Der Dialog zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften hat in den vergangenen Jahren an Intensität gewonnen, wobei die Hirnforschung einen zentralen Platz in der disziplinenübergreifenden Diskussion einnimmt. Es sind die mit der Hirnforschung verbundenen Fragen nach Bewußtsein, Identität und Selbstbestimmtheit des Menschen, denen sich der vorliegende Aufsatzband widmet. Der Autor führt in das Feld der Neurologie und der Neurobiologie ein und zeigt zugleich Chancen und Grenzen des Forschungsgebietes auf. Dabei entstehen zahlreiche Anknüpfungspunkte an die geisteswissenschaftliche Diskussion.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2002Eltern, laßt den Ehrgeiz sein!
Wolf Singer will die Erklärungslücke der Hirnforschung schließen
Die Sinnesorgane transportieren die Bilder, Töne und Gerüche der Welt ins Gehirn, und irgendwo dort drinnen sitzt ein Beobachter, ein Homunkulus, der sich ansieht, was auf der inneren Bühne gespielt wird. Diese Idee, die der neuen Essaysammlung des Hirnforschers Wolf Singer den Titel gibt, ist, wie der Autor darlegt, ebenso verlockend wie falsch. Das Gehirn ist ein selbstorganisierendes dezentrales System. Seine Leistungen beruhen auf seiner massiv parallelen Arbeitsweise und der rückgekoppelten Architektur der Großhirnrinde. Der Homunkulus ist überflüssig. "Der Beobachter des Gehirns" hätte die Sammlung daher besser geheißen, denn unter diesen ist Singer einer der profiliertesten.
In seinem neuen Buch reflektiert er über die verschiedensten Aspekte seiner boomenden Disziplin. Seine Themen reichen von der Geschichte der Max-Planck-Institute über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, den Wert der Grundlagenforschung, die Unverzichtbarkeit der Tierversuche, den Nutzen der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, für die Erziehung und für die Wertschätzung der Kunst bis hin zu Vorschlägen für die Stadtentwicklung.
Die größte Herausforderung für die Hirnforschung sieht Singer darin, die Erklärungslücke zwischen der Ebene des schon recht gut verstandenen molekularen Geschehens im Gehirn und der Ebene des Verhaltens, das durch diese molekularen Aktivitäten ermöglicht wird, zu schließen. Zum besseren Verständnis der menschlichen Natur wie für die klinische Praxis. Das Gehirn, betont Singer, bildet die Welt nicht passiv ab, sondern trägt Hypothesen an sie heran, die es bestätigt oder verwirft. Daß das menschliche Gehirn mit diesem Frage-und-Antwort-Spiel beginnt, noch bevor sein Aufbau abgeschlossen ist, seine Erfahrungen sich also in seiner Struktur niederschlagen können, ist der geniale Trick, dem die Menschen ihre überragende Intelligenz verdanken.
Und es ist ein gutes Argument dafür, daß man sich stärker darum bemühen sollte, der Neugier der Kinder entgegenzukommen, als ihnen etwas beibringen zu wollen, das sie nicht interessiert. Reize, die den Erwartungen des Gehirns nicht entsprechen, bleiben wirkungslos, der Ehrgeiz der Eltern ist also überflüssig, meint Singer.
Das Wissen über die Welt, das Menschen erwerben, ist nicht Stück für Stück wie in den Speicherplätzen eines klassischen Computers abgelegt, sondern, viel effektiver, in Form gemeinsam schwingender Neuronengruppen über das ganze Gehirn verteilt. Es gibt keine Zentralstelle für die Bewertung von Hirnaktivitäten, sondern lediglich rückgekoppelte Signale darüber, welche Aktivität sich in einer Situation als angemessen erwiesen hat. In kleinen Systemen, schreibt Singer, und meint damit sowohl kleine menschliche Gesellschaften als auch einfache Gehirne, herrscht ein hierarchisches Organisationsprinzip vor. In komplexeren Systemen wird das ineffektiv. An seiner Spitze müßte eine Superintelligenz stehen, die all die eingehenden Informationen aufnehmen und bewerten kann. Weder unter Neuronen noch unter Menschen sind solche Superintelligenzen jedoch verfügbar. Die einzige Chance, ein solches komplexes System dennoch zu beeinflussen, liegt darin, wie das Gehirn verteilte Strukturen auszubilden - wenn auch nicht so rücksichtslos wie das Gehirn, das Strukturen, die nicht mehr gebraucht werden, einfach eliminiert.
