermag, nimmt das Buch seinen Anfang.
Zwei Menschen allerdings gibt es, Axl und Beatrice, ein älteres Paar in einem britischen, das heißt keltischen Dorf, die sich mit einiger Bestürzung immerhin erinnern, wie viel sie vergessen haben. Ihnen fällt die Rolle eines Sokrates der Geschichte zu: Sie wissen, dass sie nichts mehr wissen, und machen sich in dieser dunklen Welt dadurch alles andere als beliebt. Nicht einmal eine Kerze will ihnen die Missgunst ihrer dumpfen Nachbarn lassen; der Pfarrer entreißt sie ihnen mit eigenen Händen, denn diese Briten sind, im Gegensatz zu ihren sächsischen Widersachern, zum Christentum bekehrt (nicht als ob davon viel Licht ausginge). Da fasst das Paar einen in seiner Vagheit verzweifelten Plan: Sie wollen ihren Sohn suchen gehen, den es doch wohl einmal gegeben hat und der bloß ein paar Dörfer weiter wohnen kann – wobei auch diese scheinbar kurze Strecke in dünn bevölkerter, kleingekammerten Gegend schon ihre abenteuerlichen Gefahren bereithält.
Mit einigem Erstaunen stellt der Leser fest, dass sich Ishiguro, dieser bedächtig und in großen Abständen publizierende Autor, damit den Formgesetzen des möglicherweise fruchtbarsten aller gegenwärtigen Groß-Genres unterworfen hat: des frühmittelalterlichen Quest. Er tritt mit ihm in Wettstreit wie ein einzelner Recke, der das hohe Ross der Literatur reitet, gegen eine ganze Armee von Kämpfern zu Fuß – und auch die sind inzwischen literarisch ziemlich gut trainiert, wie man feststellen kann, wenn man etwa „Das Lied des Blutes“ liest.
Und doch hat Ishiguro etwas, das sein Buch hervorhebt und ihm Einzigartigkeit verleiht. Es liegt nicht im Plot, nicht im Personal, noch nicht einmal unzweideutig in der Sprache, der erzählenden wie dem Dialog – in den Bereichen also, die einem einzufallen pflegen, wenn man die literarischen Verdienste eines Romans abwägt. Es hat zu tun mit einer Qualität des Emotionalen, die stark zu spüren und schwer zu greifen ist. Auf allen Akteuren, sie mögen noch so verschieden sein, lastet ein Schmerz, den sie nicht eingestehen, ja nicht einmal benennen können. Unter seiner Bürde betragen sie sich dennoch mit Großmut, Anstand und Respekt, auch wo sie einander als Feinde verdächtigen – und das müssen sie ständig, denn undurchsichtig ist der Auftrag eines jeden. Auch Gegner reden einander immer als „Herr“ an, und der Mann seine nicht mehr junge Ehefrau als „Prinzessin“, ganz ohne Ironie. Die Welt ist voller Gewalt; aber ein tumbes Gemetzel an Kreaturen, die ja doch bloß Orks sind, wäre hier niemals denkbar.
Ja, selbst die Tiere haben Teil an dieser Haltung, das treue Schlachtross Horaz ebenso wie die Monster, die in die halb wache Menschenwelt hereinreichen wie ein schwerer Traum. „Was vor ihnen stand, sah aus wie ein großes gehäutetes Tier: Eine halb durchsichtige Membran, ähnlich der Wand eines Schafsmagens, spannte sich straff über Sehnen und Gelenke. Im Wechselspiel aus Mondlicht und Schatten schien er ungefähr die Größe und Gestalt eines Stiers zu haben, sein Kopf aber war eindeutig wolfsähnlich und von dunklerer Färbung als der Rest – aber auch hier hatte man eher den Eindruck, dass die Schwärzung durch Feuer zustande gekommen war, als dass das Fell oder Fleisch von Natur aus dunkler gewesen wäre. Der Kiefer war wuchtig, die Augen reptilienähnlich.“
Aufrecht stehen sie, obwohl alles sie zu Boden drückt und viele von ihnen sterben. Das gibt ihnen ihre spezifische Würde, dem Ungeheuer eine ungeheuerliche, der Frau eine weibliche, dem Krieger die kriegerische und dem Ritter die ritterliche (denn zwischen diesen beiden Typen, Ritter und Krieger, wird sorgsam unterschieden). Den Ritter Gawain, der als letzter Überhälter der versprengten Tafelrunde seit vielen Jahren umherirrt, um die Drachin Querig zu erlegen, hält man mit seinem langen dürren Leib und seiner verrosteten Rüstung erst für eine komische Figur; dann erkennt man das Hochherzige in ihm, als wäre er ein Bruder des Don Quijote; und spät erst erschließt sich in der scheinbaren Narretei, über den Ritter aus der Mancha hinauswachsend, eine Weisheit, die nichts dabei findet, sich zu demütigen. Für sein menschenfreundliches Werk zieht er in den letzten Kampf, den er nicht gewinnen kann.
