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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Für ethische Probleme nur sehr bedingt zu empfehlen: Christoph Halbig lichtet das Dickicht der Tugendethik
Wer von Tugenden und Lastern spricht, gerät schnell in den Verdacht, ein konservativer Spießer zu sein. Auf der Höhe der Zeit ist eher, wer einen ironisch-spöttischen Umgang mit diesen Begriffen pflegt. Geiz ist geil, denn weshalb sollte man mehr bezahlen, als der Markt verlangt, der kluges Handeln, nicht aber moralische Bedenken belohnt? Auch im Umgang mit anderen Menschen sollte man darauf bedacht sein, nicht mehr Gefühle zu investieren, als zurückzuerhalten man vernünftigerweise erwarten kann. Zu viele Skrupel können hier nur schaden. Doch auch Rationalität und Moral gehorchen den Gesetzen des Marktes. Entsteht ein Überangebot kühler ökonomischer Vernunft, so wächst die Sehnsucht nach dem anderen. Obwohl der Ehrliche immer noch als der Dumme gilt, bleibt der Zweifel, ob sich nicht letztlich selbst betrügt, wer sich allzu klug verhält.
So mag es nicht verwundern, dass nicht nur Theologen, sondern auch Politiker wieder häufiger Tugenden einklagen, in der Debatte um Bankencrashs und Staatsverschuldung ebenso wie in der um Klimaveränderung und einen verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Auch die Philosophie wendet sich wieder mehr Problemen der Tugendethik zu. Ging es in den sechziger und siebziger Jahren noch um eine eher generelle Kritik moderner Moralphilosophie, sowohl der Pflichtethik Kants wie des Utilitarismus, denen vorgeworfen wurde, einem Geist vermeintlicher Unparteilichkeit zu huldigen, der unsensibel sei gegenüber den Spezifika menschlicher Beziehungen und die Vielfalt der Motive moralischen Handelns nicht beachte, so treten seit den Neunzigern Fragen einer Integration einer Ethik der Tugend in normative Philosophie in den Vordergrund.
Philosophie wurde bescheidener. Diskutiert wird zum Beispiel im Dialog mit empirischen Wissenschaften, der Psychologie, der Pädagogik, die Bedeutung von Gefühlen und Affekten bei der Entwicklung des moralischen Bewusstseins von Kindern. Doch vor allem in den angelsächsischen Ländern sind in den letzten Jahren außerdem zahlreiche Arbeiten zum Projekt einer Tugendethik als eines dritten, eigenständigen Paradigmas neben pflichtethischen und konsequentialistischen Ansätzen entstanden, die nun in einem Buch des Gießener Philosophen Christoph Halbig einer ebenso scharfen wie kenntnisreichen Kritik unterzogen werden.
Tugendethik wird von ihm definiert als Modell einer Moralphilosophie, die Kategorien wie "richtig" oder "verboten" und zum Teil auch evaluative wie "gut" oder "schlecht" auf Tugendbegriffe zu reduzieren versucht. "Ob eine Handlung beispielsweise richtig oder falsch ist, hängt dieser Auffassung zufolge ausschließlich davon ab, ob in ihr der tugend- oder der lasterhafte Charakter des Handelnden zum Ausdruck kommt." Vermieden werden soll die vermeintliche "Schizophrenie" von Regelethiken wie der Kants oder des Utilitarismus, die Diskrepanz zwischen Motiven und Rechtfertigungsgründen. Wer der Pflicht folgt oder dem Prinzip der Nutzenmaximierung, verfehlt, so die Kritik, die Harmonie zwischen Vernunft und Leidenschaften, die ein gutes Leben auszeichnet. Der tugendhafte Mensch hingegen handelt aus innerem Antrieb so, wie er handeln sollte.
Diese altehrwürdige These klingt ebenso schön wie idealistisch. Begrifflich konzis, aber auch an zahlreichen Beispielen des Alltagslebens zeigt Halbig die Widersprüche, Paradoxien, Dilemmata der Tugendethik auf. Unklar bleibt zum Beispiel, ob Tugendethik die aktualen Motive des Handelnden bewerten oder sich daran orientieren sollte, wie ein tugendhafter Mensch sich idealiter verhält. Tugendethik scheitert an dem Problem, erklären zu können, weshalb wir manche Handlungen als richtig bewerten, obwohl wir wissen oder ahnen, dass die Motive zumindest fragwürdig sind. Auch verhindert sie nicht, dass der Katalog möglicher Tugenden und ihrer hässlichen Verwandten, der Laster, immer umfangreicher und damit letztlich unbrauchbar wird.
Halbig gelingt es in seinem Buch, das Begriffsdickicht der verschiedenen tugendethischen Konzeptionen ein wenig zu lichten. Stringent zeigt er, was eine Ethik der Tugend nicht leisten kann. Sie ist weder eine dritte, alternative normative Theorie neben pflichtethischen und konsequentialistischen Ansätzen noch eine Alternative zu Theorie im Sinne einer bloß hermeneutischen Rekonstruktion des gesunden Menschenverstands, der philosophischer Belehrung nicht bedürfte. Auch trägt sie nicht zu einer Komplexitätsreduktion bei der Analyse und Lösung ethischer Probleme bei, ebenso wenig zur Beantwortung der Frage, warum Menschen sich überhaupt moralisch verhalten sollten, anstatt nur ihren unmittelbaren Interessen nachzugehen.
Tugendethik zeigt hingegen die Aspekte moralischen Urteilens und Handelns auf, die nicht durch Kategorien wie Pflicht, Recht, Gleichheit, wechselseitige Anerkennung angemessen beschrieben werden. Aber ihre Stärke - Moral nicht nur als Ausgleich von Interessen, sondern zugleich als affektive Teilnahme an den Nöten anderer zu verstehen - ist zugleich eine Gefahr. Sie blendet, wie leider auch Halbig, weitgehend Ungerechtigkeiten und Defizite sozialer Verhältnisse und Institutionen aus, die allein durch tugendhaftes Handeln nicht repariert werden können und politischer Veränderung bedürfen. Dennoch ist seine Studie ein differenziert argumentierender Kommentar zur Renaissance der Tugendethik.
GERD SCHRADER
Christoph Halbig: "Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 388 S., br., 20,- [Euro].
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