Singer entlarvt Mythen wie denjenigen, es gebe im Gehirn brachliegende Kapazitäten, die durch Training zu aktivieren seien, oder die Hoffnung, man könne je mit Sicherheit unterscheiden, was angeboren und was durch Erfahrung erworben ist. Singer bemängelt, daß sich die Menschheit so einseitig der Ausbildung der rationalen Sprache verschrieben hat und kaum Wert auf künstlerische Ausdrucksformen legt. Das menschliche Gehirn lernt in der Kindheit, sich auf seine Umwelt einzustellen. Kommt es mit künstlerischen Ausdrucksformen kaum in Berührung, ist es kein Wunder, wenn es sich dieser später nicht zu bedienen weiß. Bestürzend, meint Singer, denn der nichtsprachlichen Kommunikation könne gerade bei der interkulturellen Verständigung eine wichtige Rolle zukommen.
Singers Buch ist nicht nur vielseitig und anregend, es ist auch angenehmen geschrieben und meidet das Modisch-Flapsige vieler populärer Wissenschaftsdarstellungen. Es leidet nur darunter, daß die verschiedenen, zumeist auf Vorträge zurückgehenden Essays nicht aufeinander abgestimmt sind. Statt die interessantesten Punkte zu vertiefen, wiederholen sie immer und immer wieder dieselben einführenden Erläuterungen und Beispiele.
MANUELA LENZEN.
Wolf Singer: "Der Beobachter im Gehirn". Essays zur Hirnforschung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 300 S., br., 11,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolf Singer will die Erklärungslücke der Hirnforschung schließen
Die Sinnesorgane transportieren die Bilder, Töne und Gerüche der Welt ins Gehirn, und irgendwo dort drinnen sitzt ein Beobachter, ein Homunkulus, der sich ansieht, was auf der inneren Bühne gespielt wird. Diese Idee, die der neuen Essaysammlung des Hirnforschers Wolf Singer den Titel gibt, ist, wie der Autor darlegt, ebenso verlockend wie falsch. Das Gehirn ist ein selbstorganisierendes dezentrales System. Seine Leistungen beruhen auf seiner massiv parallelen Arbeitsweise und der rückgekoppelten Architektur der Großhirnrinde. Der Homunkulus ist überflüssig. "Der Beobachter des Gehirns" hätte die Sammlung daher besser geheißen, denn unter diesen ist Singer einer der profiliertesten.
In seinem neuen Buch reflektiert er über die verschiedensten Aspekte seiner boomenden Disziplin. Seine Themen reichen von der Geschichte der Max-Planck-Institute über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, den Wert der Grundlagenforschung, die Unverzichtbarkeit der Tierversuche, den Nutzen der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft, für die Erziehung und für die Wertschätzung der Kunst bis hin zu Vorschlägen für die Stadtentwicklung.
Die größte Herausforderung für die Hirnforschung sieht Singer darin, die Erklärungslücke zwischen der Ebene des schon recht gut verstandenen molekularen Geschehens im Gehirn und der Ebene des Verhaltens, das durch diese molekularen Aktivitäten ermöglicht wird, zu schließen. Zum besseren Verständnis der menschlichen Natur wie für die klinische Praxis. Das Gehirn, betont Singer, bildet die Welt nicht passiv ab, sondern trägt Hypothesen an sie heran, die es bestätigt oder verwirft. Daß das menschliche Gehirn mit diesem Frage-und-Antwort-Spiel beginnt, noch bevor sein Aufbau abgeschlossen ist, seine Erfahrungen sich also in seiner Struktur niederschlagen können, ist der geniale Trick, dem die Menschen ihre überragende Intelligenz verdanken.
Und es ist ein gutes Argument dafür, daß man sich stärker darum bemühen sollte, der Neugier der Kinder entgegenzukommen, als ihnen etwas beibringen zu wollen, das sie nicht interessiert. Reize, die den Erwartungen des Gehirns nicht entsprechen, bleiben wirkungslos, der Ehrgeiz der Eltern ist also überflüssig, meint Singer.