Um die Drachin Querig geht es zuletzt; ihr allgegenwärtiger Nebelatem ist es gewesen, der Vergessen über die Menschen gebracht hat. Er schien der Fluch, den abzuschütteln die Kräfte des Guten zusammenwirken müssen. Aber ist es nicht manchmal ein Segen, wenn die Menschen vergessen? Man kann diesen Roman auf vielerlei Weise lesen: als Quest im klassischen Sinn, der sich als ein Buch voll Spannung und erfundenem Altertum vor den Kollegen im Genre keineswegs verstecken muss; als ein Werk der Literatur im engen Sinn; oder auch als eine geschichtsphilosophische Allegorie. Ganz mit ihr hat es jedenfalls der titelgebende begrabene Riese zu tun.
Muss man erwähnen, dass die beiden, Axl und Beatrice, von ihrem Sohn zuletzt nur ein Grabmal finden? Wenn der Nebel des Vergessens zerrinnt, kommt nicht nur Erfreuliches zum Vorschein. Wird ihre langjährige Liebe solch jähe Erinnerung überstehen? Darauf gibt Ishiguro, der nicht an Lösungen glaubt, wie üblich keine eindeutige Antwort.
Kaum noch jemand kann sich
in England zu Beginn des
Romans an König Artus erinnern
Der Film, hier John Boormans „Excalibur“, hat die Ritter fest im Griff: Kazuo Ishiguro holt sie auf ganz eigene Weise in den Roman.
Foto: Orion Pictures
Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2015. 416 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In seinem Roman „Der begrabene Riese“ begibt sich Kazuo Ishiguro in die mittelalterliche Welt
keltischer Ritter, Prinzessinnen und Drachen – und kehrt mit einem eigenständigen Stück Literatur zurück
VON BURKHARD MÜLLER
Das Land, in dem wir zu Hause sind und das wir so gut zu kennen meinen, hat nicht immer so ausgesehen wie heute. „Nach den kurvenreichen Sträßchen und beschaulichen Wiesen, für die England später berühmt wurde“, so lautet der erste Satz dieses Buchs, „hättet ihr lange gesucht. Gefunden hättet ihr stattdessen endlose Weiten, ödes unbestelltes Land, hier und dort einen Saumpfad über felsiges Bergland, durch karges Moor.“ Aus dem Heimeligen springt unversehens das Unheimliche hervor; und ehe er noch weiß, was jetzt gleich anheben wird, fühlt sich der Leser in dieser Vorzeit schon gefangen. Das Holde und das Schreckliche fließen wie einst in der Kindheit untrennbar zusammen.
So ist das immer in den Büchern von Kazuo Ishiguro, der 1954 in Nagasaki geboren wurde und im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie von Japan nach England kam: Als ob etwas Grauenhaftes, das über Hilflose herfiel, sich im Blick des Erzählers zu einer gedämpften Trauer ermäßigt und nur manchmal in die Tiefe aufreißt wie der Nachthimmel hinter den Wolken. So war es in seinem fünften Roman, „Als wir Waisen waren“, worin ein nunmehr erwachsener Brite in China während des Kriegs mit Japan nach seinen lang verschollenen Eltern sucht, und mehr im noch im sechsten, „Alles, was wir geben mussten“ – da erweist sich ein typisch englisches Internat als Anstalt, in dem die Jugendlichen, wie sie nur allmählich begreifen, Klone sind, gezüchtet einzig als Organbanken.
Nun also liegt der siebte Roman des inzwischen sechzigjährigen Ishiguro vor, der einhellig zu den bedeutendsten lebenden Autoren englischer Sprache gezählt wird: „Der begrabene Riese“. Trotz seiner märchenhaften Züge lässt er sich mit einiger Gewissheit in der Zeit des keltisch-sächsischen Konflikts verorten, ein zwischen den Epochen schwebendes 5. oder 6. Jahrhundert. Lang schon sind die Römer aus England abgezogen und mit ihnen aller Sinn für historischen Zusammenhang; ihre noch erkennbaren Straßen und eingestürzten Landhäuser fallen heim an die Sage. König Artus ist bereits tot, aber lebt fort in der Erinnerung – das heißt, soweit sich überhaupt noch jemand erinnern kann. Denn eben damit, dass sich offenbar niemand mehr die schlichtesten, nächsten Fakten ins Gedächtnis zu rufen vermag, nimmt das Buch seinen Anfang.
Zwei Menschen allerdings gibt es, Axl und Beatrice, ein älteres Paar in einem britischen, das heißt keltischen Dorf, die sich mit einiger Bestürzung immerhin erinnern, wie viel sie vergessen haben. Ihnen fällt die Rolle eines Sokrates der Geschichte zu: Sie wissen, dass sie nichts mehr wissen, und machen sich in dieser dunklen Welt dadurch alles andere als beliebt. Nicht einmal eine Kerze will ihnen die Missgunst ihrer dumpfen Nachbarn lassen; der Pfarrer entreißt sie ihnen mit eigenen Händen, denn diese Briten sind, im Gegensatz zu ihren sächsischen Widersachern, zum Christentum bekehrt (nicht als ob davon viel Licht ausginge). Da fasst das Paar einen in seiner Vagheit verzweifelten Plan: Sie wollen ihren Sohn suchen gehen, den es doch wohl einmal gegeben hat und der bloß ein paar Dörfer weiter wohnen kann – wobei auch diese scheinbar kurze Strecke in dünn bevölkerter, kleingekammerten Gegend schon ihre abenteuerlichen Gefahren bereithält.
Mit einigem Erstaunen stellt der Leser fest, dass sich Ishiguro, dieser bedächtig und in großen Abständen publizierende Autor, damit den Formgesetzen des möglicherweise fruchtbarsten aller gegenwärtigen Groß-Genres unterworfen hat: des frühmittelalterlichen Quest. Er tritt mit ihm in Wettstreit wie ein einzelner Recke, der das hohe Ross der Literatur reitet, gegen eine ganze Armee von Kämpfern zu Fuß – und auch die sind inzwischen literarisch ziemlich gut trainiert, wie man feststellen kann, wenn man etwa „Das Lied des Blutes“ liest.
Und doch hat Ishiguro etwas, das sein Buch hervorhebt und ihm Einzigartigkeit verleiht. Es liegt nicht im Plot, nicht im Personal, noch nicht einmal unzweideutig in der Sprache, der erzählenden wie dem Dialog – in den Bereichen also, die einem einzufallen pflegen, wenn man die literarischen Verdienste eines Romans abwägt. Es hat zu tun mit einer Qualität des Emotionalen, die stark zu spüren und schwer zu greifen ist. Auf allen Akteuren, sie mögen noch so verschieden sein, lastet ein Schmerz, den sie nicht eingestehen, ja nicht einmal benennen können. Unter seiner Bürde betragen sie sich dennoch mit Großmut, Anstand und Respekt, auch wo sie einander als Feinde verdächtigen – und das müssen sie ständig, denn undurchsichtig ist der Auftrag eines jeden. Auch Gegner reden einander immer als „Herr“ an, und der Mann seine nicht mehr junge Ehefrau als „Prinzessin“, ganz ohne Ironie. Die Welt ist voller Gewalt; aber ein tumbes Gemetzel an Kreaturen, die ja doch bloß Orks sind, wäre hier niemals denkbar.