Das Wissen über die Welt, das Menschen erwerben, ist nicht Stück für Stück wie in den Speicherplätzen eines klassischen Computers abgelegt, sondern, viel effektiver, in Form gemeinsam schwingender Neuronengruppen über das ganze Gehirn verteilt. Es gibt keine Zentralstelle für die Bewertung von Hirnaktivitäten, sondern lediglich rückgekoppelte Signale darüber, welche Aktivität sich in einer Situation als angemessen erwiesen hat. In kleinen Systemen, schreibt Singer, und meint damit sowohl kleine menschliche Gesellschaften als auch einfache Gehirne, herrscht ein hierarchisches Organisationsprinzip vor. In komplexeren Systemen wird das ineffektiv. An seiner Spitze müßte eine Superintelligenz stehen, die all die eingehenden Informationen aufnehmen und bewerten kann. Weder unter Neuronen noch unter Menschen sind solche Superintelligenzen jedoch verfügbar. Die einzige Chance, ein solches komplexes System dennoch zu beeinflussen, liegt darin, wie das Gehirn verteilte Strukturen auszubilden - wenn auch nicht so rücksichtslos wie das Gehirn, das Strukturen, die nicht mehr gebraucht werden, einfach eliminiert.
Singer entlarvt Mythen wie denjenigen, es gebe im Gehirn brachliegende Kapazitäten, die durch Training zu aktivieren seien, oder die Hoffnung, man könne je mit Sicherheit unterscheiden, was angeboren und was durch Erfahrung erworben ist. Singer bemängelt, daß sich die Menschheit so einseitig der Ausbildung der rationalen Sprache verschrieben hat und kaum Wert auf künstlerische Ausdrucksformen legt. Das menschliche Gehirn lernt in der Kindheit, sich auf seine Umwelt einzustellen. Kommt es mit künstlerischen Ausdrucksformen kaum in Berührung, ist es kein Wunder, wenn es sich dieser später nicht zu bedienen weiß. Bestürzend, meint Singer, denn der nichtsprachlichen Kommunikation könne gerade bei der interkulturellen Verständigung eine wichtige Rolle zukommen.
Singers Buch ist nicht nur vielseitig und anregend, es ist auch angenehmen geschrieben und meidet das Modisch-Flapsige vieler populärer Wissenschaftsdarstellungen. Es leidet nur darunter, daß die verschiedenen, zumeist auf Vorträge zurückgehenden Essays nicht aufeinander abgestimmt sind. Statt die interessantesten Punkte zu vertiefen, wiederholen sie immer und immer wieder dieselben einführenden Erläuterungen und Beispiele.
MANUELA LENZEN.
Wolf Singer: "Der Beobachter im Gehirn". Essays zur Hirnforschung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 300 S., br., 11,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In der Hirnforschung, bemerkt der Rezensent Uwe Justus Wenzel nach Lektüre von Wolf Singers Essayband, habe das Unbekannte "viele Facetten". Die Erkenntnis, dass das Gehirn kein Zentrum besitzt, von dem alle Impulse ausgehen, stelle unweigerlich die Frage des "Ichs". Singer neigt dazu, so Wenzel, das Ich als kulturelles Konstrukt zu begreifen, das von außen an das Kind herangetragen und schließlich von ihm verinnerlicht wird. Dem Rezensent erscheint dies fragwürdig, und er vermutet in dieser Analyse seinerseits ein Konstrukt. Worauf es Singer ankommt, so Wenzel, ist die Frage nach der objektiven und subjektiven Freiheit des Menschen. Die objektive Freiheit sei aus neurobiologischer Sicht ausgeschlossen, die subjektive Freiheit also in gewisser Hinsicht Illusion. Werde der Mensch jedoch nicht als autonom begriffen, stelle sich die Frage nach der menschlichen Verantwortung. Der Rezensent bezweifelt allerdings, dass die "tiefgreifenden Veränderungen" des menschlichen "Selbstverständnisses", die Singer ankündigt, tatsächlich den Weg aus der Wissenschaft in das "lebensweltliche Selbstbild" finden werden. Doch Singer sehe auch andere mögliche Implikationen. Da das Gehirn dezentral organisiert sei, auf ökonomische und effektive Art, empfehle sich dieses Modell, so Singer, auch für komplexe wirtschaftliche und politische Systeme. Konkret begründet wird das allerdings nicht, beklagt der Rezensent. Singers Fazit: Nicht stehen bleiben, weiterforschen - nach einem "umfassenderen Beschreibungssystem" für Phänomene. Von einer solchen "Metasprache" sei Singer allerdings noch weit entfernt. Aber gerade deswegen, meint Wenzel, sei er, "selbst für Laien", gut zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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