Ja, selbst die Tiere haben Teil an dieser Haltung, das treue Schlachtross Horaz ebenso wie die Monster, die in die halb wache Menschenwelt hereinreichen wie ein schwerer Traum. „Was vor ihnen stand, sah aus wie ein großes gehäutetes Tier: Eine halb durchsichtige Membran, ähnlich der Wand eines Schafsmagens, spannte sich straff über Sehnen und Gelenke. Im Wechselspiel aus Mondlicht und Schatten schien er ungefähr die Größe und Gestalt eines Stiers zu haben, sein Kopf aber war eindeutig wolfsähnlich und von dunklerer Färbung als der Rest – aber auch hier hatte man eher den Eindruck, dass die Schwärzung durch Feuer zustande gekommen war, als dass das Fell oder Fleisch von Natur aus dunkler gewesen wäre. Der Kiefer war wuchtig, die Augen reptilienähnlich.“
Aufrecht stehen sie, obwohl alles sie zu Boden drückt und viele von ihnen sterben. Das gibt ihnen ihre spezifische Würde, dem Ungeheuer eine ungeheuerliche, der Frau eine weibliche, dem Krieger die kriegerische und dem Ritter die ritterliche (denn zwischen diesen beiden Typen, Ritter und Krieger, wird sorgsam unterschieden). Den Ritter Gawain, der als letzter Überhälter der versprengten Tafelrunde seit vielen Jahren umherirrt, um die Drachin Querig zu erlegen, hält man mit seinem langen dürren Leib und seiner verrosteten Rüstung erst für eine komische Figur; dann erkennt man das Hochherzige in ihm, als wäre er ein Bruder des Don Quijote; und spät erst erschließt sich in der scheinbaren Narretei, über den Ritter aus der Mancha hinauswachsend, eine Weisheit, die nichts dabei findet, sich zu demütigen. Für sein menschenfreundliches Werk zieht er in den letzten Kampf, den er nicht gewinnen kann.
Um die Drachin Querig geht es zuletzt; ihr allgegenwärtiger Nebelatem ist es gewesen, der Vergessen über die Menschen gebracht hat. Er schien der Fluch, den abzuschütteln die Kräfte des Guten zusammenwirken müssen. Aber ist es nicht manchmal ein Segen, wenn die Menschen vergessen? Man kann diesen Roman auf vielerlei Weise lesen: als Quest im klassischen Sinn, der sich als ein Buch voll Spannung und erfundenem Altertum vor den Kollegen im Genre keineswegs verstecken muss; als ein Werk der Literatur im engen Sinn; oder auch als eine geschichtsphilosophische Allegorie. Ganz mit ihr hat es jedenfalls der titelgebende begrabene Riese zu tun.
Muss man erwähnen, dass die beiden, Axl und Beatrice, von ihrem Sohn zuletzt nur ein Grabmal finden? Wenn der Nebel des Vergessens zerrinnt, kommt nicht nur Erfreuliches zum Vorschein. Wird ihre langjährige Liebe solch jähe Erinnerung überstehen? Darauf gibt Ishiguro, der nicht an Lösungen glaubt, wie üblich keine eindeutige Antwort.
Kaum noch jemand kann sich
in England zu Beginn des
Romans an König Artus erinnern
Der Film, hier John Boormans „Excalibur“, hat die Ritter fest im Griff: Kazuo Ishiguro holt sie auf ganz eigene Weise in den Roman.
Foto: Orion Pictures
Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2015. 416 Seiten, 22,99 Euro. E-Book 18,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Der Nobelpreis für Kazuo Ishiguro ehrt einen betörend eindringlichen Autor. Er fragt leise und unerbittlich nach, was das Leben wert ist.« Susanne Mayer, Die Zeit